Friedrich Carl von Savigny gilt als der bedeutendste deutsche Rechtsgelehrte. Die adlige Herkunft ermöglichte ihm den Zugang zu den höchsten Staatsämtern, sein feinsinniger Intellekt brachte ihn in enge Verbindung zu den maßgeblichen Dichtern der Zeit. Seine Lehre vom Volksgeist als dem Ursprung allen Rechts verband diese beiden Welten: Aus dem Gedankengut der Romantik entwarf er ein Programm, mit dem das alte Naturrecht überwunden und der Weg für eine neue Rechtsordnung gebahnt werden sollte.
Aber so revolutionär seine Wissenschaft auch war, politisch stand er den Fortschritten seiner Zeit ablehnend gegenüber. Beides wirkt bis heute nach: Savignys wissenschaftliches Selbstverständnis prägt die Rechtslehre noch genauso wie seine Skepsis gegenüber politischen Veränderungen. Dieser Spannung zwischen Aufbruch und Stagnation in Leben, Werk und Nachwirken Savignys geht der Essay nach.
Aber so revolutionär seine Wissenschaft auch war, politisch stand er den Fortschritten seiner Zeit ablehnend gegenüber. Beides wirkt bis heute nach: Savignys wissenschaftliches Selbstverständnis prägt die Rechtslehre noch genauso wie seine Skepsis gegenüber politischen Veränderungen. Dieser Spannung zwischen Aufbruch und Stagnation in Leben, Werk und Nachwirken Savignys geht der Essay nach.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
An Literatur über Friedrich Carl von Savigny, den preußischen Gesetzgebungsminister und bedeutenden Juristen, besteht wahrlich kein Mangel, weiß Michael Stolleis. An eins jedoch habe sich bislang noch keiner gewagt, und zwar an eine umfassende Biografie, so der Rezensent, der also höchst erfreut ist, dass sich nun der junge Jurist Benjamin Lahusen der Aufgabe angenommen hat. Zumal es ihm, wie Stolleis findet, überaus gut gelungen ist: kenntnisreich in der Sache, gründlich in der Auswertung der Quellen, dazu meinungsfreudig und pointiert und nicht zuletzt durchaus elegant geschrieben. Auch an aktueller Relevanz lasse Lahusen es nicht fehlen, wobei der Rezensent es dem Autor anrechnet, dass er nicht darauf verfällt, Savigny als Heilsbringer für moderne Rechtsprobleme, etwa als "Retter aus gegenwärtiger Normenflut und Multinormativität" anzupreisen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2013Die Gesetze kommen nicht vom Volk, und sie richten sich auch nicht ans Volk
Der Vater der Juristenaristokratie war eine Geistesgröße mit menschlichem Makel: Benjamin Lahusen porträtiert den berühmten Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny
Warum studiert man in Deutschland nicht das Recht, sondern die Rechtswissenschaft? Womöglich gar im Plural? Das hat natürlich mit Friedrich Carl von Savigny zu tun. Und darum ist es nur folgerichtig, dass Benjamin Lahusen den so nachhaltig wirkenden Rechtsgelehrten in seinem elegant geschriebenen Savigny-Porträt als Chiffre für die ganze moderne Rechtswissenschaft verwendet. "Savignys Name erinnert daran, dass das Recht und seine Gesellschaft in einem beständigen Spannungsverhältnis stehen, dass Lebenswelt und Lebensregeln immer wieder aufs Neue miteinander auszusöhnen sind", resümiert der an der Universität Rostock tätige Rechtshistoriker Lahusen, nachdem er seine Leser in fünf kunstvoll verflochtenen und schön zu lesenden Kapiteln an Leben, Werk und Wirkung des Begründers der "historischen Schule" erinnert hat.
Savigny, der dem deutschen Volksgeist das römische Recht ablauschte und dabei die Vergangenheit ganz in den Dienst der Gegenwart stellte, tritt uns hier als beeindruckende Geistesgröße mit menschlichem Makel entgegen. Als Rechtslehrer entfaltet er eine Anziehungskraft, die ihn weit über Juristenkreise hinaus zum vielbewunderten Wissenschaftler und Starintellektuellen macht; im persönlichen Umgang aber erweist er sich als unnahbare "Studiermaschine", zur leidenschaftlichen Liebe ebenso unfähig wie zur freundschaftlichen Loyalität.
Die Brüder Grimm lauschen seinen Vorlesungen, Karoline von Günderrode bricht er das Herz, Bettine von Arnim und Clemens Brentano sind enge Freunde, Wilhelm von Humboldt holt ihn an seine Reformuniversität nach Berlin - mehr Romantik und Reformgeist konnte man in Deutschland kaum um sich haben. Und doch blieb Savigny ein entschiedener Verfechter der Restauration, "ein Aristokrat an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, der die Forderungen der Neuzeit mit den scheinbar neutralen Mitteln der Wissenschaft bekämpft".
Mit dieser Wissenschaft erhält das Recht, wie Savigny formuliert, ein "selbständiges Daseyn" unter den Disziplinen. Das Recht rekonstruiert er als geschlossenes System, das sich selbst zur Rechtsquelle wird und damit den Gesetzgeber als politischen Akteur verdrängt. Schon in einer seiner ersten Marburger Vorlesungen beschreibt Savigny 1802 die Verbindung von Philosophie und Geschichte zu einer vollendeten juristischen Methode, die dem Rechtsstoff seine Kontingenz auszutreiben vermag. Der Student Jacob Grimm hat das damals protokolliert. Die Jurisprudenz, so Savigny, "ist eine historische Wissenschaft. Sie ist auch eine philosophische. Diese beiden sind nun so zu vereinen; sie muß vollständig historisch und philosophisch zugleich sein".
Die dogmatische Bearbeitung des positiven Rechts, die philosophische Erörterung seiner Legitimation und die historische Analyse seiner Entwicklung treten in Gemeinschaft auf und begründen mit dem Duktus objektiver Wissenschaftlichkeit das internationale Ansehen deutscher Rechtsgelehrsamkeit. Ihre Essenz landet bald zwischen den Buchdeckeln des Bürgerlichen Gesetzbuches, das zum 1. Januar 1900 in Kraft tritt und Geschichte und Philosophie für den Alltag der Juristen entbehrlich macht. Es blieben die Dogmatik, für die Lahusen das Attribut der Wissenschaftlichkeit unangemessen findet - und der Glaube an ein geschlossenes System, den der Autor bis hin zu gegenwärtigen Projekten der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung kritisch verfolgt.
Bei Savigny wurde das Recht elitär: "Die Entfaltung der historischen Rechtsvernunft wird zur Sache einer Juristenaristokratie, die sämtliche politischen Gestaltungsversuche unter Hinweis auf die höhere Sachkunde der eigenen Erkenntnis abwehrt", schreibt Lahusen. "Savigny ermöglicht der Rechtswissenschaft fast ein ganzes Jahrhundert autonomer Rechtsproduktion." Recht wird zur Sache der Eliten, das Abstraktionsprinzip zum nationalen Kulturgut. Ein Paradox: "Ausgerechnet die Lehre vom Volksgeist hat eine Tradition maßgeblich initiiert, in der Gesetze nicht vom Volke kommen und sich nicht ans Volk richten."
Diese undemokratische Tradition sieht Lahusen weiterhin fortgesetzt: "In der wissenschaftlichen Rechtskultur Deutschlands kommunizieren Rechtstechniker mit anderen Rechtstechnikern; das Publikum des Rechts sind die Juristen. Das ist die unweigerliche Nebenfolge einer Jurisprudenz, die die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwaltung von Rechtswissen einer sorgfältig ausgewählten geistigen Elite zuschlägt."
Die autonome Pflicht- und Freiheitsethik Savignys und seiner Erben wirft im Privatrecht politisch brisante Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit auf. Wo private Unternehmen agieren, deren Umsatz das Bruttosozialprodukt vieler Staaten übersteigt, ist "Freiheit nicht Zustand, sondern Auftrag". Die Materialisierung der ehemals streng formalen Rechtsinstitute des Privatrechts im Zeichen von Verbraucherschutz und Nichtdiskriminierung begegnet einer vehementen Kritik, die sich noch immer auf Savignys Fiktion eines "reinen Rechts" bezieht.
"Die Bedeutung Savignys und seiner historischen Rechtsschule für unsere Rechtswelt heute können wir nicht hoch genug einschätzen", schrieb Rudolf Wiethölter 1968 in der Publikation seines HR-Funkkollegs "Rechtswissenschaft". Längst sind Wiethölters schneidend scharfe Beobachtungen Klassiker geworden, und seine Forderung nach nüchterner wissenschaftlicher Reflexion und Kritik des Rechts findet sich selbst in den unlängst veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für die Rechtswissenschaft in Deutschland. Um Wiethölters vielbeschworene "Entzauberung der Rechtswelt" geht es auch bei Lahusen, wenn der Rechtshistoriker mit soziologischer Leidenschaft "die Rechtsvernunft wieder mit der Gesellschaftsvernunft in Einklang bringen will". Um die Juristen zu resozialisieren, seien ihnen die sozialen Folgen ihres Tuns immer wieder vor Augen zu führen. "Der Erwerb von Gesellschaftsfähigkeit bedeutet im Recht eine beständige Rückverunsicherung, welche die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit des Systems langfristig aufbrechen kann."
Diese Rückverunsicherung hat ihren Preis, der von den angehenden Juristen zu zahlen ist - und von deren Lehrern: "Erreichen ließe sie sich nur über einen konkreten Bildungsauftrag, der das juristische Curriculum freilich erheblich erweitern würde. Man bräuchte, kurz gesagt, wieder philosophische Rechtsgelehrte." Also noch mehr Stoff, Wissen und Pflichtprogramm. Oder aber, und das scheint mir vorzugswürdig: Konzentration auf Grundlagen und Strukturen, exemplarisches Studium, reflexive Disziplinarität mit wachem Blick auf die "Nachbarwissenschaften". Denn das geschlossene, auf geordnete Vollständigkeit angelegte System des Rechts war schon zu Savignys Zeiten nur eine Fiktion.
ALEXANDRA KEMMERER
Benjamin Lahusen: "Alles Recht geht vom Volksgeist aus". Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft.
Nicolai Verlag, Berlin 2012. 181 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Vater der Juristenaristokratie war eine Geistesgröße mit menschlichem Makel: Benjamin Lahusen porträtiert den berühmten Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny
Warum studiert man in Deutschland nicht das Recht, sondern die Rechtswissenschaft? Womöglich gar im Plural? Das hat natürlich mit Friedrich Carl von Savigny zu tun. Und darum ist es nur folgerichtig, dass Benjamin Lahusen den so nachhaltig wirkenden Rechtsgelehrten in seinem elegant geschriebenen Savigny-Porträt als Chiffre für die ganze moderne Rechtswissenschaft verwendet. "Savignys Name erinnert daran, dass das Recht und seine Gesellschaft in einem beständigen Spannungsverhältnis stehen, dass Lebenswelt und Lebensregeln immer wieder aufs Neue miteinander auszusöhnen sind", resümiert der an der Universität Rostock tätige Rechtshistoriker Lahusen, nachdem er seine Leser in fünf kunstvoll verflochtenen und schön zu lesenden Kapiteln an Leben, Werk und Wirkung des Begründers der "historischen Schule" erinnert hat.
Savigny, der dem deutschen Volksgeist das römische Recht ablauschte und dabei die Vergangenheit ganz in den Dienst der Gegenwart stellte, tritt uns hier als beeindruckende Geistesgröße mit menschlichem Makel entgegen. Als Rechtslehrer entfaltet er eine Anziehungskraft, die ihn weit über Juristenkreise hinaus zum vielbewunderten Wissenschaftler und Starintellektuellen macht; im persönlichen Umgang aber erweist er sich als unnahbare "Studiermaschine", zur leidenschaftlichen Liebe ebenso unfähig wie zur freundschaftlichen Loyalität.
Die Brüder Grimm lauschen seinen Vorlesungen, Karoline von Günderrode bricht er das Herz, Bettine von Arnim und Clemens Brentano sind enge Freunde, Wilhelm von Humboldt holt ihn an seine Reformuniversität nach Berlin - mehr Romantik und Reformgeist konnte man in Deutschland kaum um sich haben. Und doch blieb Savigny ein entschiedener Verfechter der Restauration, "ein Aristokrat an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, der die Forderungen der Neuzeit mit den scheinbar neutralen Mitteln der Wissenschaft bekämpft".
Mit dieser Wissenschaft erhält das Recht, wie Savigny formuliert, ein "selbständiges Daseyn" unter den Disziplinen. Das Recht rekonstruiert er als geschlossenes System, das sich selbst zur Rechtsquelle wird und damit den Gesetzgeber als politischen Akteur verdrängt. Schon in einer seiner ersten Marburger Vorlesungen beschreibt Savigny 1802 die Verbindung von Philosophie und Geschichte zu einer vollendeten juristischen Methode, die dem Rechtsstoff seine Kontingenz auszutreiben vermag. Der Student Jacob Grimm hat das damals protokolliert. Die Jurisprudenz, so Savigny, "ist eine historische Wissenschaft. Sie ist auch eine philosophische. Diese beiden sind nun so zu vereinen; sie muß vollständig historisch und philosophisch zugleich sein".
Die dogmatische Bearbeitung des positiven Rechts, die philosophische Erörterung seiner Legitimation und die historische Analyse seiner Entwicklung treten in Gemeinschaft auf und begründen mit dem Duktus objektiver Wissenschaftlichkeit das internationale Ansehen deutscher Rechtsgelehrsamkeit. Ihre Essenz landet bald zwischen den Buchdeckeln des Bürgerlichen Gesetzbuches, das zum 1. Januar 1900 in Kraft tritt und Geschichte und Philosophie für den Alltag der Juristen entbehrlich macht. Es blieben die Dogmatik, für die Lahusen das Attribut der Wissenschaftlichkeit unangemessen findet - und der Glaube an ein geschlossenes System, den der Autor bis hin zu gegenwärtigen Projekten der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung kritisch verfolgt.
Bei Savigny wurde das Recht elitär: "Die Entfaltung der historischen Rechtsvernunft wird zur Sache einer Juristenaristokratie, die sämtliche politischen Gestaltungsversuche unter Hinweis auf die höhere Sachkunde der eigenen Erkenntnis abwehrt", schreibt Lahusen. "Savigny ermöglicht der Rechtswissenschaft fast ein ganzes Jahrhundert autonomer Rechtsproduktion." Recht wird zur Sache der Eliten, das Abstraktionsprinzip zum nationalen Kulturgut. Ein Paradox: "Ausgerechnet die Lehre vom Volksgeist hat eine Tradition maßgeblich initiiert, in der Gesetze nicht vom Volke kommen und sich nicht ans Volk richten."
Diese undemokratische Tradition sieht Lahusen weiterhin fortgesetzt: "In der wissenschaftlichen Rechtskultur Deutschlands kommunizieren Rechtstechniker mit anderen Rechtstechnikern; das Publikum des Rechts sind die Juristen. Das ist die unweigerliche Nebenfolge einer Jurisprudenz, die die ausschließliche Zuständigkeit für die Verwaltung von Rechtswissen einer sorgfältig ausgewählten geistigen Elite zuschlägt."
Die autonome Pflicht- und Freiheitsethik Savignys und seiner Erben wirft im Privatrecht politisch brisante Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit auf. Wo private Unternehmen agieren, deren Umsatz das Bruttosozialprodukt vieler Staaten übersteigt, ist "Freiheit nicht Zustand, sondern Auftrag". Die Materialisierung der ehemals streng formalen Rechtsinstitute des Privatrechts im Zeichen von Verbraucherschutz und Nichtdiskriminierung begegnet einer vehementen Kritik, die sich noch immer auf Savignys Fiktion eines "reinen Rechts" bezieht.
"Die Bedeutung Savignys und seiner historischen Rechtsschule für unsere Rechtswelt heute können wir nicht hoch genug einschätzen", schrieb Rudolf Wiethölter 1968 in der Publikation seines HR-Funkkollegs "Rechtswissenschaft". Längst sind Wiethölters schneidend scharfe Beobachtungen Klassiker geworden, und seine Forderung nach nüchterner wissenschaftlicher Reflexion und Kritik des Rechts findet sich selbst in den unlängst veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für die Rechtswissenschaft in Deutschland. Um Wiethölters vielbeschworene "Entzauberung der Rechtswelt" geht es auch bei Lahusen, wenn der Rechtshistoriker mit soziologischer Leidenschaft "die Rechtsvernunft wieder mit der Gesellschaftsvernunft in Einklang bringen will". Um die Juristen zu resozialisieren, seien ihnen die sozialen Folgen ihres Tuns immer wieder vor Augen zu führen. "Der Erwerb von Gesellschaftsfähigkeit bedeutet im Recht eine beständige Rückverunsicherung, welche die Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit des Systems langfristig aufbrechen kann."
Diese Rückverunsicherung hat ihren Preis, der von den angehenden Juristen zu zahlen ist - und von deren Lehrern: "Erreichen ließe sie sich nur über einen konkreten Bildungsauftrag, der das juristische Curriculum freilich erheblich erweitern würde. Man bräuchte, kurz gesagt, wieder philosophische Rechtsgelehrte." Also noch mehr Stoff, Wissen und Pflichtprogramm. Oder aber, und das scheint mir vorzugswürdig: Konzentration auf Grundlagen und Strukturen, exemplarisches Studium, reflexive Disziplinarität mit wachem Blick auf die "Nachbarwissenschaften". Denn das geschlossene, auf geordnete Vollständigkeit angelegte System des Rechts war schon zu Savignys Zeiten nur eine Fiktion.
ALEXANDRA KEMMERER
Benjamin Lahusen: "Alles Recht geht vom Volksgeist aus". Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft.
Nicolai Verlag, Berlin 2012. 181 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2013Zurück zu
Savigny?
Ein kluges Porträt des Fürsten
der Rechtswissenschaft
Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) – unbestritten der berühmteste deutsche Jurist, Zeitgenosse von Kant, Goethe und Schiller, Mozart, Beethoven und den Brüdern Humboldt, Schwager von Clemens Brentano und Bettine von Arnim, konservativer Aristokrat, glänzender Lehrer und Autor, Wissenschaftsorganisator, preußischer Gesetzgebungsminister, hochverehrt und vielfach geehrt, aber auch als kalt und eitel geschmäht. Er machte die Jurisprudenz zur „Rechtswissenschaft“ im modernen Sinn und begründete deren Historische Schule, war skeptisch gegenüber einer verfrühten Gesetzgebung, führte aber die deutsche Wissenschaft des römischen Privatrechts zu Weltruhm. Aus der Jurisprudenz des klassischen Rom entwarf er, die Philosophie und den Sprachduktus seiner Zeit nutzend, das dem 19. Jahrhundert gemäße Rechtssystem, das von seinen Nachfolgern ausgearbeitet und weiter systematisiert dann in das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 eingebracht wurde.
Die Literatur über Savigny hat immense Dimensionen angenommen. Kein Rechtshistoriker oder Rechtstheoretiker kommt an ihm vorbei. Es gibt subtile Untersuchungen über Savignys philosophische Lehrjahre (Dieter Nörr), über den Zusammenhang von Idealismus, Jurisprudenz und Politik (Joachim Rückert), immer erneute Interpretationen der Haupt- und Nebenwerke. An die große Biografie, die alle Stufen der persönlichen Entwicklung, alles Werden und Wirken ausgewertet hätte, einschließlich der in Marburg verwahrten Nachlasspapiere und der Zeugnisse von Zeitgenossen, hat sich aber bisher noch niemand gewagt. Möglicherweise ist gerade die Fülle des heutigen Wissens über ihn das eigentliche Hindernis. Nun aber kommt ein unbefangener junger Autor daher und schreibt ein frisches und kluges biografisches Buch über diesen Fürsten der Rechtswissenschaft. Es ist gewiss nicht erschöpfend, aber im historischen Zugriff doch wieder umfassend. Lahusen geht nicht alle rechtsdogmatischen Spezialfragen durch, sondern zeigt dieses außergewöhnliche Juristenleben im Zusammenhang der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der Restauration nach dem Wiener Kongress bis in die späten Jahre nach 1848. Man kann hier Savigny zuschauen bei seinem raschen Studium, bei den Bildungsreisen und ersten Erfolgen, den akademischen Stationen in Marburg, Landshut und Berlin sowie den politischen Ämtern, unter denen er aber, unzeitgemäß werdend, eher litt. Gewürdigt werden natürlich die Hauptwerke, „Das Recht des Besitzes“ (1803), die ebenso berühmte rechtspolitische Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814), die gelehrte „Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter“ (1815–1831) und das große „System des heutigen Römischen Rechts“ (1840–1849). Wir erleben auch den romantischen Freundeskreis, das Wirken in Berlin, die labile Gesundheit und die resignativen Töne am Ende des Lebens. Das alles könnte auf breitem Raum weiter ausgemalt und vertieft werden. Aber darum geht es hier nicht.
Was Lahusens Buch besonders lesenswert macht, ist das literarische Geschick, mit dem Savignys Lebensleistung auch in ihren problematischen Seiten in den Kontext der Rechtsfragen des 20. und 21. Jahrhunderts gestellt wird. Gibt es etwa ein „Zurück zu Savigny“ in Fragen der Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts oder bei der Rekonstruktion eines inneren Systems unseres ganzen Rechts? Ist nicht das Lauschen der Juristen auf die Stimme des „Volksgeistes“ nur eine romantische Legitimierung der Rechtswissenschaft gegenüber moderner Gesetzgebung und heute ganz unbrauchbar? Und lauerte nicht schon damals, wenn auch unsichtbar, hinter dem „Volksgeist“ die rechtszerstörerische Formel vom „gesunden Volksempfinden“? Ist nicht die von ihm vorausgesetzte Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht in den Stürmen zweier Weltkriege und im Interventionsstaat der Moderne längst untergegangen? Lahusen pointiert dies alles, verbirgt auch seine eigene Meinung nicht, unterstreicht aber Savignys historischen Rang, indem er die philosophische und politische Zeitbedingtheit und die erstaunliche Lebensleistung dieses Gelehrten in Balance hält. Es gelingt ihm, auf dem begrenzten Raum von
150 Seiten ein Porträt zu entwerfen, das Savigny weder aus heutiger Perspektive belehrt noch ihn gar als Retter aus gegenwärtiger Normenflut und Multinormativität anpreist. Gerade die weiterführenden Reflexionen in die moderne Rechtswelt, die mit Spannung und Vergnügen lesbar sind, machen den Reiz dieser knappen Biografie aus. Den Nichtjuristen sei versichert: Weder der historische Stoff noch Lahusens Sprache sind von der den Juristen nachgesagten Sprödigkeit. Es geht vielmehr um ein bedeutendes und lebendiges Stück deutscher und internationaler Geistesgeschichte.
MICHAEL STOLLEIS
Was unterscheidet „Volksgeist“
vom „gesunden Volksempfinden“?
Benjamin Lahusen:
Alles Recht geht vom Volksgeist aus. Friedrich Carl von Savigny und
die moderne Rechts-
wissenschaft.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2012.
181 Seiten, 22,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Savigny?
Ein kluges Porträt des Fürsten
der Rechtswissenschaft
Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861) – unbestritten der berühmteste deutsche Jurist, Zeitgenosse von Kant, Goethe und Schiller, Mozart, Beethoven und den Brüdern Humboldt, Schwager von Clemens Brentano und Bettine von Arnim, konservativer Aristokrat, glänzender Lehrer und Autor, Wissenschaftsorganisator, preußischer Gesetzgebungsminister, hochverehrt und vielfach geehrt, aber auch als kalt und eitel geschmäht. Er machte die Jurisprudenz zur „Rechtswissenschaft“ im modernen Sinn und begründete deren Historische Schule, war skeptisch gegenüber einer verfrühten Gesetzgebung, führte aber die deutsche Wissenschaft des römischen Privatrechts zu Weltruhm. Aus der Jurisprudenz des klassischen Rom entwarf er, die Philosophie und den Sprachduktus seiner Zeit nutzend, das dem 19. Jahrhundert gemäße Rechtssystem, das von seinen Nachfolgern ausgearbeitet und weiter systematisiert dann in das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 eingebracht wurde.
Die Literatur über Savigny hat immense Dimensionen angenommen. Kein Rechtshistoriker oder Rechtstheoretiker kommt an ihm vorbei. Es gibt subtile Untersuchungen über Savignys philosophische Lehrjahre (Dieter Nörr), über den Zusammenhang von Idealismus, Jurisprudenz und Politik (Joachim Rückert), immer erneute Interpretationen der Haupt- und Nebenwerke. An die große Biografie, die alle Stufen der persönlichen Entwicklung, alles Werden und Wirken ausgewertet hätte, einschließlich der in Marburg verwahrten Nachlasspapiere und der Zeugnisse von Zeitgenossen, hat sich aber bisher noch niemand gewagt. Möglicherweise ist gerade die Fülle des heutigen Wissens über ihn das eigentliche Hindernis. Nun aber kommt ein unbefangener junger Autor daher und schreibt ein frisches und kluges biografisches Buch über diesen Fürsten der Rechtswissenschaft. Es ist gewiss nicht erschöpfend, aber im historischen Zugriff doch wieder umfassend. Lahusen geht nicht alle rechtsdogmatischen Spezialfragen durch, sondern zeigt dieses außergewöhnliche Juristenleben im Zusammenhang der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der Restauration nach dem Wiener Kongress bis in die späten Jahre nach 1848. Man kann hier Savigny zuschauen bei seinem raschen Studium, bei den Bildungsreisen und ersten Erfolgen, den akademischen Stationen in Marburg, Landshut und Berlin sowie den politischen Ämtern, unter denen er aber, unzeitgemäß werdend, eher litt. Gewürdigt werden natürlich die Hauptwerke, „Das Recht des Besitzes“ (1803), die ebenso berühmte rechtspolitische Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814), die gelehrte „Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter“ (1815–1831) und das große „System des heutigen Römischen Rechts“ (1840–1849). Wir erleben auch den romantischen Freundeskreis, das Wirken in Berlin, die labile Gesundheit und die resignativen Töne am Ende des Lebens. Das alles könnte auf breitem Raum weiter ausgemalt und vertieft werden. Aber darum geht es hier nicht.
Was Lahusens Buch besonders lesenswert macht, ist das literarische Geschick, mit dem Savignys Lebensleistung auch in ihren problematischen Seiten in den Kontext der Rechtsfragen des 20. und 21. Jahrhunderts gestellt wird. Gibt es etwa ein „Zurück zu Savigny“ in Fragen der Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts oder bei der Rekonstruktion eines inneren Systems unseres ganzen Rechts? Ist nicht das Lauschen der Juristen auf die Stimme des „Volksgeistes“ nur eine romantische Legitimierung der Rechtswissenschaft gegenüber moderner Gesetzgebung und heute ganz unbrauchbar? Und lauerte nicht schon damals, wenn auch unsichtbar, hinter dem „Volksgeist“ die rechtszerstörerische Formel vom „gesunden Volksempfinden“? Ist nicht die von ihm vorausgesetzte Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht in den Stürmen zweier Weltkriege und im Interventionsstaat der Moderne längst untergegangen? Lahusen pointiert dies alles, verbirgt auch seine eigene Meinung nicht, unterstreicht aber Savignys historischen Rang, indem er die philosophische und politische Zeitbedingtheit und die erstaunliche Lebensleistung dieses Gelehrten in Balance hält. Es gelingt ihm, auf dem begrenzten Raum von
150 Seiten ein Porträt zu entwerfen, das Savigny weder aus heutiger Perspektive belehrt noch ihn gar als Retter aus gegenwärtiger Normenflut und Multinormativität anpreist. Gerade die weiterführenden Reflexionen in die moderne Rechtswelt, die mit Spannung und Vergnügen lesbar sind, machen den Reiz dieser knappen Biografie aus. Den Nichtjuristen sei versichert: Weder der historische Stoff noch Lahusens Sprache sind von der den Juristen nachgesagten Sprödigkeit. Es geht vielmehr um ein bedeutendes und lebendiges Stück deutscher und internationaler Geistesgeschichte.
MICHAEL STOLLEIS
Was unterscheidet „Volksgeist“
vom „gesunden Volksempfinden“?
Benjamin Lahusen:
Alles Recht geht vom Volksgeist aus. Friedrich Carl von Savigny und
die moderne Rechts-
wissenschaft.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2012.
181 Seiten, 22,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de