Eine Ewigkeit scheint vergangen seit Ingrids Flucht aus der bürgerlichen Enge eines Vororts, raus aus dem Elternhaus mit provinzdeutscher Gartenhecke und kleinkalifonischem Flachdach. Jetzt arbeitet Ingrid in der großen Stadt, mixt Getränke in einer Live-Sex-Bar. Ihre Wohnung teilt sie sich mit einer Katze und ihrem Bruder Gordan. Ein Besuch bei der Mutter wühlt alles wieder auf, was Ingrid so sorgfältig unter einer Jahre alten Müdigkeit verborgen hielt: Erinnerungen an eine fatale Grillparty beim Vater und seiner neuen Familie, an die Mutter mit wässrigen Augen und Gläsern mit Hochprozentigem, an einen verlassenen Pool, der wie eine Wunde im elterlichen Garten klafft. Und an einen Sommer zu dritt, an dem alles seinen Anfang nahm.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.07.2015Rauchen, Sex
und Kaffee
Julia Wolf erzählt gekonnt vom
Leben in egoistischer Lethargie
Kann ein Mensch eine interessante Romanfigur ergeben, der nichts denkt, immer müde ist, keine Ziele verfolgt und ohne tiefere Bindung zu anderen Menschen seine Tage verbringt? Füllt ein ambitionsloses Dasein, das lediglich von ein paar Kränkungen und Zufällen punktuell beschleunigt wird, 160 Seiten? Und verdient dieses Phlegma, das weder ins vollkommen Lebensmüde neigt, noch um Änderung kämpft, einen relevanten Ort im kulturellen Gedächtnis? Julia Wolf beschreibt das Faszinierende an einer solch leeren Gestalt in ihrem Debütroman „Alles ist jetzt“.
Ingrid, eine als hübsch beschriebene junge Frau, lebt mit ihrem Bruder in einer deutschen Großstadt, die wie Frankfurt wirkt. Sie hat eine Lebenspartnerin, die offensichtlich von ihrem stoischen Wesen erregt wird, verdient ihren Lebensunterhalt seit Jahren in einem Sex-Club hinterm Tresen mit körperlosem Service und hat ein gestörtes Verhältnis zu ihren Eltern. Papa ist irgendwann grußlos verschwunden und hat in einer anderen Speckgürtelsiedlung eine neue Familie gegründet. Mama war seither mit sich und dem Alkohol beschäftigt. Bruder Gordan blieb die einzige Familienkonstante, allerdings auch er irgendwie recht lebensfremd, das aber immerhin mit Humor.
Der fehlt Ingrid zu allem Überfluss auch noch vollständig. Ihr Seelenhaushalt ist trist möbliert. Zwei große Enttäuschungen, Mutter Gabriele und Jugendliebe Moritz, besetzen das Grübeln. Weitere Nachdenklichkeit fehlt ebenso wie Interesse für die Welt um sie herum oder irgendein Gestaltungswille. Teilnahmslos nimmt sie teil an ihrer Lebenszeit. Lediglich drei Dinge beleben die Genussseite dieser emotionalen Flatlinerin: Rauchen, Sex und Kaffee. Und weil zumindest der Sex dann doch meist mit irgendwelchen menschlichen Ansprüchen und Komplikationen verbunden ist, missachtet Ingrid strategisch alle Formen von Verbindlichkeit.
Von außen betrachtet erscheint dieser Charakter wie Leichtsinn in der Schwermutblase, und das macht Ingrid offensichtlich für viele Menschen ziemlich attraktiv. So kann sie trotz einiger unschöner Zwischenepisoden mit männlich-sexuellen Übergriffen bis zum Ende des Buches auf Sympathie und Unterstützung rechnen, die sie aber selbst verweigert, wo sie gefragt wären. So gleitet diese Gefühlskapsel auf der unverdienten Zuneigung schließlich nach New York, wo sie beim endlosen Wandern durch die Stadt endlich lernt, gar nicht mehr zu denken.
Julia Wolf, die bisher ein skurriles Theaterstück über die halbwegs unfreiwillige Entführung eines Mannes durch drei Frauen sowie einige Hörspiele geschrieben hat (in denen unter anderem Angelina Jolie als Dämon auftaucht), schafft mit diesem Porträt einer vollkommen unreflektierten Person tatsächlich ein faszinierendes Charakterbild. Obwohl man diese Verbindung aus depressiven Verhaltensweisen und rücksichtsloser Aktivität in ihrer Ungebrochenheit nur als Kunstfigur wahrnehmen kann, enthält Wolfs Mädchen-Konstrukt viele überzeugende Aspekte einer zeitgenössischen Lebensweise, die man vielleicht als egoistische Lethargie bezeichnen könnte.
Diese grundsätzlich gleichgültige Haltung, die nichts sucht im Leben außer etwas persönliche Befriedigung, skizziert Julia Wolf in knapper, ungespreizter Prosa, und ruft dabei mit präzisen Beobachtungen die Schauplätze einer deutschen Wohlstandsjugend auf, die nie wirklich von etwas gefordert wurde: das Einfamilienhaus, die Klubs, die Großstadtkulisse, die eigene Lotterwohnung. Ingrids Seelenreise in die zunehmende Abstumpfung beschreibt dieser kurze Roman dabei durchaus irritierend als Gesellschaftsdiagnose. Wobei die Protagonistin an eine andere große Egoistin aus dem großbürgerlichen Zeitalter erinnert: Hedda Gabler, die kalt zerstört, was sie nicht lieben kann, taucht in dieser Ingrid wieder auf als müde Täterin der Jetzt-Besoffenheit.
TILL BRIEGLEB
Julia Wolf: Alles ist jetzt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015. 160 Seiten, 19,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Kaffee
Julia Wolf erzählt gekonnt vom
Leben in egoistischer Lethargie
Kann ein Mensch eine interessante Romanfigur ergeben, der nichts denkt, immer müde ist, keine Ziele verfolgt und ohne tiefere Bindung zu anderen Menschen seine Tage verbringt? Füllt ein ambitionsloses Dasein, das lediglich von ein paar Kränkungen und Zufällen punktuell beschleunigt wird, 160 Seiten? Und verdient dieses Phlegma, das weder ins vollkommen Lebensmüde neigt, noch um Änderung kämpft, einen relevanten Ort im kulturellen Gedächtnis? Julia Wolf beschreibt das Faszinierende an einer solch leeren Gestalt in ihrem Debütroman „Alles ist jetzt“.
Ingrid, eine als hübsch beschriebene junge Frau, lebt mit ihrem Bruder in einer deutschen Großstadt, die wie Frankfurt wirkt. Sie hat eine Lebenspartnerin, die offensichtlich von ihrem stoischen Wesen erregt wird, verdient ihren Lebensunterhalt seit Jahren in einem Sex-Club hinterm Tresen mit körperlosem Service und hat ein gestörtes Verhältnis zu ihren Eltern. Papa ist irgendwann grußlos verschwunden und hat in einer anderen Speckgürtelsiedlung eine neue Familie gegründet. Mama war seither mit sich und dem Alkohol beschäftigt. Bruder Gordan blieb die einzige Familienkonstante, allerdings auch er irgendwie recht lebensfremd, das aber immerhin mit Humor.
Der fehlt Ingrid zu allem Überfluss auch noch vollständig. Ihr Seelenhaushalt ist trist möbliert. Zwei große Enttäuschungen, Mutter Gabriele und Jugendliebe Moritz, besetzen das Grübeln. Weitere Nachdenklichkeit fehlt ebenso wie Interesse für die Welt um sie herum oder irgendein Gestaltungswille. Teilnahmslos nimmt sie teil an ihrer Lebenszeit. Lediglich drei Dinge beleben die Genussseite dieser emotionalen Flatlinerin: Rauchen, Sex und Kaffee. Und weil zumindest der Sex dann doch meist mit irgendwelchen menschlichen Ansprüchen und Komplikationen verbunden ist, missachtet Ingrid strategisch alle Formen von Verbindlichkeit.
Von außen betrachtet erscheint dieser Charakter wie Leichtsinn in der Schwermutblase, und das macht Ingrid offensichtlich für viele Menschen ziemlich attraktiv. So kann sie trotz einiger unschöner Zwischenepisoden mit männlich-sexuellen Übergriffen bis zum Ende des Buches auf Sympathie und Unterstützung rechnen, die sie aber selbst verweigert, wo sie gefragt wären. So gleitet diese Gefühlskapsel auf der unverdienten Zuneigung schließlich nach New York, wo sie beim endlosen Wandern durch die Stadt endlich lernt, gar nicht mehr zu denken.
Julia Wolf, die bisher ein skurriles Theaterstück über die halbwegs unfreiwillige Entführung eines Mannes durch drei Frauen sowie einige Hörspiele geschrieben hat (in denen unter anderem Angelina Jolie als Dämon auftaucht), schafft mit diesem Porträt einer vollkommen unreflektierten Person tatsächlich ein faszinierendes Charakterbild. Obwohl man diese Verbindung aus depressiven Verhaltensweisen und rücksichtsloser Aktivität in ihrer Ungebrochenheit nur als Kunstfigur wahrnehmen kann, enthält Wolfs Mädchen-Konstrukt viele überzeugende Aspekte einer zeitgenössischen Lebensweise, die man vielleicht als egoistische Lethargie bezeichnen könnte.
Diese grundsätzlich gleichgültige Haltung, die nichts sucht im Leben außer etwas persönliche Befriedigung, skizziert Julia Wolf in knapper, ungespreizter Prosa, und ruft dabei mit präzisen Beobachtungen die Schauplätze einer deutschen Wohlstandsjugend auf, die nie wirklich von etwas gefordert wurde: das Einfamilienhaus, die Klubs, die Großstadtkulisse, die eigene Lotterwohnung. Ingrids Seelenreise in die zunehmende Abstumpfung beschreibt dieser kurze Roman dabei durchaus irritierend als Gesellschaftsdiagnose. Wobei die Protagonistin an eine andere große Egoistin aus dem großbürgerlichen Zeitalter erinnert: Hedda Gabler, die kalt zerstört, was sie nicht lieben kann, taucht in dieser Ingrid wieder auf als müde Täterin der Jetzt-Besoffenheit.
TILL BRIEGLEB
Julia Wolf: Alles ist jetzt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015. 160 Seiten, 19,90 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
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