Im Mittelpunkt der fotografischen Arbeiten von Sepp Dreissinger steht das Portrait. In dieser Fotoserie über Theaterschauspieler aus dem deutschen Sprachraum drückt sich seine persönliche fotografische Besessenheit aus. Dreissinger plaudert mit den Darstellern, gibt ihnen die Möglichkeit zur Selbstinszenierung. Entstanden ist eine Fotogalerie berühmter Theatergesichter: von Bernhard Minetti über Klaus Maria Brandauer bis hin zu Klaus Kinski und Loriot.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerhard Stadelmaier muss erst ein bißchen zu den Bildern dazu dichten, um in Rezensentenstimmung zu kommen. Zu nüchtern sind ihm Sepp Dreissingers Fotografien berühmter Theaterleute: "rührend, aber gleichgültig fremd". Daß jedem Bild, dass einen Schauspieler als Privatperson zeige, ein Szenenbild gegenübergestellt sei, mache jedoch "dass man dauernd aufatmet bei diesem Bilderbuch."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Ganz gewiss wird der frische, in sich versunkene, leicht monalisahaft lächelnde Herr Voss, den man auf unserem Foto sieht, gleich morgen in die Garderobe des Wiener Akademietheaters gehen, sich umziehen, etwas schminken, Maske machen und dann womöglich als extrovertierter, verbrauchter, unter Umständen mürrischer, vielleicht melancholischer, vielleicht auch witziger, auf jeden Fall aber "berühmter" Schriftsteller Trigorin auf die Bühne treten, worauf sich die ganze Theaterwelt schon sehr freut - und dann wird er uns mitten aus Tschechows "Möwen"-Schwarm heraus anschauen. Dann erst wird aus Herrn Voss der Schauspieler Gert Voss, dann spricht er auch, dann macht er aus seinen Augen, seinem Mund, seiner Stirn, seinem Hirn und Herzen eine Bühne. Dann erst fängt er (für uns) an zu leben, uns zu interessieren, zu uns zu sprechen. Hier, am rechten, dunklen Bildrand einer Fotografie des bestimmt ganz wunderbaren Lichtbildkünstlers Sepp Dreissinger geht Herr Voss allenfalls seine Frau oder seine Tochter etwas an. Er zeigt schon ein noch schönes, reifes, ein bisschen zerklüftetes Gesicht, aber privat. Und bedeutungslos. Wie Schauspieler und Theaterleute ausschauen, wenn sie wie Claus Peymann vor Mauern stehen, wie Udo Samel den Arm auf einen Lampenpfahl stützen, wie Harald Juhnke eine Teetasse halten, wie Dörte Lyssewski vor einem Wellblechgaragenrollgitter posieren, wie Andrea Clausen in einen Spiegel schauen oder wie Libgart Schwarz ihren Hinterkopf leicht an eine Mauer drücken, kann uns gleichgültig lassen. Oder anders gesagt: Schauspieler sind furchtbar, wenn sie uninszeniert sind. Selbst unsere allergrößten Lieblinge verlieren im Kaffeehaus gewaltig an Größe, von der gekachelten Toilettenwand (Sophie Rois) oder der Feuerleiter (Traugott Buhre) ganz zu schweigen. Ein Schauspielergesicht wird erst zum Gesicht, wenn es spielt. Die Gesichter, die Dreissinger, schon ein Fotograf der Innigkeit und noblen Einfühlung, abbildet, bleiben: rührend, aber gleichgültig-fremd. Dass jedem Privatbild ein Szenenbild des betreffenden Schauspielkünstlers, meist aus der Kamera eines anderen Fotografen, gegenübergestellt ist, macht, dass man dauernd aufatmet bei diesem Bilderbuch: Libgart Schwarz als das Irrwisch-Wunderwesen Marie Steuber in "Die Zeit und das Zimmer" (Foto: Ruth Walz) schlägt die Mauer-Schwarz um Längen. Und der wütend-witzig seine Augen aus den Höhlen treibende Gert Voss als Krapp im "Letztem Band" (Foto: Margit Münster), damit beschäftigt, sein Leben scharf und kalt und höhnisch zu rezensieren, ist für uns der wahrere Voss als der Bildrandhocker von gegenüber. Und nur Brandauer wirkt privat sehr viel interessanter denn als Cyrano von Bergerac (Foto: Reinhard Werner). Aber Braundauer spielt ja auch immer nur sich selbst. (Sepp Dreissinger: "Alles Theater". 111 Schauspieler & Theaterszenen. Deuticke Verlag, München, Wien 2000. 245 S., geb., 95,- DM.)
GERHARD STADELMAIER
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