Ein atmosphärisch dichter Briefroman mit Blick auf die DDR der siebziger Jahre: Leben am Rande der sozialistischen Wirklichkeit.
Mitte der siebziger Jahre. Anna, eine junge jüdische Frau in Ost-Berlin, verläßt zum ersten Mal ihre Stadt und geht als Regisseurin an ein Provinztheater. Zurück bleiben ihre Freunde, ihre Mutter, ihre ganze Existenz. Und nicht zuletzt Leon, ihr Geliebter. Das einzige Band sind Briefe, altmodisch mit der Hand geschrieben, am Abend nach einem langen Arbeitstag. Briefe, in denen alles nachklingt, das Theater, das Berliner Leben, die Familiengeschichte und vor allem die Liebesverwicklungen in diesem kleinen Kreis.
Aus Jerusalem und Moskau weht zugleich der Wind des Unbekannten in diese sonderbare Provinz, die alles andere als idyllisch ist. »Eine unpolemische, aber auch unerbittliche Porträtstudie dieses untergegangenen Gemeinwesens.« (Yaak Karsunke in der 'Frankfurter Rundschau')
Mitte der siebziger Jahre. Anna, eine junge jüdische Frau in Ost-Berlin, verläßt zum ersten Mal ihre Stadt und geht als Regisseurin an ein Provinztheater. Zurück bleiben ihre Freunde, ihre Mutter, ihre ganze Existenz. Und nicht zuletzt Leon, ihr Geliebter. Das einzige Band sind Briefe, altmodisch mit der Hand geschrieben, am Abend nach einem langen Arbeitstag. Briefe, in denen alles nachklingt, das Theater, das Berliner Leben, die Familiengeschichte und vor allem die Liebesverwicklungen in diesem kleinen Kreis.
Aus Jerusalem und Moskau weht zugleich der Wind des Unbekannten in diese sonderbare Provinz, die alles andere als idyllisch ist. »Eine unpolemische, aber auch unerbittliche Porträtstudie dieses untergegangenen Gemeinwesens.« (Yaak Karsunke in der 'Frankfurter Rundschau')
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2000Die Liebe in den Zeiten der Politik
Barbara Honigmann sondiert Von Walter Hinck
Barbara Honigmann, Tochter jüdischer Rückkehrer aus dem Exil, verließ 1984 die DDR. Die Distanz zum Regime, schon 1976 sichtbar bei ihrem Eintritt in die Jüdische Gemeinde Ost-Berlins, war zu groß geworden. Sie siedelte nach Straßburg über. Ihr Debüt, die sechs Prosastücke des Bandes "Roman von einem Kinde" (1986), zeigte Ansichten vom Leben in der DDR, von Reisen nach Moskau oder in die Tschechoslowakei, von Besuchen des jüdischen Gelehrten Gershom Scholem in Ost-Berlin. Ihr Roman "Soharas Reise" (1996) demonstrierte, daß sie endgültig im Straßburger gelehrten Zentrum jüdischer Orthodoxie heimisch geworden war, sich aber als Schriftstellerin nicht im Abfassen frommer Schriften kasteien wollte. Sie erzählte, im Gegenteil, wie man mit Hilfe der internationalen "Thora-Connection" einen religiösen Scharlatan in die Falle lockt.
Mit ihrem neuen, ihrem sechsten Buch versetzt sich die Erzählerin zurück ins Künstlermilieu der DDR. Barbara Honigmann tummelte sich nach dem Studium an der Humboldt-Universität eine Zeitlang am Theater, als Dramaturgin an der Provinzbühne und dann am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Vor die Spiegelung neuer religiöser und weltlicher Erfahrungen drängt sich jetzt die Erinnerung an eine Republik, deren Gastspiel seit einem Jahrzehnt beendet ist. Sieht Barbara Honigmann in diesem Gastspiel eine Tragikomödie oder eine Posse? Weder das eine noch das andere. Obwohl das Leben in der DDR vom Politischen unterwandert ist, behauptet sie in diesem Roman, wie der Titel "Alles, alles Liebe!" andeutet, das Private einer Liebesgeschichte. Der neue Band ist ein Briefroman - in der DDR von 1975 war das Telefonnetz noch lückenhaft.
Anna Herzfeld, Berlinerin, hat ihre erste Regiearbeit am kleinen Theater in Prenzlau übernommen. Von ihrer Ankunft und den Schwierigkeiten mit der Theaterleitung bis zu ihrer Entlassung berichtet sie ihrem Geliebten und ihrer Mutter, ihren Freundinnen und Freunden. Sie ist Adressat aller übrigen Briefe, Ausgangs- und Anlaufpunkt der Korrespondenz. Sichern die Standpunkte der Briefschreiber dem Roman eine Vielfalt von Wirklichkeitsansichten, so haben fast alle denselben Vermessungspunkt: den Vorbehalt gegen das Regime. Um vier Bereiche bewegt sich die Korrespondenz: um das Bewußtsein Annas, jüdisch geprägt zu sein, um das Theater im Zugriff des Kunstdogmas, um die künstlerische Sonderstellung eines kleinen erlesenen Kreises in Berlin, der eine Privataufführung von Garcia Lorcas "Bernarda Albas Haus" vorbereitet, und um die Zerrüttung der Liebesbeziehung zwischen Anna und Leon. Von Anzeichen der Ausgrenzung sprechen die Anfangssätze: "Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war Zigeuner. Jemand rief es mir nach." Zigeuner als Ersatzschimpfwort für Jude. Eine Verschärfung setzt ein, als sich nach der Uno-Resolution gegen den Zionismus von 1975 Antisemitismus als Antizionismus tarnt. Andererseits stärkt sich ein jüdisches Selbstbewußtsein in Annas Annäherung an die jüdische Religiosität, in ihrer Sehnsucht nach einem klösterlichen Leben oder im Gedanken, nach Israel auszuwandern.
Die Reibung an den Literatur- und Kunstdirektiven der SED zieht sich als roter Faden durch den Roman. Die innere Opposition des "Bernarda"-Kreises geht so weit, daß die Regimekritik Biermanns und Havemanns abgelehnt wird, "die immer noch glauben, eines Tages den realen durch den wahren Sozialismus ablösen zu können". Einer der pointiertesten Texte des Romans ist die Anlage zu einem Brief, adressiert an den "Genossen Leser von der Stasi": ein kleines Meisterstück ironischer Selbstwehr. In der Vielgliedrigkeit dieses Briefromans bildet die Liebesgeschichte das Kerngerüst. Sie hält den Leser in Spannung. Anna verfällt der Liebesblindheit, Anzeichen der Untreue Leons will sie nicht wahrhaben. Es gehört zur Erzählstrategie der Autorin, daß sie viel Antipathie auf Leon lenkt - um schließlich den Leser zu beschämen. Im Selbstmordversuch enthüllt sich der betrügerische Leon als ein unglücklicher Mensch. "Theater und Liebe kaputt!" resümiert Anna und flieht zu jüdischen Freunden in Moskau, von denen sich einige auf die Emigration vorbereiten.
So beschließt das Auswanderungsmotiv diese Briefchronik aus einer Zeit, in der die Verträge von Helsinki ein Hoffnungszeichen setzen, weil sie die Ostblockstaaten "auf eine Erleichterung der Lebens- und Reisemöglichkeiten" verpflichten. An Romanen zur Wirklichkeit der DDR, geschrieben nach ihrem Verschwinden, besteht kein Mangel mehr. Aber die Kulturpolitik des SED-Regimes mit dem subversiven Blick der geistigen jüdischen Opposition von damals zu enttarnen, blieb diesem Roman vorbehalten.
Barbara Honigmann: "Alles, alles Liebe!" Roman. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 182 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barbara Honigmann sondiert Von Walter Hinck
Barbara Honigmann, Tochter jüdischer Rückkehrer aus dem Exil, verließ 1984 die DDR. Die Distanz zum Regime, schon 1976 sichtbar bei ihrem Eintritt in die Jüdische Gemeinde Ost-Berlins, war zu groß geworden. Sie siedelte nach Straßburg über. Ihr Debüt, die sechs Prosastücke des Bandes "Roman von einem Kinde" (1986), zeigte Ansichten vom Leben in der DDR, von Reisen nach Moskau oder in die Tschechoslowakei, von Besuchen des jüdischen Gelehrten Gershom Scholem in Ost-Berlin. Ihr Roman "Soharas Reise" (1996) demonstrierte, daß sie endgültig im Straßburger gelehrten Zentrum jüdischer Orthodoxie heimisch geworden war, sich aber als Schriftstellerin nicht im Abfassen frommer Schriften kasteien wollte. Sie erzählte, im Gegenteil, wie man mit Hilfe der internationalen "Thora-Connection" einen religiösen Scharlatan in die Falle lockt.
Mit ihrem neuen, ihrem sechsten Buch versetzt sich die Erzählerin zurück ins Künstlermilieu der DDR. Barbara Honigmann tummelte sich nach dem Studium an der Humboldt-Universität eine Zeitlang am Theater, als Dramaturgin an der Provinzbühne und dann am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Vor die Spiegelung neuer religiöser und weltlicher Erfahrungen drängt sich jetzt die Erinnerung an eine Republik, deren Gastspiel seit einem Jahrzehnt beendet ist. Sieht Barbara Honigmann in diesem Gastspiel eine Tragikomödie oder eine Posse? Weder das eine noch das andere. Obwohl das Leben in der DDR vom Politischen unterwandert ist, behauptet sie in diesem Roman, wie der Titel "Alles, alles Liebe!" andeutet, das Private einer Liebesgeschichte. Der neue Band ist ein Briefroman - in der DDR von 1975 war das Telefonnetz noch lückenhaft.
Anna Herzfeld, Berlinerin, hat ihre erste Regiearbeit am kleinen Theater in Prenzlau übernommen. Von ihrer Ankunft und den Schwierigkeiten mit der Theaterleitung bis zu ihrer Entlassung berichtet sie ihrem Geliebten und ihrer Mutter, ihren Freundinnen und Freunden. Sie ist Adressat aller übrigen Briefe, Ausgangs- und Anlaufpunkt der Korrespondenz. Sichern die Standpunkte der Briefschreiber dem Roman eine Vielfalt von Wirklichkeitsansichten, so haben fast alle denselben Vermessungspunkt: den Vorbehalt gegen das Regime. Um vier Bereiche bewegt sich die Korrespondenz: um das Bewußtsein Annas, jüdisch geprägt zu sein, um das Theater im Zugriff des Kunstdogmas, um die künstlerische Sonderstellung eines kleinen erlesenen Kreises in Berlin, der eine Privataufführung von Garcia Lorcas "Bernarda Albas Haus" vorbereitet, und um die Zerrüttung der Liebesbeziehung zwischen Anna und Leon. Von Anzeichen der Ausgrenzung sprechen die Anfangssätze: "Das erste Wort, das ich in Prenzlau hörte, war Zigeuner. Jemand rief es mir nach." Zigeuner als Ersatzschimpfwort für Jude. Eine Verschärfung setzt ein, als sich nach der Uno-Resolution gegen den Zionismus von 1975 Antisemitismus als Antizionismus tarnt. Andererseits stärkt sich ein jüdisches Selbstbewußtsein in Annas Annäherung an die jüdische Religiosität, in ihrer Sehnsucht nach einem klösterlichen Leben oder im Gedanken, nach Israel auszuwandern.
Die Reibung an den Literatur- und Kunstdirektiven der SED zieht sich als roter Faden durch den Roman. Die innere Opposition des "Bernarda"-Kreises geht so weit, daß die Regimekritik Biermanns und Havemanns abgelehnt wird, "die immer noch glauben, eines Tages den realen durch den wahren Sozialismus ablösen zu können". Einer der pointiertesten Texte des Romans ist die Anlage zu einem Brief, adressiert an den "Genossen Leser von der Stasi": ein kleines Meisterstück ironischer Selbstwehr. In der Vielgliedrigkeit dieses Briefromans bildet die Liebesgeschichte das Kerngerüst. Sie hält den Leser in Spannung. Anna verfällt der Liebesblindheit, Anzeichen der Untreue Leons will sie nicht wahrhaben. Es gehört zur Erzählstrategie der Autorin, daß sie viel Antipathie auf Leon lenkt - um schließlich den Leser zu beschämen. Im Selbstmordversuch enthüllt sich der betrügerische Leon als ein unglücklicher Mensch. "Theater und Liebe kaputt!" resümiert Anna und flieht zu jüdischen Freunden in Moskau, von denen sich einige auf die Emigration vorbereiten.
So beschließt das Auswanderungsmotiv diese Briefchronik aus einer Zeit, in der die Verträge von Helsinki ein Hoffnungszeichen setzen, weil sie die Ostblockstaaten "auf eine Erleichterung der Lebens- und Reisemöglichkeiten" verpflichten. An Romanen zur Wirklichkeit der DDR, geschrieben nach ihrem Verschwinden, besteht kein Mangel mehr. Aber die Kulturpolitik des SED-Regimes mit dem subversiven Blick der geistigen jüdischen Opposition von damals zu enttarnen, blieb diesem Roman vorbehalten.
Barbara Honigmann: "Alles, alles Liebe!" Roman. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 182 S., geb., 34,- DM.
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