Produktdetails
- Manesse Bibliothek der Weltliteratur
- Verlag: Manesse
- 1978.
- Seitenzahl: 394
- Deutsch
- Abmessung: 155mm
- Gewicht: 204g
- ISBN-13: 9783717515548
- ISBN-10: 3717515543
- Artikelnr.: 02757208
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Ich soll das getan haben, ich?
Was vom Krieg bleibt: Ennio Flaianos Roman "Alles hat seine Zeit" ist so zeitlos wie aktuell.
Von Tilman Spreckelsen
Ein italienischer Oberleutnant verirrt sich in Abessinien, trifft eine Einheimische, schläft mit ihr und erschießt sie. Er kehrt zur Truppe zurück, versucht seine Tat zu vertuschen und begeht dafür neue Verbrechen, am Ende beichtet er sie einem Offizier und kommt mit heiler Haut davon.
Etwa so könnte man den Inhalt von Ennio Flaianos Roman "Tempo di uccidere" zusammenfassen, mit einigem Recht, schließlich steht all das im Buch. Und doch begäbe man sich damit nicht nur auf schwankenden Grund, man liefe sogar Gefahr, das Eigentliche des Romans vollkommen zu verfehlen, das, was ihn unter den vielen Kriegserinnerungsbüchern des zwanzigsten Jahrhunderts so einzigartig macht.
Denn diesen Handlungsfaden verdanken wir einem Ich-Erzähler, der sich im Laufe des Romans als äußerst unzuverlässig erweist. Sicher nicht aus Freude am Lügen, Übertreiben oder Vertuschen, sondern weil ihn das, was ihm begegnet, merklich überfordert. Was da an Realität auf ihn einstürmt, kann er nicht fassen, und sein Bericht setzt sehr auffällig mitten im Geschehen ein: "Ich war erstaunt, am Leben zu sein, doch ich war es müde, auf Hilfe zu warten", so fängt das Ganze an, und man kann das auf die unmittelbare Situation des, wie sich herausstellt, kurz zuvor mit einem Lastwagen verunglückten Erzählers ebenso beziehen wie auf seine generelle Lage seit Monaten als Teilnehmer an Mussolinis Abessinien-Krieg der Jahre 1936 und 1937.
Dieser Feldzug gehört zu den grausamsten der Moderne. Die von der italienischen Armee eingesetzten Mittel, darunter Giftgas und der systematische Terror gegen Zivilisten, widersprachen allen internationalen Übereinkünften, und dass die Protagonisten dieses Romans allesamt Entsetzliches gesehen, verübt oder erlitten haben, steht außer Zweifel.
Nur der Leser erfährt davon nichts. Jedenfalls wird er nicht zum Augenzeuge, weil er nur das sieht, was ihm der Erzähler mitteilt. Der aber taumelt durch einen Albtraum, in dem die Bäume wie aus Pappmaché geformt, die Landkarten irreführend, die Abkürzungen unauffindbar oder tatsächlich Umwege sind, eine Welt, in der die verwesenden Leichen von Maultieren den Weg anzeigen, den die Kameraden des Erzählers gegangen sind, oder in der urplötzlich Erhängte, Erschossene, Vergaste ins Blickfeld geraten - kurz, eine Welt, in der es schwer erscheint, zwischen dem allgegenwärtigen Grauen und dem eigenen Anteil daran sauber zu unterscheiden. Geschildert werden nicht die Kampfhandlungen, sondern ihr Echo.
Ennio Flaiano, der von 1910 bis 1972 lebte, war Journalist und Autor, er hat für Federico Fellini eine ganze Reihe von Drehbüchern geschrieben, darunter meisterliche wie "La Strada", "Le Notti di Cabiria" oder "La Dolce Vita". Sein Tagebuch aus dem Abessinien-Krieg, an dem er sechs Monate lang teilgenommen hatte, wurde ihm zur Quelle für den Roman, den er elf Jahre später schrieb und dessen Titel "Tempo di uccidere" eigentlich "Die Zeit des Tötens" bedeutet, in den beiden deutschen Ausgaben des Romans aber zu "Frevel in Äthiopien" oder, beinahe etwas zu harmlos, "Alles hat seine Zeit" geworden ist.
Der Kunstgriff seines buchstäblich überwältigenden Buches, die tradierte literarische Technik des fragwürdigen Ich-Erzählers auf die Spitze zu treiben und den Oberleutnant in seiner Verstrickung dem von ihm selbst aufmerksam registrierten beginnenden Wahnsinn preiszugeben, lässt das Buch erstaunlicherweise jeden Vergleich mit dem ähnlich gelagerten "Schuld und Sühne" oder den Poe-Erzählungen "Das verräterische Herz" und "Die schwarze Katze" aushalten. Und natürlich wird der Leser auf die begrenzte Weltsicht des Erzählers geradezu gestoßen, wenn der die Äthiopier entweder als irgendwie tierhaft oder als Träger uralter Mysterien wahrnimmt, wenn er in allem, was ihm widerfährt, das "Wirken eines heimtückischen Plans" erkennt oder überwach und offenbar als einziger ständig Verwesung wittert.
Ein Antikriegsbuch, sicher, eines, dass eigenständig, stilsicher und fast wie eine Autopsie darlegt, was der Krieg in denen anrichtet, die ihn führen müssen und fortwährend mit den zivilen Opfern konfrontiert werden. Darum ist der Roman so zeitlos wie aktuell, man kann ihn im Irak so gut lesen wie in Afghanistan. Und darum kommt die Neuausgabe so gelegen.
Ennio Flaiano: "Alles hat seine Zeit". Roman. Aus dem Italienischen von Susanne Hurni. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich. Manesse Verlag, Zürich 2009. 512 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was vom Krieg bleibt: Ennio Flaianos Roman "Alles hat seine Zeit" ist so zeitlos wie aktuell.
Von Tilman Spreckelsen
Ein italienischer Oberleutnant verirrt sich in Abessinien, trifft eine Einheimische, schläft mit ihr und erschießt sie. Er kehrt zur Truppe zurück, versucht seine Tat zu vertuschen und begeht dafür neue Verbrechen, am Ende beichtet er sie einem Offizier und kommt mit heiler Haut davon.
Etwa so könnte man den Inhalt von Ennio Flaianos Roman "Tempo di uccidere" zusammenfassen, mit einigem Recht, schließlich steht all das im Buch. Und doch begäbe man sich damit nicht nur auf schwankenden Grund, man liefe sogar Gefahr, das Eigentliche des Romans vollkommen zu verfehlen, das, was ihn unter den vielen Kriegserinnerungsbüchern des zwanzigsten Jahrhunderts so einzigartig macht.
Denn diesen Handlungsfaden verdanken wir einem Ich-Erzähler, der sich im Laufe des Romans als äußerst unzuverlässig erweist. Sicher nicht aus Freude am Lügen, Übertreiben oder Vertuschen, sondern weil ihn das, was ihm begegnet, merklich überfordert. Was da an Realität auf ihn einstürmt, kann er nicht fassen, und sein Bericht setzt sehr auffällig mitten im Geschehen ein: "Ich war erstaunt, am Leben zu sein, doch ich war es müde, auf Hilfe zu warten", so fängt das Ganze an, und man kann das auf die unmittelbare Situation des, wie sich herausstellt, kurz zuvor mit einem Lastwagen verunglückten Erzählers ebenso beziehen wie auf seine generelle Lage seit Monaten als Teilnehmer an Mussolinis Abessinien-Krieg der Jahre 1936 und 1937.
Dieser Feldzug gehört zu den grausamsten der Moderne. Die von der italienischen Armee eingesetzten Mittel, darunter Giftgas und der systematische Terror gegen Zivilisten, widersprachen allen internationalen Übereinkünften, und dass die Protagonisten dieses Romans allesamt Entsetzliches gesehen, verübt oder erlitten haben, steht außer Zweifel.
Nur der Leser erfährt davon nichts. Jedenfalls wird er nicht zum Augenzeuge, weil er nur das sieht, was ihm der Erzähler mitteilt. Der aber taumelt durch einen Albtraum, in dem die Bäume wie aus Pappmaché geformt, die Landkarten irreführend, die Abkürzungen unauffindbar oder tatsächlich Umwege sind, eine Welt, in der die verwesenden Leichen von Maultieren den Weg anzeigen, den die Kameraden des Erzählers gegangen sind, oder in der urplötzlich Erhängte, Erschossene, Vergaste ins Blickfeld geraten - kurz, eine Welt, in der es schwer erscheint, zwischen dem allgegenwärtigen Grauen und dem eigenen Anteil daran sauber zu unterscheiden. Geschildert werden nicht die Kampfhandlungen, sondern ihr Echo.
Ennio Flaiano, der von 1910 bis 1972 lebte, war Journalist und Autor, er hat für Federico Fellini eine ganze Reihe von Drehbüchern geschrieben, darunter meisterliche wie "La Strada", "Le Notti di Cabiria" oder "La Dolce Vita". Sein Tagebuch aus dem Abessinien-Krieg, an dem er sechs Monate lang teilgenommen hatte, wurde ihm zur Quelle für den Roman, den er elf Jahre später schrieb und dessen Titel "Tempo di uccidere" eigentlich "Die Zeit des Tötens" bedeutet, in den beiden deutschen Ausgaben des Romans aber zu "Frevel in Äthiopien" oder, beinahe etwas zu harmlos, "Alles hat seine Zeit" geworden ist.
Der Kunstgriff seines buchstäblich überwältigenden Buches, die tradierte literarische Technik des fragwürdigen Ich-Erzählers auf die Spitze zu treiben und den Oberleutnant in seiner Verstrickung dem von ihm selbst aufmerksam registrierten beginnenden Wahnsinn preiszugeben, lässt das Buch erstaunlicherweise jeden Vergleich mit dem ähnlich gelagerten "Schuld und Sühne" oder den Poe-Erzählungen "Das verräterische Herz" und "Die schwarze Katze" aushalten. Und natürlich wird der Leser auf die begrenzte Weltsicht des Erzählers geradezu gestoßen, wenn der die Äthiopier entweder als irgendwie tierhaft oder als Träger uralter Mysterien wahrnimmt, wenn er in allem, was ihm widerfährt, das "Wirken eines heimtückischen Plans" erkennt oder überwach und offenbar als einziger ständig Verwesung wittert.
Ein Antikriegsbuch, sicher, eines, dass eigenständig, stilsicher und fast wie eine Autopsie darlegt, was der Krieg in denen anrichtet, die ihn führen müssen und fortwährend mit den zivilen Opfern konfrontiert werden. Darum ist der Roman so zeitlos wie aktuell, man kann ihn im Irak so gut lesen wie in Afghanistan. Und darum kommt die Neuausgabe so gelegen.
Ennio Flaiano: "Alles hat seine Zeit". Roman. Aus dem Italienischen von Susanne Hurni. Mit einem Nachwort von Elke Heidenreich. Manesse Verlag, Zürich 2009. 512 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main