In manchen Nächten mag es einem vorkommen, als enthielten die erhabenen Landschaften der Nacktheit mehr Wahrheit als ganze Bibliotheken heiliger Bücher. Eine gewöhnungsbedürftige Einsicht für einen Theologiestudenten, der seit einer halben Ewigkeit an einer Dissertation schreibt und mit seiner Freundin in Berlin-Friedenau ein grundberuhigtes, an inneren und äußeren Spannungen armes Leben führt. Die idyllische Behaglichkeit nimmt jedoch ein Ende, als er auf einem Wittenberger Symposion auf die Künstlerin Katharina trifft, die den verschlafenen Theoretiker im Lauf einiger Wochen in ein Mysterium des sinnlichen Selbstverlustes und ein ganz leibhaftiges Offenbarungsgeschehen hineinzieht. Die Begegnung sprengt all seine Begriffe und lässt die alten Götter um ihn auferstehen. Abgestürzt in eigene und hauptstädtische Abgründe, vorbei an Neuköllner Esoterikerinnen, hedonistischen Subkulturen und anderen zeitgenössischen Routinen urbaner Selbstoptimierung, bahnt er sich einen spirituell-heiteren Erkenntnisweg bis ins griechische Delphi. Dort, in der Mitte der Welt, erwartet ihn Katharina.
Eine so sprachmächtige wie feinsinnige Annäherung an die Liebe und das Erotische, ein Roman von sinnlich-ironischer Leichtigkeit und gedanklicher Tiefe - ein Lobgesang auf die Zärtlichkeit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Eine so sprachmächtige wie feinsinnige Annäherung an die Liebe und das Erotische, ein Roman von sinnlich-ironischer Leichtigkeit und gedanklicher Tiefe - ein Lobgesang auf die Zärtlichkeit.
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Geradezu "kathedral" erscheint Rezensent Jan Drees der zweite Roman von Emmanuel Maeß, der ihm angelehnt an Gottfried von Straßburgs "Tristan"-Epos von einer durch Betrug entstandenen, verzehrenden Liebe erzählt. Und so schreitet der Kritiker durch dieses wuchtige Textgebäude, begegnet einem namenlosen, nerdigen Theologie-Doktoranden, der, mit der vernünftigen Kinderärztin Clara liiert, eine amour fou mit der Kunststudentin Katharina - "mehr Naturereignis als Mensch" eingeht. Über dreihundert Seiten hinweg inszeniert Maeß die "quasi-religiöse Zelebration fleischlicher Lust", wie mittelalterliche Mystikerinnen verliert sich der Erzähler in seinem Liebesrausch, resümiert Drees. Gewährsmänner wie Augustinus, Platon, Plotin oder Kierkegaard treten ebenfalls auf, zugleich staunt der Kritiker, wie Maeß "Tinder und Titanen, Lichtwesen und Jim Jarmuschs Vampire" zusammenbringt. Für Drees ist dieser Roman, der nach des "Möglichkeit des Heiligen in religiös entwürdigten Zeiten" fragt, ein Glücksfall.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Geradezu "kathedral" erscheint Rezensent Jan Drees der zweite Roman von Emmanuel Maeß, der ihm angelehnt an Gottfried von Straßburgs "Tristan"-Epos von einer durch Betrug entstandenen, verzehrenden Liebe erzählt. Und so schreitet der Kritiker durch dieses wuchtige Textgebäude, begegnet einem namenlosen, nerdigen Theologie-Doktoranden, der, mit der vernünftigen Kinderärztin Clara liiert, eine amour fou mit der Kunststudentin Katharina - "mehr Naturereignis als Mensch" eingeht. Über dreihundert Seiten hinweg inszeniert Maeß die "quasi-religiöse Zelebration fleischlicher Lust", wie mittelalterliche Mystikerinnen verliert sich der Erzähler in seinem Liebesrausch, resümiert Drees. Gewährsmänner wie Augustinus, Platon, Plotin oder Kierkegaard treten ebenfalls auf, zugleich staunt der Kritiker, wie Maeß "Tinder und Titanen, Lichtwesen und Jim Jarmuschs Vampire" zusammenbringt. Für Drees ist dieser Roman, der nach des "Möglichkeit des Heiligen in religiös entwürdigten Zeiten" fragt, ein Glücksfall.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.02.2023Götter
im Exil
Eine staunenswerte Rarität:
Emanuel Maeß’ Roman „Alles in allem“
VON HUBERT WINKELS
Wie kann man eigentlich bei inspiriertem Sprechen und Schreiben Frechheit von Beseligung unterscheiden? Im Zweifel gar nicht. Emanuel Maeß ist ein von schweren kulturhistorischen Pharmaka angetriebener, ja beseelter Schreiber. Er greift durch alle gängigen zeitgenössischen Darstellungsformen hindurch gleich zu den stärksten Mitteln, namentlich, in kleiner Auswahl: zu Parmenides und Platon, zum Evangelisten Johannes und dem Johannes der Apokalypse, zu den Neuplatonikern Plotin, Proklos und Pseudo-Dionysos Areopagita, zu Mechthild von Magdeburgs Gottesminne bis hin zu Hölderlin, Jean Paul und T. S. Eliot in fast noch unseren Jahren. Drunter tut es der noch junge Mann aus Berlin nicht. Aber er spricht heutig mit diesen fremden Dikta und fern scheinenden Ideen, heutig mit einer Drehung ins Absonderliche. In dieser Hinsicht ist Emanuel Maeß frech.
In seinem ersten Roman „Gelenke des Lichts“ entwickelte er aus dem Sohn eines protestantischen Pfarrers aus Thüringen einen sowohl spätpatristisch wie poststrukturell gewieften Ich-Erzähler; einen Jongleur aller modernen, aber auf vormoderne Metaphysik bezogenen Diskurse, der als Doktorand und Bildungsreisender ein parasitäres, universitär alimentiertes Dasein führt, einen Darsteller des gehobenen intellektuell-verschrobenen Snobismus, dessen Denk- meist auch Reisewege sind und ihn über Heidelberg und Cambridge ins Kloster Beuron (Nazarener und Neu-Byzantiner) und in Nietzsches Sils Maria führen, am Wegrand Rilkes Duino, Soglio und Muzot. Verneigungen mit leichtem Lächeln.
Im Bergell, in Äquidistanz zu Aufenthaltsorten Nietzsches und Augustinus’, endet sein erster Roman, der Erzählform nach die fast durchgehende Anrede einer ungeliebten, eher schlichten Freundin, die im Wesentlichen als schwaches Surrogat der fernen angebeteten Geliebten in der Tradition Dantes (Vita nova) und Petrarcas (Canzoniere) – das Promotionsthema des Helden – fungiert.
Es ist so megaloman, wie es klingt, doch ein vornehm nuancierter Stil, von leichtem, fast spöttischem Humor durchzogen, macht die freche Exposition der Bildungsfrömmigkeit leichter zugänglich und schafft Vertrauen in die hypostasierte göttlich-menschliche Mixed Zone, ins Zusammenwirken von antiken, christlichen und zeitgenössischen Motiven. Emanuel Maeß will tatsächlich eine Bahn brechen von den antiken, noch körperhaften Ritualformen über den platonischen Leib-Seele-Dualismus und die Liebesgesänge der heiligen Mechthild bis zu Lana Del Reys „Gods & Monsters“ in unseren Tagen. „Gelenke des Lichts“ endet bei einem Symposion zur Liebe. Der neue Roman „Alles in allem“ beginnt mit einer Bettszene, in der der seitenlang gestreckte nackte Rücken der Geliebten zugleich eine pastorale Landschaftsfeier ist, eine geomorph orientierte Exkursion in mittelgriechische Oliven- und Weingebiete bei Delphi. Ist es noch Erotik oder schon antike Naturfrömmigkeit? Man ist nicht verwundert, wenn der Name des nahen liebesumspielten Gebirges fällt: Parnass. Dort also beginnt und endet „Alles in allem“: unser Geschäft mit den Göttern und Mächten bis heute. Und wieder rührt sich beim Lesen ein Widerstand gegen die scheinbare Umstandslosigkeit der Grenzüberschreitung in heilige Zonen. Darf man so mit den Göttern, Zeiten und Menschen spielen? Abgesehen davon, dass von Hölderlin bis Joyce, von Novalis bis Botho Strauß die romantische Poesie dieses Wunder-Erbe immer gepflegt hat, darf man alles in allem alles, wenn man es kann. Und Emanuel Maeß hat seine Art. Er kann es nämlich, indem er, was geschieht, immer sogleich, meist gleichzeitig, in einem Atem, einem Kuss sozusagen, erläutert, es läutert, es auf ein Allgemeines bezieht, das nach und nach die konkrete Szene durchdringt und aufhebt.
Ein einziger Kuss, nicht einmal ein äußerst leidenschaftlicher, verschlingender, schreibt sich über mehrere Seiten. Und wird dabei potenziert. Er gibt seine initiale erotisch-vitale Kraft ab an das Denken des Kusses selbst. Es lebt auf und fasst die lust-konkrete Gegenwart sub specie aeternitatis, bildet so eine anbetungswürdige kathedralartige metaphysische Reflexionswölbung. Später wird ein ganzes Romankapitel die Kathedrale von Chartres als lichten Bau eines Frauenkörpers neu errichten.
Die Geliebte Katharina als Kathedrale des Höchsten. Es hört nicht auf, sich nicht zu küssen, der Himmel und die Erde, Alpha und Omega – was sich als kleine Buchstabenzeichnung, als Überschreibung des Christusmonogramms im Roman dargestellt findet, mit den griechischen Buchstaben als Eckpunkten einer horizontalen Linie, mit den ersten beiden Buchstaben von SEX in der kreuzenden Vertikalen und einem übergroßen X, das Anfang und Ende, Wort und Fleisch sowohl verbindet wie durchstreicht. Hier wären wir dann lesend „an diesem Kipppunkt, an dem man mehr als nur das Heft des Handelns aus der Hand gab ..., denn alle Begriffe von Seele, Geist und Gott, Subjekt, Objekt, Kraft, Moral, Vernunft und Bewusstsein standen hier auf dem Spiel und erschienen vor dem Grenzübertritt in dieses Mysterium des höheren Lippengebrauchs anders als danach, machten darin also eine völlige Wandlung durch. Wer die Welt nur aus Schreibtischstimmungen und Bibliothekseinsamkeiten heraus ausloten wollte, begriff bestenfalls die Hälfte und übersah, dass man sich den Weg ins Wesentliche nur freiküssen konnte“.
Solche plötzlichen Tonwechsel sind’s, die nonchalanten Pointen, die aus dem dichten metaphysisch-orgiastischen Geist-Körper-Gewölle herausführen und das Ganze immer wieder neu erden und ordnen, sie machen den Reiz, ja zuvörderst überhaupt erst die Lesbarkeit des Buches aus. Und eine rudimentäre Handlung tut ihr Übriges, es nicht auf eine intellektuelle Selbstvertiefungsübung für die happy few der altsprachlich-theologischen Bildungsdiskurse zu beschränken.
Von der mystischen Vereinigung der Leiber in der Erzählgegenwart in Delphi, am Ort der unauslotbaren Pythia, geht der Blick dann langsam zurück zur ersten Begegnung mit Katharina aus Wittenberg, Künstlerin und theologisch ausgebildete Kulturmanagerin in der Lutherstadt, aktiv beim Fest zum 500. Geburtstags des Reformators. Das ist nicht ohne Witz inszeniert. So geht die erste Romanreise des Ich-Erzählers zunächst mit einer blassen, aber warmherzigen Freundin in den Sinai, ins geschichtsträchtige Katharinenkloster!
Und ausgerechnet in Wittenberg, dem Jerusalem des Protestantismus, arbeiten die beiden spirituell Liebenden an einer tieferen Zusammenkunft. Aus der Museumskirche stiehlt der Erzähler eine große Holzskulptur der angebeteten Katharina, die eine gekreuzigte Maria und einen auf Knien trauernden Christus zeigt, und deponiert sie in der nahen Elbnatur. Die dogmatischen und lebenspraktischen Frechheiten, inklusive der Gendermorphose, bringen den amourösen Durchbruch. Man wandelt forthin als Paar gemeinsam, wenn auch nicht immer desselben Sinnes.
Die nächste Station ist dann das nahe Gartenreich Wörlitz, Weltkulturerbe und klassizistischer Götterhain auch dies. Lauter Tempel, Tempietti, Rotunden und Säulengänge machen die wilden unbehausten, die chtonischen Gottheiten am Grunde der Welt so gut wie unsichtbar. Der Erzähler, inzwischen als Inhaber eines roten Fadens der Liebe im Labyrinth der Welt erkennbar als Theseus, sucht weiter, im nahen Berlin, in Spree-Athen, und folgt der Spur der steingewordenen Götter im Exil und ihren Behausungen, vom Brandenburger Tor über das Schauspielhaus mit seinen Göttergiebeln, über das Alte Museum zum Pergamonaltar. Von hier aus, wo mit der „Ästhetik des Widerstands“ bereits ein modernes Romanwerk die ältesten Mythen für die Kämpfe der Gegenwart fruchtbar gemacht hat, springt der Erzähler denn auch einmal auf die schmutzige Seite der Gewerbegebiete, Bahnhofsareale und querenden ICE-Terrassen der Hauptstadt. Hier erkennt er die Titanen, die mit enormen Aufwand an fossiler Energie, Beton und Schwermetall den ausgestellten Erhabenheiten brutal zu Leibe rücken.
Der eher sanfte Erzähler trifft die chtonische Dimension des thematisch eröffneten Erzählraums kaum. Dabei sucht er fast süchtig die unterdrückten Naturgöttinnen in ihrer zerreißenden Gewalt, von den Mänaden im Tross des Dionysos bis zu den Sirenen im Tross von Friedrich Kittler. Sie markieren das Früher, zu dem es kein weiteres Früher mehr gibt; der Roman der hochkulturellen Alleinheit möchte an den verbotenen Ursprung rühren. Der Ort der biografischen Herkunft im ersten Roman heißt denn auch Urspring.
Viel harmonisch besungene Frühe und Tiefe. Die politische und soziale Entwicklung des Helden in diesem Roman voller Bildung – aber kein Bildungsroman – bleibt blass. Sie hat eben diese sich der Welt enthebende Form. Eine anachronistische Seltsamkeit, die gelegentlich an Thomas Manns exzentrisches Spätwerk „Der Erwählte“ erinnern mag. Der Held kennt zwar Eifersucht und Leidenschaft, Selbstzweifel und zur Not auch das Kanzleramt. Doch zu keiner Romanzeit bleiben diese Formen des Menschlichen-Allzumenschlichen ohne spirituelles Unterfutter und divines Ornat.
Das alles würde niemals funktionieren ohne die Beseligung durch ein ganz eigenes dauerentzündetes literarisch-historisches Sprechen. Ein sanftes Ausfließen des Denkens aus sich selbst, eine Art Sloterdijkisierung der schönen Literatur („Den Himmel zum Sprechen bringen“); getragen meist von langen Satzperioden, das Bizarre ironisch in die Romanform integrierend, das erhaben Überschießende reflexiv bindend, antiquiert und hochmodern, fromm in Teilen, neu-nazarenisch und frech obendrein, eine staunenswerte Rarität in der gegenwärtigen Literaturlandschaft.
Ein einziger Kuss, nicht einmal
ein leidenschaftlicher, schreibt
sich über mehrere Seiten
Emanuel Maeß: Alles in allem. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2023.
397 Seiten, 24 Euro.
Darf man so mit den Göttern, Zeiten und Menschen spielen, so umstandslos die Grenzen in heilige Zonen überschreiten? Man darf alles, wenn man es kann, und Emanuel Maeß hat seine Art: Claude Lorrains Gemälde „Blick auf Delphi mit einer Prozession“ von 1645.
Foto: mauritius images / Art Heritage / Alamy
Emanuel Maeß wurde 1977 in Jena geboren. Sein Debütroman „Gelenke des Lichts“ wurde 2019 mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet. Foto: privat
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im Exil
Eine staunenswerte Rarität:
Emanuel Maeß’ Roman „Alles in allem“
VON HUBERT WINKELS
Wie kann man eigentlich bei inspiriertem Sprechen und Schreiben Frechheit von Beseligung unterscheiden? Im Zweifel gar nicht. Emanuel Maeß ist ein von schweren kulturhistorischen Pharmaka angetriebener, ja beseelter Schreiber. Er greift durch alle gängigen zeitgenössischen Darstellungsformen hindurch gleich zu den stärksten Mitteln, namentlich, in kleiner Auswahl: zu Parmenides und Platon, zum Evangelisten Johannes und dem Johannes der Apokalypse, zu den Neuplatonikern Plotin, Proklos und Pseudo-Dionysos Areopagita, zu Mechthild von Magdeburgs Gottesminne bis hin zu Hölderlin, Jean Paul und T. S. Eliot in fast noch unseren Jahren. Drunter tut es der noch junge Mann aus Berlin nicht. Aber er spricht heutig mit diesen fremden Dikta und fern scheinenden Ideen, heutig mit einer Drehung ins Absonderliche. In dieser Hinsicht ist Emanuel Maeß frech.
In seinem ersten Roman „Gelenke des Lichts“ entwickelte er aus dem Sohn eines protestantischen Pfarrers aus Thüringen einen sowohl spätpatristisch wie poststrukturell gewieften Ich-Erzähler; einen Jongleur aller modernen, aber auf vormoderne Metaphysik bezogenen Diskurse, der als Doktorand und Bildungsreisender ein parasitäres, universitär alimentiertes Dasein führt, einen Darsteller des gehobenen intellektuell-verschrobenen Snobismus, dessen Denk- meist auch Reisewege sind und ihn über Heidelberg und Cambridge ins Kloster Beuron (Nazarener und Neu-Byzantiner) und in Nietzsches Sils Maria führen, am Wegrand Rilkes Duino, Soglio und Muzot. Verneigungen mit leichtem Lächeln.
Im Bergell, in Äquidistanz zu Aufenthaltsorten Nietzsches und Augustinus’, endet sein erster Roman, der Erzählform nach die fast durchgehende Anrede einer ungeliebten, eher schlichten Freundin, die im Wesentlichen als schwaches Surrogat der fernen angebeteten Geliebten in der Tradition Dantes (Vita nova) und Petrarcas (Canzoniere) – das Promotionsthema des Helden – fungiert.
Es ist so megaloman, wie es klingt, doch ein vornehm nuancierter Stil, von leichtem, fast spöttischem Humor durchzogen, macht die freche Exposition der Bildungsfrömmigkeit leichter zugänglich und schafft Vertrauen in die hypostasierte göttlich-menschliche Mixed Zone, ins Zusammenwirken von antiken, christlichen und zeitgenössischen Motiven. Emanuel Maeß will tatsächlich eine Bahn brechen von den antiken, noch körperhaften Ritualformen über den platonischen Leib-Seele-Dualismus und die Liebesgesänge der heiligen Mechthild bis zu Lana Del Reys „Gods & Monsters“ in unseren Tagen. „Gelenke des Lichts“ endet bei einem Symposion zur Liebe. Der neue Roman „Alles in allem“ beginnt mit einer Bettszene, in der der seitenlang gestreckte nackte Rücken der Geliebten zugleich eine pastorale Landschaftsfeier ist, eine geomorph orientierte Exkursion in mittelgriechische Oliven- und Weingebiete bei Delphi. Ist es noch Erotik oder schon antike Naturfrömmigkeit? Man ist nicht verwundert, wenn der Name des nahen liebesumspielten Gebirges fällt: Parnass. Dort also beginnt und endet „Alles in allem“: unser Geschäft mit den Göttern und Mächten bis heute. Und wieder rührt sich beim Lesen ein Widerstand gegen die scheinbare Umstandslosigkeit der Grenzüberschreitung in heilige Zonen. Darf man so mit den Göttern, Zeiten und Menschen spielen? Abgesehen davon, dass von Hölderlin bis Joyce, von Novalis bis Botho Strauß die romantische Poesie dieses Wunder-Erbe immer gepflegt hat, darf man alles in allem alles, wenn man es kann. Und Emanuel Maeß hat seine Art. Er kann es nämlich, indem er, was geschieht, immer sogleich, meist gleichzeitig, in einem Atem, einem Kuss sozusagen, erläutert, es läutert, es auf ein Allgemeines bezieht, das nach und nach die konkrete Szene durchdringt und aufhebt.
Ein einziger Kuss, nicht einmal ein äußerst leidenschaftlicher, verschlingender, schreibt sich über mehrere Seiten. Und wird dabei potenziert. Er gibt seine initiale erotisch-vitale Kraft ab an das Denken des Kusses selbst. Es lebt auf und fasst die lust-konkrete Gegenwart sub specie aeternitatis, bildet so eine anbetungswürdige kathedralartige metaphysische Reflexionswölbung. Später wird ein ganzes Romankapitel die Kathedrale von Chartres als lichten Bau eines Frauenkörpers neu errichten.
Die Geliebte Katharina als Kathedrale des Höchsten. Es hört nicht auf, sich nicht zu küssen, der Himmel und die Erde, Alpha und Omega – was sich als kleine Buchstabenzeichnung, als Überschreibung des Christusmonogramms im Roman dargestellt findet, mit den griechischen Buchstaben als Eckpunkten einer horizontalen Linie, mit den ersten beiden Buchstaben von SEX in der kreuzenden Vertikalen und einem übergroßen X, das Anfang und Ende, Wort und Fleisch sowohl verbindet wie durchstreicht. Hier wären wir dann lesend „an diesem Kipppunkt, an dem man mehr als nur das Heft des Handelns aus der Hand gab ..., denn alle Begriffe von Seele, Geist und Gott, Subjekt, Objekt, Kraft, Moral, Vernunft und Bewusstsein standen hier auf dem Spiel und erschienen vor dem Grenzübertritt in dieses Mysterium des höheren Lippengebrauchs anders als danach, machten darin also eine völlige Wandlung durch. Wer die Welt nur aus Schreibtischstimmungen und Bibliothekseinsamkeiten heraus ausloten wollte, begriff bestenfalls die Hälfte und übersah, dass man sich den Weg ins Wesentliche nur freiküssen konnte“.
Solche plötzlichen Tonwechsel sind’s, die nonchalanten Pointen, die aus dem dichten metaphysisch-orgiastischen Geist-Körper-Gewölle herausführen und das Ganze immer wieder neu erden und ordnen, sie machen den Reiz, ja zuvörderst überhaupt erst die Lesbarkeit des Buches aus. Und eine rudimentäre Handlung tut ihr Übriges, es nicht auf eine intellektuelle Selbstvertiefungsübung für die happy few der altsprachlich-theologischen Bildungsdiskurse zu beschränken.
Von der mystischen Vereinigung der Leiber in der Erzählgegenwart in Delphi, am Ort der unauslotbaren Pythia, geht der Blick dann langsam zurück zur ersten Begegnung mit Katharina aus Wittenberg, Künstlerin und theologisch ausgebildete Kulturmanagerin in der Lutherstadt, aktiv beim Fest zum 500. Geburtstags des Reformators. Das ist nicht ohne Witz inszeniert. So geht die erste Romanreise des Ich-Erzählers zunächst mit einer blassen, aber warmherzigen Freundin in den Sinai, ins geschichtsträchtige Katharinenkloster!
Und ausgerechnet in Wittenberg, dem Jerusalem des Protestantismus, arbeiten die beiden spirituell Liebenden an einer tieferen Zusammenkunft. Aus der Museumskirche stiehlt der Erzähler eine große Holzskulptur der angebeteten Katharina, die eine gekreuzigte Maria und einen auf Knien trauernden Christus zeigt, und deponiert sie in der nahen Elbnatur. Die dogmatischen und lebenspraktischen Frechheiten, inklusive der Gendermorphose, bringen den amourösen Durchbruch. Man wandelt forthin als Paar gemeinsam, wenn auch nicht immer desselben Sinnes.
Die nächste Station ist dann das nahe Gartenreich Wörlitz, Weltkulturerbe und klassizistischer Götterhain auch dies. Lauter Tempel, Tempietti, Rotunden und Säulengänge machen die wilden unbehausten, die chtonischen Gottheiten am Grunde der Welt so gut wie unsichtbar. Der Erzähler, inzwischen als Inhaber eines roten Fadens der Liebe im Labyrinth der Welt erkennbar als Theseus, sucht weiter, im nahen Berlin, in Spree-Athen, und folgt der Spur der steingewordenen Götter im Exil und ihren Behausungen, vom Brandenburger Tor über das Schauspielhaus mit seinen Göttergiebeln, über das Alte Museum zum Pergamonaltar. Von hier aus, wo mit der „Ästhetik des Widerstands“ bereits ein modernes Romanwerk die ältesten Mythen für die Kämpfe der Gegenwart fruchtbar gemacht hat, springt der Erzähler denn auch einmal auf die schmutzige Seite der Gewerbegebiete, Bahnhofsareale und querenden ICE-Terrassen der Hauptstadt. Hier erkennt er die Titanen, die mit enormen Aufwand an fossiler Energie, Beton und Schwermetall den ausgestellten Erhabenheiten brutal zu Leibe rücken.
Der eher sanfte Erzähler trifft die chtonische Dimension des thematisch eröffneten Erzählraums kaum. Dabei sucht er fast süchtig die unterdrückten Naturgöttinnen in ihrer zerreißenden Gewalt, von den Mänaden im Tross des Dionysos bis zu den Sirenen im Tross von Friedrich Kittler. Sie markieren das Früher, zu dem es kein weiteres Früher mehr gibt; der Roman der hochkulturellen Alleinheit möchte an den verbotenen Ursprung rühren. Der Ort der biografischen Herkunft im ersten Roman heißt denn auch Urspring.
Viel harmonisch besungene Frühe und Tiefe. Die politische und soziale Entwicklung des Helden in diesem Roman voller Bildung – aber kein Bildungsroman – bleibt blass. Sie hat eben diese sich der Welt enthebende Form. Eine anachronistische Seltsamkeit, die gelegentlich an Thomas Manns exzentrisches Spätwerk „Der Erwählte“ erinnern mag. Der Held kennt zwar Eifersucht und Leidenschaft, Selbstzweifel und zur Not auch das Kanzleramt. Doch zu keiner Romanzeit bleiben diese Formen des Menschlichen-Allzumenschlichen ohne spirituelles Unterfutter und divines Ornat.
Das alles würde niemals funktionieren ohne die Beseligung durch ein ganz eigenes dauerentzündetes literarisch-historisches Sprechen. Ein sanftes Ausfließen des Denkens aus sich selbst, eine Art Sloterdijkisierung der schönen Literatur („Den Himmel zum Sprechen bringen“); getragen meist von langen Satzperioden, das Bizarre ironisch in die Romanform integrierend, das erhaben Überschießende reflexiv bindend, antiquiert und hochmodern, fromm in Teilen, neu-nazarenisch und frech obendrein, eine staunenswerte Rarität in der gegenwärtigen Literaturlandschaft.
Ein einziger Kuss, nicht einmal
ein leidenschaftlicher, schreibt
sich über mehrere Seiten
Emanuel Maeß: Alles in allem. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2023.
397 Seiten, 24 Euro.
Darf man so mit den Göttern, Zeiten und Menschen spielen, so umstandslos die Grenzen in heilige Zonen überschreiten? Man darf alles, wenn man es kann, und Emanuel Maeß hat seine Art: Claude Lorrains Gemälde „Blick auf Delphi mit einer Prozession“ von 1645.
Foto: mauritius images / Art Heritage / Alamy
Emanuel Maeß wurde 1977 in Jena geboren. Sein Debütroman „Gelenke des Lichts“ wurde 2019 mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet. Foto: privat
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Emanuel Maeß ist ein gewaltiges, aber auch höchst verführerisches Wagnis eingegangen. Jan Drees Deutschlandfunk