Die Mehrheit der im vorliegenden Sammelband enthaltenen Beiträge entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramms „Transformationen der europäischen Expansion vom 15.-20. Jahrhundert – Untersuchungen zur kognitiven Interaktion von europäischen mit außereuropäischen Gesellschaften“. Die Autoren gehen von der Überlegung aus, dass die vieldiskutierte Krise der staatlichen Gewalt in Afrika durch die Auswirkungen der Globalisierung den zu beobachtenden Phänomenen nicht gerecht wird. Sie sehen nicht das Ende von territorialen Flächenstaaten, sondern einen Aufbruch der Gesellschaften aus den Überbleibseln der überkommenen kolonialen und darauf aufbauenden postkolonialen Machtstrukturen. Um den gegenwärtigen Zustand zu beleuchten, zeichnen die Autoren beispielhaft einige spezifische Momente in der kolonialen Periode Tansanias nach, an denen sich die zentrale Stellung der sozialen Disziplinierungsanstrengungen kolonialer Verwaltung und die Reaktionen und Ausweichstrategien der kolonialen Untertanen ablesen und verfolgen lässt. Dabei erweist sich, dass die Eingliederung afrikanischer Gesellschaften in den kolonialen Machtaufbau nie ein unilateraler Prozess war, sondern ein komplexes Spiel verschiedenster Kräfte. Daher wird auch verständlich, dass das erstrebte Ziel aller kolonialen Maßnahmen und Disziplinierung, die Etablierung eines rational-bürokratischen Verwaltungsstaates wie in Europa, selbst am Ende der Kolonialzeit immer noch in weiter Ferne lag. Der Grund für die Brüchigkeit der bürokratischen kolonialen Utopie und ihr Verweis auf ein immerwährendes Morgen war ihr Widerspruch zu dem Alltagshandeln der Vertreter der Kolonialadministration, das häufig durch Gewalt und Willkür geprägt war. Eine zentrale Rolle spielten bei den Disziplinierungsprozessen die Körper-, Zeit- und Raumvorstellungen der Beteiligten, auf die in Schulunterricht und im militärischen Bereich besonderes Augenmerk gelegt wurde. Hier fand auch Heranbildung der Schicht von loyalen einheimischen Hilfskräften statt, ohne die die Durchsetzung und Anwendung von kolonialer Macht nicht möglich gewesen wäre. Allerdings ist zu fragen, inwieweit diese ihr erworbenes Wissen und die neuen Verhaltensnormen wirklich rezipierten und in ihren Funktionen als „Cultural Brokers“ weitergaben, oder ob sich nicht andere Elemente des alltäglichen Lebens, etwa einheimische Tradition oder gerade europäische Willkür und Disziplinlosigkeit, stärker auswirkten. Gerade aus dieser Verwaltungselite rekrutierten sich die Träger des antikolonialen Nationalismus und des jungen Nationalstaates, die in ihrer eigenen Machtausübung die beschriebenen negativen Verhaltensmuster allzu häufig fortführten. INHALT: Einleitung. Albert Wirz: Körper, Raum und Zeit der Herrschaft. ZEITENWECHSEL: Katrin Bromber: Disziplinierung – eine europäische Erfindung? Das islamische Bildungswesen an der ostafrikanischen Küste des späten 19. Jahrhunderts. Katrin Bromber / Jürgen Becher: Abdallah bin Hemedi – Ein Vertreter der administrativen Elite im Transformationsprozess zwischen Busaidi-Herrschaft und deutscher Kolonialadministration. NEUE KLEIDER: Katrin Bromber: Ein Lied auf die hohen Herren – Die deutsche Kolonialherrschaft in der historiographischen Swahiliverskunst der Jahrhundertwende. Michael Pesek: Islam und Politik in Deutsch-Ostafrika. Jürgen Becher: Die deutsche evangelische Mission als Erziehungs- und Disziplinierungsinstanz in Deutsch-Ostafrika. Jürgen Becher: Martin Ganyisha – Eine afrikanische Missionskarriere. EIGENE WEGE: Andreas Eckert: „Disziplin und Tränen“ – Erziehung, Verwaltung und koloniale Ordnung in British-Tanganyika. Katrin Bromber / Andreas Eckert: A People’s Princess? Der Besuch von Prinzessin Margaret in Tanganyika, Oktober 1956. Andreas Eckert: Patrick Kunambi – Politiker und Chief in der Dekolonisationsperiode. BESPRECHUNG: „Insgesamt ist der Sammelband sehr gelungen: Es besticht durch saubere, detailreiche Quellenarbeit. Die Erkenntnisse, die die Autoren daraus gewinnen, sind stets nachvollziehbar und manchmal überraschend. Besonders ist das Streben der AutorInnen hervorzuheben, aus bruchstückhaften Quellen ein dichtes und plausibles Bild des kolonialen Alltags Normalsterblicher zu zeichnen und sich nicht in der Beschreibung des Handelns von Eliten auf der Grundlage von Herrschaftsdiskursen zu erschöpfen. Dies gelingt besonders durch die Beschreibung von Einzelschicksalen und einzelnen exemplarischen Episoden. Afrikaner werden darüber hinaus als Handelnde beschrieben, die ihr Schicksal trotz aller Widerwärtigkeiten in die Hand zu nehmen versuchten und nicht als passive Opfer eines übermächtigen Kolonialregimes. Hier zeigt sich allerdings auch die Gefahr des Arbeitens mit Einzelbeispielen: Keinesfalls sollte vom Einzelnen auf alle geschlossen werden. So gab es Menschen, die räumlich vom Arm des Kolonialregimes zu weit entfernt waren und höchstens indirekt berührt wurden, andere Menschen, denen es nicht gelang, sich dem kolonialen Druck zu widersetzen, und schließlich eine relativ kleine Gruppe von Menschen, die die Grenzen zwischen den Kontrollierten und den Kontrollierenden, zumindest teilweise, verwischen und aufheben konnten.” (Reinhard Klein-Arendt in „Afrikanistik online”, www.afrikanistik-online.de/archiv/2006/616, 1-4)