Die Diagnose "Alles nur psychisch!" wird heute zu oft und zu schnell gestellt. Die möglichen somatischen Ursachen weitverbreiteter Beschwerden werden dabei leichtsinnig außer Acht gelassen. In diesem Buch erhalten die LeserInnen umfassende Aufklärung, wie sie sich vor Fehldiagnosen schützen können und finden, was wirklich hilft.
Die Wissenschaft muß in den Körper hineinhören: Zwei Untersuchungen zum Begriff der psychischen Krankheit
Auf einer Party erzählte eine Sozialarbeiterin kürzlich über ihre dritte Inkarnation. In ihrer ersten sei sie als indische Waise schon nach wenigen Monaten gestorben. Seit dieser Erleuchtung fühle sie sich frei von früheren Schuldgefühlen über die Millionen Kinder, die jährlich aus dem gleichen Grund sterben. Es sei deren Karma, das sie sich auf dem Weg der Seelenwanderung schon vor der Geburt selbst gewählt hätten. Auf die Frage eines Gastes, woher sie die Gewißheit nehme, verwies sie auf ihre früheren Seelen im Kosmos, mit denen sie ständig in Beziehung stehe. "Ihr solltet es alle einmal versuchen, Kontakt mit euren Seelen aufzunehmen." Durch Channeling könne man Botschaften senden und empfangen. Ein geübter Channeler nehme nur dreißig Mark für seine mediale Vermittlung. Ein Scherzbold warf ein, daß eine Fernverbindung ins All wahrscheinlich teurer sei als ein Ortsgespräch.
Für den Fachmann ergeben sich ernstere Fragen. Welche Diagnose würde er bei einem solchen offensichtlichen Unsinn stellen? Aber war die junge Frau überhaupt krank? Sie stand nicht unter Drogen, wirkte innerlich ausgeglichen und stabil. Trotz ihrer irrationalen Gedankenwelt ergab sich daher kein Grund für eine psychiatrische Behandlung, schon gar nicht für eine Einweisung in eine Klinik, da sie weder "fremd- noch selbstgefährdend" war. Außerdem gibt es inzwischen Millionen von sozial gut integrierten Menschen in der westlichen Welt, die ähnlich verrückten Glaubenssystemen anhängen. Im Mittelalter Europas und in den ostasiatischen Ländern der Gegenwart würde keiner eine Besonderheit darin finden. Aber bei uns?
Wolfgang Vollmoeller, Leiter des Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Bochum, geht dem Unbehagen gegenüber psychiatrischen Krankheitsbegriffen und Krankheitszuschreibungen auf den Grund. Nicht als Lehrbuch deklariert, enthält seine Schrift doch eine fundierte Auseinandersetzung mit der Frage, was als "normal" und was als "krank" zu bezeichnen ist. Er setzt bei Hippokrates und Galen an; den Schwerpunkt bildet die kritische Beschäftigung mit der Begriffsbildung der modernen Psychiatrie, die sich mit Beginn dieses Jahrhunderts als eigene medizinische Disziplin etabliert hat.
Vollmoeller führt dem Leser das "Dilemma" dieses Fachgebiets plastisch vor Augen. Die zahllosen Versuche, die noch bis heute unternommen werden, um das schier unerschöpfliche und sich ständig wandelnde Spektrum seelischer Störungsphänomene in diagnostischen Kategorien zu erfassen, scheitern letztlich an deren "Multikonditionalität". Auch wenn man sich in der Praxis auf diesen gemeinsamen Nenner geeinigt hat, geht der Streit weiter, wie das Mischungsverhältnis von biologischen, psychischen, psychosozialen und kulturabhängigen Ursachen zu bewerten ist. Immerhin werden dabei die enormen Fortschritte der Psychiatrie in den letzten drei Jahrzehnten deutlich. Ihr ganzheitliches Konzept psychischer Erkrankungen ermöglicht eine Integration von medikamentösen, psychotherapeutischen und sozialtherapeutischen Behandlungsmethoden.
Ganz anders als Vollmoellers theorie- und methodenkritischer Diskurs über die Schwierigkeiten, den Kosmos der Seele vom Himmel bis zur Hölle zu kartographieren, gehen zwei amerikanische Wissenschaftlerinnen an ihren Gegenstand heran. Susan Swedo, Direktorin am National Institute of Mental Health, und Henrietta Leonard, Professorin für Psychiatrie an der Brown University, schrieben ihr Buch für den praktischen Gebrauch des Laien. Nachdem noch weit bis in die Mitte dieses Jahrhunderts die Biologie in der psychiatrischen Ursachenforschung vorherrschte, sehen die Autorinnen - für Deutschland sicher zu Unrecht - jetzt die Gefahr eines Monopols psychologischer und sozialer Erklärungsmuster. Sie scheinen davon überzeugt zu sein, daß letztlich in jede seelische Erkrankung biologische Faktoren hineinspielen. Die Kapitelüberschrift "Von Freud zur neuen Neuropsychiatrie: eine wissenschaftliche Revolution" macht die konservative Marschrichtung des Buches "zurück zur Biologie" unverhüllt deutlich. Dennoch ist die verständliche Darstellung der häufigsten Krankheitsbilder und die Beschreibung der bisher bekannten biologischen Ursachen für die Orientierung des Laien bei der Suche nach diagnostischer Klärung und therapeutischen Maßnahmen sicher hilfreich. HORST PETRI Wolfgang Vollmoeller: "Was heißt psychisch krank?" Der Krankheitsbegriff in Psychiatrie, Psychotherapie und Forensik. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1998. 283 S., 3 Abb., 4 Tab., br., 78,- DM.
Susan Swedo, Henrietta Leonard: "Alles nur psychisch?" Die körperlichen Ursachen falsch diagnostizierter Beschwerden. Aus dem Amerikanischen von Nicole Hölsken. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1998. 333 S., geb., 48,- DM.
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