Je skrupelloser, desto erfolgreicher - ist das nicht die Maxime der urban professionals, die den Ton angeben in Wirtschaft und Gesellschaft? Ralph Hammerthaler zeichnet in seinem Roman das Bild eines Mannes, der in frühen Jahren alles erreicht hat: "Es lief alles bestens." Es läuft so gut, dass alles schal zu werden beginnt. Einzig die Gespräche mit seinem Freund Lorenzo wecken noch sein Interesse, ihr ausschließliches Thema: die Liebe. Gelten hier die gleichen Gesetze wie in der Geschäftswelt? Gibt es einen heimlichen Liebescode, der einem alle Türen öffnet? Ist Liebe überhaupt dauerhaft möglich?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2002Scharfeinstellung
Von SZ-Autoren: Ralph
Hammerthaler „Alles bestens”
Langsam beginnen im Rückspiegel die neunziger Jahre zu verschwinden. So recht begriffen haben wir sie noch nicht. Jetzt hat Ralph Hammerthaler einen Roman geschrieben, der den Rückspiegel justiert. Das Auto, in dem das geschieht, ist ein Volvo. Darin sitzt einer, der häufig von Berlin nach Jena und zurück fährt. Die Wende ist schon Legende: etwas für sentimentale Erzählungen vom Aufwachsen in wilder Zeit. In Jena gibt es Nicole und eine Gegend, die Paradies heißt. Bei der Rückfahrt verschwindet im Rückspiegel der Zeiss-Turm, das halbe Fernrohr. Das ist kein Zufall: Dies ist ein Roman der Scharfeinstellung, auch erotisch.
Der Held ist auf der Höhe der Zeit: er lebt nicht schlecht vom Vertrieb von Wissen. Das einzige Unglück in seinem Leben ist, dass alles so gut funktioniert. Das Geschäft, die Liebe, und das Erklären, warum die Welt so funktioniert, wie sie funktioniert. Es ist alles bestens. Der Held hat einen Freund, und dieser Freund hat ein Zauberwort, mit dem sich dieses Funktionieren wunderbar beschreiben lässt: „System”. Aber der Systemtheorie von Niklas Luhmann, in der die neunziger Jahre ihren Halt suchten, geht es in diesem Roman so, wie es den Waren ergeht, wenn die Marx Brothers im Kaufhaus sind, und der Musik, wenn sie die Oper heimsuchen. Ihre Leistungsfähigkeit demonstriert sie in Jena wie in Berlin. Aber das Subsystem Liebe verhält sich nicht immer theoriekonform, obwohl der Held den Code perfekt beherrscht.
Lehrstuhlinhaber seien gewarnt: einer aus dem Westen, der in Jena einen Marxisten ersetzt, überlebt den Roman nicht. Auch Berliner Baustadträte sind nicht sicher. Unerklärliche Ohnmachten und hartnäckige Selbstmordanwandlungen des Helden unterminieren das Systemvertrauen des Lesers in den Titel des Romans. Am Ende ist das Vertrauen ganz dahin. Ein Revolver ist auf dem Weg zum Systemtheoretiker. Der Volvo ist wieder auf der Autobahn, der Held rast nach Jena, Richtung Paradies, und aus der Anlage dröhnt I See You Baby. Es ist wie im Kino. Aber er macht einen Fehler: Er schaut nicht in den Rückspiegel.
SZ
RALPH HAMMERTHALER: Alles bestens. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 288 Seiten,19,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Von SZ-Autoren: Ralph
Hammerthaler „Alles bestens”
Langsam beginnen im Rückspiegel die neunziger Jahre zu verschwinden. So recht begriffen haben wir sie noch nicht. Jetzt hat Ralph Hammerthaler einen Roman geschrieben, der den Rückspiegel justiert. Das Auto, in dem das geschieht, ist ein Volvo. Darin sitzt einer, der häufig von Berlin nach Jena und zurück fährt. Die Wende ist schon Legende: etwas für sentimentale Erzählungen vom Aufwachsen in wilder Zeit. In Jena gibt es Nicole und eine Gegend, die Paradies heißt. Bei der Rückfahrt verschwindet im Rückspiegel der Zeiss-Turm, das halbe Fernrohr. Das ist kein Zufall: Dies ist ein Roman der Scharfeinstellung, auch erotisch.
Der Held ist auf der Höhe der Zeit: er lebt nicht schlecht vom Vertrieb von Wissen. Das einzige Unglück in seinem Leben ist, dass alles so gut funktioniert. Das Geschäft, die Liebe, und das Erklären, warum die Welt so funktioniert, wie sie funktioniert. Es ist alles bestens. Der Held hat einen Freund, und dieser Freund hat ein Zauberwort, mit dem sich dieses Funktionieren wunderbar beschreiben lässt: „System”. Aber der Systemtheorie von Niklas Luhmann, in der die neunziger Jahre ihren Halt suchten, geht es in diesem Roman so, wie es den Waren ergeht, wenn die Marx Brothers im Kaufhaus sind, und der Musik, wenn sie die Oper heimsuchen. Ihre Leistungsfähigkeit demonstriert sie in Jena wie in Berlin. Aber das Subsystem Liebe verhält sich nicht immer theoriekonform, obwohl der Held den Code perfekt beherrscht.
Lehrstuhlinhaber seien gewarnt: einer aus dem Westen, der in Jena einen Marxisten ersetzt, überlebt den Roman nicht. Auch Berliner Baustadträte sind nicht sicher. Unerklärliche Ohnmachten und hartnäckige Selbstmordanwandlungen des Helden unterminieren das Systemvertrauen des Lesers in den Titel des Romans. Am Ende ist das Vertrauen ganz dahin. Ein Revolver ist auf dem Weg zum Systemtheoretiker. Der Volvo ist wieder auf der Autobahn, der Held rast nach Jena, Richtung Paradies, und aus der Anlage dröhnt I See You Baby. Es ist wie im Kino. Aber er macht einen Fehler: Er schaut nicht in den Rückspiegel.
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RALPH HAMMERTHALER: Alles bestens. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 288 Seiten,19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Soll das ein Roman sein oder doch eher wissenschaftliche Lektüre oder beides, fragt sich Rezensentin Ulrike Winkelmann, denn Ralph Hammerthalers Roman über den "Kampf der Liebeskonzepte" wartet mit schwerem theoretischen Geschütz auf. Von Kierkegaard, Barthes bis hin zu Niklas Luhmann verbrate der Autor so ziemlich alles, was zur Theorie des Themas gehört. Folglich kristallisiert sich im Laufe der Handlung ein sehr "dialektischer" Blickwinkel auf die Liebe heraus. Da steht die abgebrühte Sicht auf die "Codes" der Liebespraxis dem unerschütterlichen Glauben an die "romantische Liebe" gegenüber. Beides scheint in Hammerthalers Buch gleichermaßen Existenzberechtigung zu behalten, so die Rezensentin. Doch die Mischung aus Prosa und Wissenschaft findet sie mehr als unglücklich und sucht intuitiv immer noch nach den "Fußnoten" im diesem Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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