Nach dreißig Jahren Gefängnis und Lager kehrt Iwan Grigorjewitsch in die Freiheit zurück. Er zieht nach Moskau, dann weiter nach Leningrad, findet Arbeit und eine Frau. Wieder gehen die Jahre dahin - und Iwan versucht zu verstehen, nach welchen Gesetzen das Leben funktioniert. Von der russischen Revolution bis hin zur Tauwetterperiode spannt Wassili Grossman den Bogen um Fragen nach Staat und Individuum, Verbrechen und Strafe, Schuld und Unschuld. Im Mittelpunkt steht dabei sein gütiger Blick auf die Fehlbarkeit des Menschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2010Jedes Kapitel, jede Zeile, jedes Wort ein Aufschrei
"Alles fließt": Wassili Grossmans literarisches Vermächtnis
Mit Heugabeln schaufelten russische Umsiedler die Toten im Frühjahr aus den Hütten, ein Tuch vor dem Mund gegen den entsetzlichen Gestank. Beim Aufheben zerfielen die verwesten Leichen in Stücke. Monate zuvor hatten die vor Hunger Wahnsinnigen die bereits Verstorbenen zerlegt und gekocht, manche verzehrten die eigenen Kinder, dann sind auch sie dahingegangen. "Jeder Hungernde starb auf seine Weise. Wo Hass war, wurde schneller gestorben. Ach, und die Liebe, auch sie hatte niemanden gerettet."
Im Frühjahr 1933 wurde das Ausmaß der stalinistischen Kollektivierungspolitik und der damit angestrebten Ausrottung des Bauerntums in der Ukraine sichtbar, die in einem Hunger-Genozid gipfelte, dem bis zu zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ganze Dörfer verwandelten sich in Todeslager, aus denen es kein Entkommen gab. Die Armee hatte sie abgeriegelt, wer fliehen wollte, wurde erschossen. Dieser Massenmord markiert nicht nur einen weiteren Tiefpunkt in der Existenz des Menschen, sondern, daran lässt Wassili Grossman in seinem literarischen Vermächtnis keinen Zweifel, eben auch eine Möglichkeit dieser Existenz. "Alles fließt", panta rhei: Wer die Zeitenschrunden des letzten Jahrhunderts er- und überlebte, dem wurde diese Zeit zur Felsenlast, zur Steinhaube, in der er gefangen blieb.
Bereits in seinem durch die sowjetische Zensur konfiszierten und erst 1986 in der Sowjetunion erschienen Romanepos "Leben und Schicksal" hatte Grossman die Lebenswege zweier Familien bis in die Höllen von Auschwitz und Stalingrad verfolgt. Enttäuscht von der Folgenlosigkeit des politischen Tauwetters unter Chruschtschow demontiert Grossman in seinem letzten Werk, an dem er bis zu seinem frühen Tod 1964 arbeitete, auf eine für diese Jahre unerhörte Weise den Mythos einer vernunftgesteuerten Entwicklungsdiktatur des Proletariats, deren Opfer nichts als Späne waren, die beim notwendigen Hobeln einer lichten Zukunft anfallen. Warum, so Grossman, ganze Menschenwälder sinnlos abholzen, warum Millionen Unschuldiger vernichten oder brechen? Der Staat darf sich nicht zum Herrn erklären: "Es gibt auf der Welt keinen Zweck, dem man die Freiheit des Menschen opfern darf."
Ende der fünfziger Jahre schleppt der Protagonist der Erzählung Iwan Grigorjewitsch die Felsenlast von dreißig Jahren GULag mit in die Freiheit. Er begibt sich auf eine Reise durch die Sowjetunion der Chruschtschow-Ära, kehrt in ein Leben zurück, das an den "Schicksallosen", die aus der menschlichen Existenz verbannt waren, vorübergegangen war. In Leningrad, wo Iwan einst studiert hatte, läuft er einem ehemaligen Mitstudenten in die Arme, einem, der im und mit dem System Karriere machte und nun, auf der Straße, den Blick des einstigen Freundes, den er tot geglaubt hatte, nicht ertragen kann. Es gibt Momente, da wünscht sich Iwan zurück hinter den Stacheldraht, an den Napf Wassersuppe und den Barackenofen. Immer wieder kreisen seine Gedanken um das Erfahrene, um die Frage nach dem Warum, bei deren Beantwortung der Verstand versagt. In den Lagern saßen ja nicht jene, die den sowjetischen Staat bekämpften, sondern Menschen, bei denen allenfalls eine Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie ihn bekämpfen könnten. Davon gab es Millionen. Generation um Generation fraß die Revolution ihre Kinder, verbannte Frauen, die ihre unschuldigen, zu Geständnissen gezwungenen Männer nicht denunziert hatten, Bauern, Offiziere, Bürgerkriegshelden, Parteifunktionäre, Intellektuelle, Denunzianten und solche, die nie denunziert hatten. Die meisten wussten nicht, wofür sie litten, und hielten ihre Inhaftierung zum Zwecke des Selbsterhaltes für einen Irrtum.
Jedes Kapitel, jede Zeile, jedes Wort dieses Buches ist ein Aufschrei, der schmale Band ein bis heute erschütterndes Kompendium der stalinistischen Greuel, geschrieben in einer eindringlichen, klaren Sprache, die geprägt ist von den Kriegsjahren, in denen Grossman als Frontkorrespondent aus Stalingrad, Moskau, Berlin, aus Polen, Weißrussland und der Ukraine, aber auch aus den befreiten Konzentrationslagern Majdanek und Treblinka berichtete. Die Tragödie der europäischen Juden, sein Wissen um deren industrielle Vernichtung hatten Grossman tief erschüttert. Umso mehr mussten ihn die schon bald nach Kriegsende in der Sowjetunion einsetzenden antisemitischen Kampagnen treffen, auch wenn er selbst als Kriegsheld und patriotischer Autor eines Romans über die Schlacht von Stalingrad zunächst geschützt war.
Nach der "Verhaftung" seines Romans "Leben und Schicksal" am Ende des politischen Tauwetters 1961 - der KGB fahndete nach allen Kopien, Entwürfen und Materialien - wurde Grossman endgültig zur Persona non grata. Auf eine baldige Veröffentlichung seiner Werke konnte er nun nicht mehr hoffen. Jetzt setzte er sich, wie Franziska Thun-Hohenstein in ihrem erhellenden Nachwort schildert, frei von Ängsten um eine ohnehin undenkbare Veröffentlichung, an die Überarbeitung seiner Mitte der Fünfziger begonnenen Erzählung "Alles fließt", die noch bei ihrem Erscheinen in der Sowjetunion 1989 ein Sakrileg darstellte. Der Grund waren nicht die damals bereits hinlänglich bekannten Massaker und Verfehlungen der stalinistischen Ära, sondern die literarische Entthronung des Revolutionsheiligen Lenin in einer philosophisch-historischen Anti-Hegeliade, zu der sich die Erzählung am Ende weitet.
Es geht um die alte Frage nach den Revolutionsidealen und ihrem Verrat durch Machtstreben. Der Weg in die totalitäre Herrschaft des GULag beginnt für den russisch-jüdischen Autor bereits mit dem asketischen, Tolstoi lesenden Intellektuellen Lenin und seiner auf Gewalt beruhenden Revolutionsidee. So wie Vernunft und Freiheit zusammengehören, sieht Grossman in einem historischen Stufenmodell Lenins proletarische Revolution als Fundament für Stalins brutale Diktatur, deren Idee der vollkommenen Unfreiheit sich in der Sowjetunion der Bürokraten und Technokraten vollendete. Die politische Brisanz des Textes stellte seine literarische Kraft lange in den Schatten. Die nun vorliegende Neuübersetzung der vollständigen, unzensierten Fassung durch Annelore Nitschke trägt auch dem Rechnung.
SABINE BERKING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Alles fließt": Wassili Grossmans literarisches Vermächtnis
Mit Heugabeln schaufelten russische Umsiedler die Toten im Frühjahr aus den Hütten, ein Tuch vor dem Mund gegen den entsetzlichen Gestank. Beim Aufheben zerfielen die verwesten Leichen in Stücke. Monate zuvor hatten die vor Hunger Wahnsinnigen die bereits Verstorbenen zerlegt und gekocht, manche verzehrten die eigenen Kinder, dann sind auch sie dahingegangen. "Jeder Hungernde starb auf seine Weise. Wo Hass war, wurde schneller gestorben. Ach, und die Liebe, auch sie hatte niemanden gerettet."
Im Frühjahr 1933 wurde das Ausmaß der stalinistischen Kollektivierungspolitik und der damit angestrebten Ausrottung des Bauerntums in der Ukraine sichtbar, die in einem Hunger-Genozid gipfelte, dem bis zu zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Ganze Dörfer verwandelten sich in Todeslager, aus denen es kein Entkommen gab. Die Armee hatte sie abgeriegelt, wer fliehen wollte, wurde erschossen. Dieser Massenmord markiert nicht nur einen weiteren Tiefpunkt in der Existenz des Menschen, sondern, daran lässt Wassili Grossman in seinem literarischen Vermächtnis keinen Zweifel, eben auch eine Möglichkeit dieser Existenz. "Alles fließt", panta rhei: Wer die Zeitenschrunden des letzten Jahrhunderts er- und überlebte, dem wurde diese Zeit zur Felsenlast, zur Steinhaube, in der er gefangen blieb.
Bereits in seinem durch die sowjetische Zensur konfiszierten und erst 1986 in der Sowjetunion erschienen Romanepos "Leben und Schicksal" hatte Grossman die Lebenswege zweier Familien bis in die Höllen von Auschwitz und Stalingrad verfolgt. Enttäuscht von der Folgenlosigkeit des politischen Tauwetters unter Chruschtschow demontiert Grossman in seinem letzten Werk, an dem er bis zu seinem frühen Tod 1964 arbeitete, auf eine für diese Jahre unerhörte Weise den Mythos einer vernunftgesteuerten Entwicklungsdiktatur des Proletariats, deren Opfer nichts als Späne waren, die beim notwendigen Hobeln einer lichten Zukunft anfallen. Warum, so Grossman, ganze Menschenwälder sinnlos abholzen, warum Millionen Unschuldiger vernichten oder brechen? Der Staat darf sich nicht zum Herrn erklären: "Es gibt auf der Welt keinen Zweck, dem man die Freiheit des Menschen opfern darf."
Ende der fünfziger Jahre schleppt der Protagonist der Erzählung Iwan Grigorjewitsch die Felsenlast von dreißig Jahren GULag mit in die Freiheit. Er begibt sich auf eine Reise durch die Sowjetunion der Chruschtschow-Ära, kehrt in ein Leben zurück, das an den "Schicksallosen", die aus der menschlichen Existenz verbannt waren, vorübergegangen war. In Leningrad, wo Iwan einst studiert hatte, läuft er einem ehemaligen Mitstudenten in die Arme, einem, der im und mit dem System Karriere machte und nun, auf der Straße, den Blick des einstigen Freundes, den er tot geglaubt hatte, nicht ertragen kann. Es gibt Momente, da wünscht sich Iwan zurück hinter den Stacheldraht, an den Napf Wassersuppe und den Barackenofen. Immer wieder kreisen seine Gedanken um das Erfahrene, um die Frage nach dem Warum, bei deren Beantwortung der Verstand versagt. In den Lagern saßen ja nicht jene, die den sowjetischen Staat bekämpften, sondern Menschen, bei denen allenfalls eine Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie ihn bekämpfen könnten. Davon gab es Millionen. Generation um Generation fraß die Revolution ihre Kinder, verbannte Frauen, die ihre unschuldigen, zu Geständnissen gezwungenen Männer nicht denunziert hatten, Bauern, Offiziere, Bürgerkriegshelden, Parteifunktionäre, Intellektuelle, Denunzianten und solche, die nie denunziert hatten. Die meisten wussten nicht, wofür sie litten, und hielten ihre Inhaftierung zum Zwecke des Selbsterhaltes für einen Irrtum.
Jedes Kapitel, jede Zeile, jedes Wort dieses Buches ist ein Aufschrei, der schmale Band ein bis heute erschütterndes Kompendium der stalinistischen Greuel, geschrieben in einer eindringlichen, klaren Sprache, die geprägt ist von den Kriegsjahren, in denen Grossman als Frontkorrespondent aus Stalingrad, Moskau, Berlin, aus Polen, Weißrussland und der Ukraine, aber auch aus den befreiten Konzentrationslagern Majdanek und Treblinka berichtete. Die Tragödie der europäischen Juden, sein Wissen um deren industrielle Vernichtung hatten Grossman tief erschüttert. Umso mehr mussten ihn die schon bald nach Kriegsende in der Sowjetunion einsetzenden antisemitischen Kampagnen treffen, auch wenn er selbst als Kriegsheld und patriotischer Autor eines Romans über die Schlacht von Stalingrad zunächst geschützt war.
Nach der "Verhaftung" seines Romans "Leben und Schicksal" am Ende des politischen Tauwetters 1961 - der KGB fahndete nach allen Kopien, Entwürfen und Materialien - wurde Grossman endgültig zur Persona non grata. Auf eine baldige Veröffentlichung seiner Werke konnte er nun nicht mehr hoffen. Jetzt setzte er sich, wie Franziska Thun-Hohenstein in ihrem erhellenden Nachwort schildert, frei von Ängsten um eine ohnehin undenkbare Veröffentlichung, an die Überarbeitung seiner Mitte der Fünfziger begonnenen Erzählung "Alles fließt", die noch bei ihrem Erscheinen in der Sowjetunion 1989 ein Sakrileg darstellte. Der Grund waren nicht die damals bereits hinlänglich bekannten Massaker und Verfehlungen der stalinistischen Ära, sondern die literarische Entthronung des Revolutionsheiligen Lenin in einer philosophisch-historischen Anti-Hegeliade, zu der sich die Erzählung am Ende weitet.
Es geht um die alte Frage nach den Revolutionsidealen und ihrem Verrat durch Machtstreben. Der Weg in die totalitäre Herrschaft des GULag beginnt für den russisch-jüdischen Autor bereits mit dem asketischen, Tolstoi lesenden Intellektuellen Lenin und seiner auf Gewalt beruhenden Revolutionsidee. So wie Vernunft und Freiheit zusammengehören, sieht Grossman in einem historischen Stufenmodell Lenins proletarische Revolution als Fundament für Stalins brutale Diktatur, deren Idee der vollkommenen Unfreiheit sich in der Sowjetunion der Bürokraten und Technokraten vollendete. Die politische Brisanz des Textes stellte seine literarische Kraft lange in den Schatten. Die nun vorliegende Neuübersetzung der vollständigen, unzensierten Fassung durch Annelore Nitschke trägt auch dem Rechnung.
SABINE BERKING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dies ist die letzte größere Prosaarbeit von Wassili Grossman, nach mehreren Umarbeitungen in dieser Fassung im Jahr 1963 vollendet - in deutscher Erstübersetzung erst 1985 erschienen (das Original in der Sowjetunion, mit viel Skandal, vier Jahre später). "Erzählung" stehe als Genrebezeichnung darüber - als solche jedoch kann der Band den Rezensenten Uwe Stolzmann nicht wirklich überzeugen. Das sei aber ziemlich egal, denn die Geschichte des Iwan Grigojewitsch, der nach Stalins Tod aus dem Lager zurückkehrt, überzeuge in vielen anderen Hinsichten umso mehr. Auseinander falle das Buch nämlich in eine Reihe faszinierende "Prosaskizzen" und "Essays", es geht um den Hungertod in der Ukraine, um die Frauenlager - und das alles sei so schockierend wie lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH