Elizabeth Strout erzählt in ihrem international gefeierten Roman unvergessliche Geschichten über die Menschen einer Kleinstadt, die sich nach Liebe und Glück sehnen, aber oft Kummer und Schmerz erleben. Geschichten über die Natur des Menschen in all seiner Verletzlichkeit und Stärke, über die unendliche Vielfältigkeit des Lebens. Da ist der Hausmeister, der einem Außenseiter helfen will und dabei in eine tiefe Glaubenskrise stürzt. Eine erwachsene Frau sehnt sich immer noch wie ein Kind nach der Liebe ihrer Mutter. Und eine erfolgreiche Schriftstellerin kehrt nach siebzehn Jahren zum ersten Mal in ihre Heimat zurück, um ihre Geschwister zu besuchen ...
»Wer so gut schreibt und die Welt so genau beobachtet, hat mehr als nur Talent: das ist eine Tugend.« Hilary Mantel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2018Irgendwo in Illinois
Jeder stirbt für sich allein: In "Alles ist möglich" verknüpft Elizabeth Strout Geschichten aus dem ländlichen Amerika meisterlich zum Roman
Elizabeth Strout kennt die Welt der amerikanischen Provinz nicht nur aus eigener Anschauung. Die Schriftstellerin, 1956 im Ostküsten-Städtchen Portland geboren, kann über die entlegenen Landstriche und ihre Bewohner auch in unvergleichlicher Weise schreiben. Ihre Meisterschaft als Beobachterin, die sich auf Augenhöhe ihres Personals begibt, um es von allen Seiten zu betrachten, hat sie spätestens mit dem Roman "Olive Kitteridge" (2007) gezeigt, tatsächlich eine Sammlung von Erzählungen, die sich über mehr als zwanzig Jahre erstreckt und bei uns unter dem kitschverdächtigen Titel "Mit Blick aufs Meer" erschienen ist.
Überhaupt erweisen sich die deutschen Titel bei Strout nicht eben als glücklich. So wurde aus "The Burgess Boys" ein schwammiges "Das Leben, natürlich", "My Name Is Lucy Barton" geriet zu "Die Unvollkommenheit der Liebe". Wie gut, dass bei "Anything is possible" nicht viel zu ändern war. "Alles ist möglich" ist aufs Neue ein als Roman ausgewiesener Erzählreigen, dessen einzelne Geschichten sich ineinander verkordeln und die auf kollektiver Erinnerung fußen, aber jede Geschichte steht zugleich für sich, denn was sie verbindet, trennt sie auch: Jede blickt aus einer anderen Perspektive auf die Kleinstadt und ihre Bewohner, die seit Jahrzehnten miteinander oder nebeneinanderher leben. Der mikroskopische Blick auf das überschaubare Tableau macht den Reiz der nuancierten Erzählungen aus, die den Ort Amgash in Illinios kaum je verlassen, dafür umso tiefer ins Innere der Menschen vordringen. So durchschnittlich sich deren Biographien auf den ersten Blick ausnehmen, so verstrickt sind sie bei näherer Betrachtung. Oftmals steht es nicht zum Guten. Da gibt es einen Mann, der alles unternommen hat, um die eigene Homosexualität zu verbergen, oder den Kriegsveteranen, der sich in eine Prostituierte verliebt und darüber sehenden Auges seine Ehe verspielt. Da gibt es eine Frau, die den Tod ihres Ehemannes abwartet, ehe sie sich nach Italien absetzt, um mit einem Jüngeren zu leben. Als ihre darüber verbitterte Tochter sie nach Jahren dort aufsucht, zeigt Strout die prekäre Muter-Tochter-Beziehung in all ihrer Ambivalenz. Wer hier mehr gezeichnet ist von Besitzanspruch und Verlassenheitsängsten, wäre erst noch auszumachen.
Vor allem die weiblichen Figuren zeichnet Elizabeth Strout mit großer Genauigkeit. Sie hadern mit ihrem Schicksal, weil sie den falschen Mann geheiratet, den falschen Beruf ergriffen haben. Manche verstecken sich hinter ihrer gesellschaftlichen Rolle, auch wenn sie darüber fast zugrunde gehen. Eine der wenigen, die es aus dem Nest im Mittleren Westen herausgeschafft haben und damit aus den verheerenden Zusammenhängen einer bitterarmen, dysfunktionalen Familie, ist die in New York lebende Erfolgsschriftstellerin Lucy Barton. Strout-Lesern schon aus ihrem letzten Buch bekannt, kehrt sie nach siebzehn Jahren das erste Mal nach Amgash zurück. Wie die scheinbar gefestigte Autorin sich zunächst dem Glück überlässt, die Geschwister wiederzusehen, die Begegnung aber zugleich die Erinnerung an frühe Demütigungen aufsteigen lässt und zum Zusammenbruch führt, gehört zu den Höhepunkten in diesem Band.
Elizabeth Strout setzt den Einzelnen seinem sozialen Kontext aus, weshalb die Figuren oft bei der Arbeit, beim Einkaufen oder im Gespräch mit Nachbarn anzutreffen sind. Sie sind Farmer oder Sozialarbeiter, Lehrer, Inhaber eines Bed-and-Breakfast oder Mäzene eines Kunstfestivals. Und alle in Amgash scheinen davon überzeugt zu sein, dass sie ihrer Biographie, wenn sie nur wollen, jederzeit einen anderen Dreh geben könnten. Um dann recht bald und eher schmerzhaft festzustellen, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt oder der Preis sehr hoch ist. Dass Eigenständigkeit im Gefüge der vielfältigen Beziehungen des Einzelnen in Wahrheit eine Illusion ist, auch davon handeln diese Erzählungen. Aber der Schmerz darüber wird nicht ausdiskutiert, sondern vielmehr weggeschlossen wie ein Einmachglas im Kellerschrank.
Allenfalls Verbitterung macht sich breit, selten Wut. Und dass Elizabeth Strout ihre Prosa in den Dienst des Erzählten stellt, darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, wie kunstvoll das gearbeitet ist. Die Form der ineinandergreifenden Erzählungen entspricht dabei dem Blick auf eine Welt ohne Zusammenhang. Alles hat mit allem zu tun, und doch steht zuletzt jeder für sich, stirbt jeder für sich allein. Auch in der Erzählung kann es daher nur Bruchstücke einer imaginierten Vollständigkeit geben.
Strouts Prosa wurde mit Autoren wie Thornton Wilder und William Faulkner verglichen. In ihrer Konzentration auf den Ort Amgash erinnert sie an Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio", in ihrer emotionalen Schärfe aber auch an die 1964 verstorbene Flannery O'Connor, deren Erzählband "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" unlängst auf Deutsch erschienen ist. Wie sie hat auch Strout ein Auge für tragikomische Dialoge und kann aus Details eine ganze Weltanschauung entwickeln. Da gibt es den alten Mann, der sich als Hausmeister verdingt, seit vor Jahren seine Farm abgebrannt ist. Damals sah er es als göttliche Fügung an und fand Trost in dem Gedanken, dass es schlimmer hätte kommen können. Mehr erwartet er vom Leben nicht. Als er nun erfährt, dass damals wohl ein Brandstifter am Werk war, den er sogar kannte, kann ihn das nicht mehr erschüttern. Auch das ist bei Elizabeth Strout möglich.
SANDRA KEGEL
Elizabeth Strout:
"Alles ist möglich". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. 256 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jeder stirbt für sich allein: In "Alles ist möglich" verknüpft Elizabeth Strout Geschichten aus dem ländlichen Amerika meisterlich zum Roman
Elizabeth Strout kennt die Welt der amerikanischen Provinz nicht nur aus eigener Anschauung. Die Schriftstellerin, 1956 im Ostküsten-Städtchen Portland geboren, kann über die entlegenen Landstriche und ihre Bewohner auch in unvergleichlicher Weise schreiben. Ihre Meisterschaft als Beobachterin, die sich auf Augenhöhe ihres Personals begibt, um es von allen Seiten zu betrachten, hat sie spätestens mit dem Roman "Olive Kitteridge" (2007) gezeigt, tatsächlich eine Sammlung von Erzählungen, die sich über mehr als zwanzig Jahre erstreckt und bei uns unter dem kitschverdächtigen Titel "Mit Blick aufs Meer" erschienen ist.
Überhaupt erweisen sich die deutschen Titel bei Strout nicht eben als glücklich. So wurde aus "The Burgess Boys" ein schwammiges "Das Leben, natürlich", "My Name Is Lucy Barton" geriet zu "Die Unvollkommenheit der Liebe". Wie gut, dass bei "Anything is possible" nicht viel zu ändern war. "Alles ist möglich" ist aufs Neue ein als Roman ausgewiesener Erzählreigen, dessen einzelne Geschichten sich ineinander verkordeln und die auf kollektiver Erinnerung fußen, aber jede Geschichte steht zugleich für sich, denn was sie verbindet, trennt sie auch: Jede blickt aus einer anderen Perspektive auf die Kleinstadt und ihre Bewohner, die seit Jahrzehnten miteinander oder nebeneinanderher leben. Der mikroskopische Blick auf das überschaubare Tableau macht den Reiz der nuancierten Erzählungen aus, die den Ort Amgash in Illinios kaum je verlassen, dafür umso tiefer ins Innere der Menschen vordringen. So durchschnittlich sich deren Biographien auf den ersten Blick ausnehmen, so verstrickt sind sie bei näherer Betrachtung. Oftmals steht es nicht zum Guten. Da gibt es einen Mann, der alles unternommen hat, um die eigene Homosexualität zu verbergen, oder den Kriegsveteranen, der sich in eine Prostituierte verliebt und darüber sehenden Auges seine Ehe verspielt. Da gibt es eine Frau, die den Tod ihres Ehemannes abwartet, ehe sie sich nach Italien absetzt, um mit einem Jüngeren zu leben. Als ihre darüber verbitterte Tochter sie nach Jahren dort aufsucht, zeigt Strout die prekäre Muter-Tochter-Beziehung in all ihrer Ambivalenz. Wer hier mehr gezeichnet ist von Besitzanspruch und Verlassenheitsängsten, wäre erst noch auszumachen.
Vor allem die weiblichen Figuren zeichnet Elizabeth Strout mit großer Genauigkeit. Sie hadern mit ihrem Schicksal, weil sie den falschen Mann geheiratet, den falschen Beruf ergriffen haben. Manche verstecken sich hinter ihrer gesellschaftlichen Rolle, auch wenn sie darüber fast zugrunde gehen. Eine der wenigen, die es aus dem Nest im Mittleren Westen herausgeschafft haben und damit aus den verheerenden Zusammenhängen einer bitterarmen, dysfunktionalen Familie, ist die in New York lebende Erfolgsschriftstellerin Lucy Barton. Strout-Lesern schon aus ihrem letzten Buch bekannt, kehrt sie nach siebzehn Jahren das erste Mal nach Amgash zurück. Wie die scheinbar gefestigte Autorin sich zunächst dem Glück überlässt, die Geschwister wiederzusehen, die Begegnung aber zugleich die Erinnerung an frühe Demütigungen aufsteigen lässt und zum Zusammenbruch führt, gehört zu den Höhepunkten in diesem Band.
Elizabeth Strout setzt den Einzelnen seinem sozialen Kontext aus, weshalb die Figuren oft bei der Arbeit, beim Einkaufen oder im Gespräch mit Nachbarn anzutreffen sind. Sie sind Farmer oder Sozialarbeiter, Lehrer, Inhaber eines Bed-and-Breakfast oder Mäzene eines Kunstfestivals. Und alle in Amgash scheinen davon überzeugt zu sein, dass sie ihrer Biographie, wenn sie nur wollen, jederzeit einen anderen Dreh geben könnten. Um dann recht bald und eher schmerzhaft festzustellen, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt oder der Preis sehr hoch ist. Dass Eigenständigkeit im Gefüge der vielfältigen Beziehungen des Einzelnen in Wahrheit eine Illusion ist, auch davon handeln diese Erzählungen. Aber der Schmerz darüber wird nicht ausdiskutiert, sondern vielmehr weggeschlossen wie ein Einmachglas im Kellerschrank.
Allenfalls Verbitterung macht sich breit, selten Wut. Und dass Elizabeth Strout ihre Prosa in den Dienst des Erzählten stellt, darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, wie kunstvoll das gearbeitet ist. Die Form der ineinandergreifenden Erzählungen entspricht dabei dem Blick auf eine Welt ohne Zusammenhang. Alles hat mit allem zu tun, und doch steht zuletzt jeder für sich, stirbt jeder für sich allein. Auch in der Erzählung kann es daher nur Bruchstücke einer imaginierten Vollständigkeit geben.
Strouts Prosa wurde mit Autoren wie Thornton Wilder und William Faulkner verglichen. In ihrer Konzentration auf den Ort Amgash erinnert sie an Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio", in ihrer emotionalen Schärfe aber auch an die 1964 verstorbene Flannery O'Connor, deren Erzählband "Keiner Menschenseele kann man noch trauen" unlängst auf Deutsch erschienen ist. Wie sie hat auch Strout ein Auge für tragikomische Dialoge und kann aus Details eine ganze Weltanschauung entwickeln. Da gibt es den alten Mann, der sich als Hausmeister verdingt, seit vor Jahren seine Farm abgebrannt ist. Damals sah er es als göttliche Fügung an und fand Trost in dem Gedanken, dass es schlimmer hätte kommen können. Mehr erwartet er vom Leben nicht. Als er nun erfährt, dass damals wohl ein Brandstifter am Werk war, den er sogar kannte, kann ihn das nicht mehr erschüttern. Auch das ist bei Elizabeth Strout möglich.
SANDRA KEGEL
Elizabeth Strout:
"Alles ist möglich". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. 256 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2019Über Abgründen schweben
Die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout fügt in „Alles ist möglich“ aus den Fragmenten einer Familie einen grandiosen Roman zusammen
Flucht ist keine Lösung. Man kann versuchen, vor seiner Vergangenheit davonzulaufen, den Kontakt zu seiner Familie abbrechen und hoffen, dass irgendwann die alten Wunden heilen. Man kann verdrängen, vergessen, sich ins Ausland absetzen und einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber suchen. Einfach die Löschtaste drücken und von vorne anfangen – danach sehnen sich fast alle Menschen im neuen Roman der 63-jährigen Amerikanerin Elizabeth Strout. Bis sie irgendwann einsehen müssen: Die Wurzeln, also das, was man etwas doppeldeutig Familienbande nennt, kann man nie ganz abtrennen.
„Alles ist möglich“ heißt dieses Buch, das aus neun Kapiteln besteht, neun Kurzgeschichten, die eher lose zusammengehalten werden, „Anything is Possible“ im amerikanischen Original. Das hat einen leicht bedrohlichen Unterton, man muss jedenfalls mit dem Schlimmsten rechnen. So wie die überwiegend weißen Bewohner eines Ortes irgendwo in Illinois, die sich mehr schlecht als recht in ihren langjährigen Ehen oder, noch öfter, in ihrer Einsamkeit eingerichtet haben.
Der traumatisierte Vietnamveteran Charlie flüchtet in eine Affäre mit einer Prostituierten, aus der eine nicht käufliche Liebesbeziehung werden soll, was gründlich schiefgeht. Die 55-jährige Linda, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, gefällt sich nur scheinbar in ihrer Rolle als großzügige Kunstmäzenin und tolerante Spielgefährtin ihres Mannes Jay, der sie in ihrer Villa mit fremden Frauen betrügt. Und die auch nicht mehr junge, geschiedene Dottie macht sich einen Spaß daraus, den Übernachtungsgästen in ihrer bescheidenen Pension intimste Geheimnisse zu entlocken und sie heimlich zu belauschen, bis sie das Schlechteste aus ihnen herausgeholt hat. Dabei wirkt sie anfangs wie die nette ältere Lady aus einer Fünfzigerjahre-Filmkomödie.
Eine endemische Boshaftigkeit hat sich in die Biografien der Kleinstädter gefressen, man will es den anderen mit gleicher Münze zurückzahlen. Manchmal scheint es hier, als habe Amerika längst die Mauer hochgezogen, die der amtierende US-Präsident so gerne an der Grenze zu Mexiko errichten würde: Das real existierende Bollwerk ist härter als Stahl und Beton; es besteht aus verloschener Hoffnung, der Abstiegsangst der unteren Mittelklasse und offenem Hass gegenüber jenen, die ganz unten in der Gesellschaft angekommen sind, dem „Gesocks“, wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Wer dieses Bollwerk überwindet, muss wirklich ein guter Mensch sein.
Elizabeth Strout, die für ihren Roman „Mit Blick aufs Meer“ 2009 den Pulitzer-Preis erhielt, ist eine Meisterin der Andeutung. Sie lässt ihre Figuren über Abgründe schweben und nur wenige wirklich fallen: Manchmal reicht ein Augenzwinkern, ein kurzer Moment des Glücks, um das Leben wieder erträglich zu finden.
Die heimliche Hauptfigur ist Lucy Barton, eine erfolgreiche Schriftstellerin aus New York. Sie hat geschafft, was den anderen nicht gelungen ist – den Absprung in ein vermeintlich besseres Leben. Und so geistert sie als Sehnsuchtsfigur durch die Fantasie ihrer provinziellen Verwandten und früheren Klassenkameraden, manchmal sieht man sie auch im Fernsehen oder im Internet, bei der Vorstellung ihres neuen Buches. Lucy in the Sky, nur ohne Diamanten. Im Kapitel „Schwester“ erzählt Strout die Geschichte einer gescheiterten Heimkehr. Lucy besucht ihren Bruder Pete, der im Ort als seltsamer Einsiedler gilt und noch immer das heruntergekommene Elternhaus bewohnt. Seit vielen Jahren hat sich Lucy nicht mehr zu Hause blicken lassen. Anfangs deutet sich eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit an, die spindeldürre, ganz in schwarz gekleidete Schriftstellerin wagt sich zurück in die Kammer des Schreckens, ihr Bruder Pete weiß nicht so recht, ob er sich nun freuen oder fürchten soll.
Bis auch noch ihre latent aggressive Schwester Vicky auftaucht, eine Krankenpflegerin mit Geldsorgen und einer verzogenen Teenager-Tochter, die seit Langem auf diesen Tag der Abrechnung gewartet hat. An diesem Nachmittag muss alles raus, das ganze Drama der Barton-Kinder, die unter einem gewalttätigen Vater und einer nicht minder grausamen Mutter zu leiden hatten. Und auf einmal fügen sich die Puzzleteile dieses Romans zusammen. Die Geschichte von Missbrauch, extremer Armut, Gefühlskälte und gesellschaftlicher Ächtung, die man bisher nur von Außenstehenden erzählt bekommen hat, steuert auf ihren Höhepunkt zu.
Ja, es gibt noch so etwas wie Liebe füreinander in dieser Notgemeinschaft der missbrauchten Kinder, auch wenn sie das nicht zeigen können. Einmal hat man das Gefühl, gleich müssten sich die Schwestern um den Hals fallen – aber wie soll das gehen, wenn man als Kind nicht umarmt wurde. Warum sie, anders als ihre Geschwister, alles in sich hineinstopfe, kann Vicky gleich beantworten. Die Eltern haben die Kinder einst gezwungen, ungenießbares Essen, das Vicky, Pete und Lucy heimlich wegwarfen, kniend aus dem Mülleimer oder sogar der Toilette zu holen und aufzuessen. „Ich will ja auch bloß sagen, dass ich verstehen kann, warum euch beiden der Appetit vergangen ist“, sagt die stark übergewichtige Vicky, „ich verstehe bloß nicht, warum er mir nicht vergangen ist.“
Es spricht für die Autorin, dass sie ihren beschädigten Figuren ihre Würde lässt, einen ganz eigenen widerspenstigen Witz: „Weißt du, Vicky, eigentlich sind wir doch gar nicht so schlecht geraten“, sagt Pete nach längerem Schweigen, als die berühmte Schwester schon wieder auf dem Weg in die Großstadt ist.
Elizabeth Strout ist eine grandiose Beobachterin, die in die Gefühlswelt von Menschen vordringt, ohne dass es aufdringlich wirkt, auch wenn sie zu einigen Figuren eher auf Distanz bleibt. Und eine tröstliche Erkenntnis bleibt nach diesem Buch: Selbst sehr traurige Menschen leiden nicht die ganze Zeit. Manchmal gelingt es ihnen, die Mauer zu durchbrechen, die sie von den Mitmenschen trennt.
CHRISTIAN MAYER
Elizabeth Strout: Alles ist möglich. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Luchterhand Verlag, München 2018. 249 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout fügt in „Alles ist möglich“ aus den Fragmenten einer Familie einen grandiosen Roman zusammen
Flucht ist keine Lösung. Man kann versuchen, vor seiner Vergangenheit davonzulaufen, den Kontakt zu seiner Familie abbrechen und hoffen, dass irgendwann die alten Wunden heilen. Man kann verdrängen, vergessen, sich ins Ausland absetzen und einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber suchen. Einfach die Löschtaste drücken und von vorne anfangen – danach sehnen sich fast alle Menschen im neuen Roman der 63-jährigen Amerikanerin Elizabeth Strout. Bis sie irgendwann einsehen müssen: Die Wurzeln, also das, was man etwas doppeldeutig Familienbande nennt, kann man nie ganz abtrennen.
„Alles ist möglich“ heißt dieses Buch, das aus neun Kapiteln besteht, neun Kurzgeschichten, die eher lose zusammengehalten werden, „Anything is Possible“ im amerikanischen Original. Das hat einen leicht bedrohlichen Unterton, man muss jedenfalls mit dem Schlimmsten rechnen. So wie die überwiegend weißen Bewohner eines Ortes irgendwo in Illinois, die sich mehr schlecht als recht in ihren langjährigen Ehen oder, noch öfter, in ihrer Einsamkeit eingerichtet haben.
Der traumatisierte Vietnamveteran Charlie flüchtet in eine Affäre mit einer Prostituierten, aus der eine nicht käufliche Liebesbeziehung werden soll, was gründlich schiefgeht. Die 55-jährige Linda, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, gefällt sich nur scheinbar in ihrer Rolle als großzügige Kunstmäzenin und tolerante Spielgefährtin ihres Mannes Jay, der sie in ihrer Villa mit fremden Frauen betrügt. Und die auch nicht mehr junge, geschiedene Dottie macht sich einen Spaß daraus, den Übernachtungsgästen in ihrer bescheidenen Pension intimste Geheimnisse zu entlocken und sie heimlich zu belauschen, bis sie das Schlechteste aus ihnen herausgeholt hat. Dabei wirkt sie anfangs wie die nette ältere Lady aus einer Fünfzigerjahre-Filmkomödie.
Eine endemische Boshaftigkeit hat sich in die Biografien der Kleinstädter gefressen, man will es den anderen mit gleicher Münze zurückzahlen. Manchmal scheint es hier, als habe Amerika längst die Mauer hochgezogen, die der amtierende US-Präsident so gerne an der Grenze zu Mexiko errichten würde: Das real existierende Bollwerk ist härter als Stahl und Beton; es besteht aus verloschener Hoffnung, der Abstiegsangst der unteren Mittelklasse und offenem Hass gegenüber jenen, die ganz unten in der Gesellschaft angekommen sind, dem „Gesocks“, wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Wer dieses Bollwerk überwindet, muss wirklich ein guter Mensch sein.
Elizabeth Strout, die für ihren Roman „Mit Blick aufs Meer“ 2009 den Pulitzer-Preis erhielt, ist eine Meisterin der Andeutung. Sie lässt ihre Figuren über Abgründe schweben und nur wenige wirklich fallen: Manchmal reicht ein Augenzwinkern, ein kurzer Moment des Glücks, um das Leben wieder erträglich zu finden.
Die heimliche Hauptfigur ist Lucy Barton, eine erfolgreiche Schriftstellerin aus New York. Sie hat geschafft, was den anderen nicht gelungen ist – den Absprung in ein vermeintlich besseres Leben. Und so geistert sie als Sehnsuchtsfigur durch die Fantasie ihrer provinziellen Verwandten und früheren Klassenkameraden, manchmal sieht man sie auch im Fernsehen oder im Internet, bei der Vorstellung ihres neuen Buches. Lucy in the Sky, nur ohne Diamanten. Im Kapitel „Schwester“ erzählt Strout die Geschichte einer gescheiterten Heimkehr. Lucy besucht ihren Bruder Pete, der im Ort als seltsamer Einsiedler gilt und noch immer das heruntergekommene Elternhaus bewohnt. Seit vielen Jahren hat sich Lucy nicht mehr zu Hause blicken lassen. Anfangs deutet sich eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit an, die spindeldürre, ganz in schwarz gekleidete Schriftstellerin wagt sich zurück in die Kammer des Schreckens, ihr Bruder Pete weiß nicht so recht, ob er sich nun freuen oder fürchten soll.
Bis auch noch ihre latent aggressive Schwester Vicky auftaucht, eine Krankenpflegerin mit Geldsorgen und einer verzogenen Teenager-Tochter, die seit Langem auf diesen Tag der Abrechnung gewartet hat. An diesem Nachmittag muss alles raus, das ganze Drama der Barton-Kinder, die unter einem gewalttätigen Vater und einer nicht minder grausamen Mutter zu leiden hatten. Und auf einmal fügen sich die Puzzleteile dieses Romans zusammen. Die Geschichte von Missbrauch, extremer Armut, Gefühlskälte und gesellschaftlicher Ächtung, die man bisher nur von Außenstehenden erzählt bekommen hat, steuert auf ihren Höhepunkt zu.
Ja, es gibt noch so etwas wie Liebe füreinander in dieser Notgemeinschaft der missbrauchten Kinder, auch wenn sie das nicht zeigen können. Einmal hat man das Gefühl, gleich müssten sich die Schwestern um den Hals fallen – aber wie soll das gehen, wenn man als Kind nicht umarmt wurde. Warum sie, anders als ihre Geschwister, alles in sich hineinstopfe, kann Vicky gleich beantworten. Die Eltern haben die Kinder einst gezwungen, ungenießbares Essen, das Vicky, Pete und Lucy heimlich wegwarfen, kniend aus dem Mülleimer oder sogar der Toilette zu holen und aufzuessen. „Ich will ja auch bloß sagen, dass ich verstehen kann, warum euch beiden der Appetit vergangen ist“, sagt die stark übergewichtige Vicky, „ich verstehe bloß nicht, warum er mir nicht vergangen ist.“
Es spricht für die Autorin, dass sie ihren beschädigten Figuren ihre Würde lässt, einen ganz eigenen widerspenstigen Witz: „Weißt du, Vicky, eigentlich sind wir doch gar nicht so schlecht geraten“, sagt Pete nach längerem Schweigen, als die berühmte Schwester schon wieder auf dem Weg in die Großstadt ist.
Elizabeth Strout ist eine grandiose Beobachterin, die in die Gefühlswelt von Menschen vordringt, ohne dass es aufdringlich wirkt, auch wenn sie zu einigen Figuren eher auf Distanz bleibt. Und eine tröstliche Erkenntnis bleibt nach diesem Buch: Selbst sehr traurige Menschen leiden nicht die ganze Zeit. Manchmal gelingt es ihnen, die Mauer zu durchbrechen, die sie von den Mitmenschen trennt.
CHRISTIAN MAYER
Elizabeth Strout: Alles ist möglich. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Luchterhand Verlag, München 2018. 249 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de