Einzigartige Einblicke in eine historische Krise und die Art, wie wir mit ihr umgegangen sind
Die Pandemie ist vorbei - aber ihre unbedingt notwendige Aufarbeitung steht nach wie vor aus. Seit die Gefährlichkeit des Virus schwindet, erlahmt das Interesse daran, die Rolle von Politik, Wissenschaft und Medien bei der Bewältigung der Pandemie kritisch zu hinterfragen. Doch nur die Bereitschaft, Rechenschaft abzulegen und gefühlten Wahrheiten Fakten entgegenzustellen, wird uns helfen, die wirklich entscheidenden Lehren daraus zu ziehen, um weitere Gesundheitskatastrophen möglichst zu vermeiden.
Die Pandemie ist vorbei - aber ihre unbedingt notwendige Aufarbeitung steht nach wie vor aus. Seit die Gefährlichkeit des Virus schwindet, erlahmt das Interesse daran, die Rolle von Politik, Wissenschaft und Medien bei der Bewältigung der Pandemie kritisch zu hinterfragen. Doch nur die Bereitschaft, Rechenschaft abzulegen und gefühlten Wahrheiten Fakten entgegenzustellen, wird uns helfen, die wirklich entscheidenden Lehren daraus zu ziehen, um weitere Gesundheitskatastrophen möglichst zu vermeiden.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Volkart Wildermuth folgt dem Gespräch zwischen dem Virologen Christian Drosten und dem Journalisten Georg Mascolo über die Corona-Pandemie mit Spannung. Dabei gehen die beiden nicht vom heutigen Wissensstand aus, sondern schauen zurück auf die Dynamiken von 2020/21, erklärt der Rezensent. Drosten kritisiert die Medien für ihre Polarisierungen, Mascolo die Politik für Geheimniskrämerei, so Wildermuth, der einiges im Band überraschend und vieles interessant findet. Richtig glücklich wird er dennoch nicht damit. Einmal, weil nichts wirklich ausdiskutiert wird, und dann, weil nur zwei Personen reden. Für eine systematische Analyse der Pandemie viel zu wenig, findet Wildermuth.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2024Anfang vom Ende
Die Aufarbeitung der Pandemie beginnt
Inzidenz, 2G, Impfpflicht, Masken auf der Parkbank. Schon diese Begriffe zu lesen weckt Widerwillen. Wut, Angst und ein Gefühl von Surrealität werden wach bei dem Gedanken an die Pandemiejahre. Viele Menschen wollen diese Zeit am liebsten vergessen - auch Politiker. Theoretisch ist klar: Man muss die Pandemie aufarbeiten und Lehren für die Zukunft ziehen. Eilig haben es die Verantwortlichen nicht, ihre Entscheidungen zu evaluieren. Dafür gibt es nun einzelne persönliche Aufarbeitungen.
Jens Spahn hat aus seinem Satz "Wir werden einander viel verzeihen müssen" schon 2022 ein Buch gemacht. Diese Woche erscheint "Alles überstanden?" von Virologe Christian Drosten und dem ehemaligen Chefredakteur des "Spiegels", Georg Mascolo. In Gesprächsform rekapitulieren sie auf rund 240 Seiten die politischen Maßnahmen, die Labor-Theorie und die Rolle der Medien.
Eine Abrechnung ist das Buch nicht, auch keine Selbstgeißelung. Drosten betont, es handele sich bei dem Virus um eine Naturkatastrophe. Wenn er spricht, entsteht das Bild eines Wissenschaftlers, der bereit war, als Experte zu beraten, aber eigentlich nur seiner Arbeit nachgehen wollte und keine Verantwortung hatte. Vorwürfe macht er den Medien, die Informationen vereinfacht und hochstilisiert hätten - inklusive des Hypes um seine eigene Person. "Auch das habe ich mir nicht gewünscht", sagt er zu seinem Porträt auf der Titelseite des "Spiegels" im Mai 2020. Seine Kritik sei "eine Aufforderung an die Medien, vorbehaltlos und souverän auf ihre eigene Rolle in der Pandemie zurückzuschauen".
Von der Politik fühlte er sich offenkundig instrumentalisiert. "Ich frage mich inzwischen, ob sie die Verantwortung für ihre Entscheidungen auf mich abwälzen wollten." Beispiel: Schulschließungen. In Deutschland waren Schulen und Kitas zu lange dicht. Eine ganze Generation trägt Lerndefizite und psychisches Leid davon. Drosten wurde als Verantwortlicher dargestellt. Doch er habe nie pauschale Schulschließungen gefordert. Er war von dieser Maßnahme im Frühjahr 2020 selbst überrascht. Das sei "nicht der Tenor der Beratung gewesen".
Doch im Buch räumt Drosten auch ein: Die Bildungschancen der Kinder standen nicht im Fokus. "Wir hatten vor allem die alten Menschen im Blick", sagt Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, in der Sendung von Maybrit Illner am 27. Juni zum "Corona-Schock - eine Pandemie und die Folgen". Hier wird immer wieder betont, wie wenig man zu Beginn der Pandemie über das Virus gewusst habe. "Wir wussten auch nicht, wie sich das weiterentwickelt", sagt Dreyer. Fraglich ist, ob diese Erklärung die drei Jahre Pandemiepolitik rechtfertigen kann. Den Wissenschaftlern wurde dabei offenbar weniger Gehör geschenkt, als es den Anschein hatte. Drosten sagt in Illners Sendung: "Die Papiere sind geschrieben worden, aber sie sind nicht gelesen worden." Die Leopoldina habe etwa schon früh auf die Schutzbedürftigkeit der Kinder hingewiesen.
Sowohl Drostens und Mascolos Buch als auch die Talkrunde bei Illner geben Einblicke, wie die Politik agierte: chaotisch, informell, intransparent, ohne wissenschaftliche Legitimation. So schienen die Kanzlerin und jeder Ministerpräsident eigene Berater zu haben. Eine gemeinsame wissenschaftliche Grundlage hat gefehlt. Protokolle gibt es zu diesen Beratergesprächen keine. Dreyer findet, ein Problem bei einer Aufarbeitung sei, dass es zu viel um die Fragen ging: "Was ist schiefgegangen? Wer hat Schuld?" Doch wie solle man lernen, wenn die Fehler nicht benannt werden? Wer Verantwortung übernimmt, muss seine Entscheidungen rechtfertigen.
Mittlerweile ist die aktuelle Regierung dazu bereit. Seit mehreren Wochen wird gekabbelt, wie am besten aufgearbeitet werden soll. Der Kanzler schlägt im Sommerinterview mit der ARD Bürgerräte vor. Dabei beraten sich zufällig ausgewählte Menschen und geben der Politik unverbindliche Empfehlungen. So können persönliche Schicksale gehört werden, doch Bürgerräte haben die Durchschlagskraft von Pusteblumen. Die Liberalen und die Grünen fordern eine Enquetekommission. Abgeordnete und Experten aus der Wissenschaft beraten darin gemeinsam und legen einen Abschlussbericht vor. Wahrscheinlich wird es beides geben, Bürgerräte und eine Enquetekommission. Die Frage ist nur wann. JOHANNA KUROCZIK
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Die Aufarbeitung der Pandemie beginnt
Inzidenz, 2G, Impfpflicht, Masken auf der Parkbank. Schon diese Begriffe zu lesen weckt Widerwillen. Wut, Angst und ein Gefühl von Surrealität werden wach bei dem Gedanken an die Pandemiejahre. Viele Menschen wollen diese Zeit am liebsten vergessen - auch Politiker. Theoretisch ist klar: Man muss die Pandemie aufarbeiten und Lehren für die Zukunft ziehen. Eilig haben es die Verantwortlichen nicht, ihre Entscheidungen zu evaluieren. Dafür gibt es nun einzelne persönliche Aufarbeitungen.
Jens Spahn hat aus seinem Satz "Wir werden einander viel verzeihen müssen" schon 2022 ein Buch gemacht. Diese Woche erscheint "Alles überstanden?" von Virologe Christian Drosten und dem ehemaligen Chefredakteur des "Spiegels", Georg Mascolo. In Gesprächsform rekapitulieren sie auf rund 240 Seiten die politischen Maßnahmen, die Labor-Theorie und die Rolle der Medien.
Eine Abrechnung ist das Buch nicht, auch keine Selbstgeißelung. Drosten betont, es handele sich bei dem Virus um eine Naturkatastrophe. Wenn er spricht, entsteht das Bild eines Wissenschaftlers, der bereit war, als Experte zu beraten, aber eigentlich nur seiner Arbeit nachgehen wollte und keine Verantwortung hatte. Vorwürfe macht er den Medien, die Informationen vereinfacht und hochstilisiert hätten - inklusive des Hypes um seine eigene Person. "Auch das habe ich mir nicht gewünscht", sagt er zu seinem Porträt auf der Titelseite des "Spiegels" im Mai 2020. Seine Kritik sei "eine Aufforderung an die Medien, vorbehaltlos und souverän auf ihre eigene Rolle in der Pandemie zurückzuschauen".
Von der Politik fühlte er sich offenkundig instrumentalisiert. "Ich frage mich inzwischen, ob sie die Verantwortung für ihre Entscheidungen auf mich abwälzen wollten." Beispiel: Schulschließungen. In Deutschland waren Schulen und Kitas zu lange dicht. Eine ganze Generation trägt Lerndefizite und psychisches Leid davon. Drosten wurde als Verantwortlicher dargestellt. Doch er habe nie pauschale Schulschließungen gefordert. Er war von dieser Maßnahme im Frühjahr 2020 selbst überrascht. Das sei "nicht der Tenor der Beratung gewesen".
Doch im Buch räumt Drosten auch ein: Die Bildungschancen der Kinder standen nicht im Fokus. "Wir hatten vor allem die alten Menschen im Blick", sagt Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, in der Sendung von Maybrit Illner am 27. Juni zum "Corona-Schock - eine Pandemie und die Folgen". Hier wird immer wieder betont, wie wenig man zu Beginn der Pandemie über das Virus gewusst habe. "Wir wussten auch nicht, wie sich das weiterentwickelt", sagt Dreyer. Fraglich ist, ob diese Erklärung die drei Jahre Pandemiepolitik rechtfertigen kann. Den Wissenschaftlern wurde dabei offenbar weniger Gehör geschenkt, als es den Anschein hatte. Drosten sagt in Illners Sendung: "Die Papiere sind geschrieben worden, aber sie sind nicht gelesen worden." Die Leopoldina habe etwa schon früh auf die Schutzbedürftigkeit der Kinder hingewiesen.
Sowohl Drostens und Mascolos Buch als auch die Talkrunde bei Illner geben Einblicke, wie die Politik agierte: chaotisch, informell, intransparent, ohne wissenschaftliche Legitimation. So schienen die Kanzlerin und jeder Ministerpräsident eigene Berater zu haben. Eine gemeinsame wissenschaftliche Grundlage hat gefehlt. Protokolle gibt es zu diesen Beratergesprächen keine. Dreyer findet, ein Problem bei einer Aufarbeitung sei, dass es zu viel um die Fragen ging: "Was ist schiefgegangen? Wer hat Schuld?" Doch wie solle man lernen, wenn die Fehler nicht benannt werden? Wer Verantwortung übernimmt, muss seine Entscheidungen rechtfertigen.
Mittlerweile ist die aktuelle Regierung dazu bereit. Seit mehreren Wochen wird gekabbelt, wie am besten aufgearbeitet werden soll. Der Kanzler schlägt im Sommerinterview mit der ARD Bürgerräte vor. Dabei beraten sich zufällig ausgewählte Menschen und geben der Politik unverbindliche Empfehlungen. So können persönliche Schicksale gehört werden, doch Bürgerräte haben die Durchschlagskraft von Pusteblumen. Die Liberalen und die Grünen fordern eine Enquetekommission. Abgeordnete und Experten aus der Wissenschaft beraten darin gemeinsam und legen einen Abschlussbericht vor. Wahrscheinlich wird es beides geben, Bürgerräte und eine Enquetekommission. Die Frage ist nur wann. JOHANNA KUROCZIK
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"Wohltuend unaufgeregt im Ton, überzeugend in der Sache, bestechend in der Argumentation: ein notwendiges Sachbuch." Denis Scheck Der Tagesspiegel 20240802