Alles von mir - was für eine Ansage! In ihrem neuen Roman, der mit den Genres Roadmovie und Biopic spielt, schickt Christina Maria Landerl ihre Protagonistin in den Süden der USA, an die Wiege des Blues: Vier Bundesstaaten, unzählige Motels, zwei Städte mit dem Namen Jack- son liegen auf dem Weg der Reisenden - und dann noch jede Menge Erinnerungen an die eigene Vergangenheit.
Es ist eine abwechslungsreiche Fahrt, auf die sie uns mitnimmt, durch trostlose und verwunschene Landschaften, die, genau wie die wiederkehrenden Traumsequenzen, an die Filme von David Lynch denken lassen. Den Soundtrack zum Roadtrip liefern die "Empress of Blues", Bessie Smith, Country-Ikone Patsy Cline und vor allem Billie Holiday, deren Autobiografie (aus Zufall?) zur Reiselektüre wird.
Ein berührender Roman - virtuos in seiner Dezenz - über Verletzlichkeit und Schmerz, vor allem aber über die Stärke der Frauen und die der Musik, über den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen und das Recht, die eigene Geschichte zu erzählen.
Es ist eine abwechslungsreiche Fahrt, auf die sie uns mitnimmt, durch trostlose und verwunschene Landschaften, die, genau wie die wiederkehrenden Traumsequenzen, an die Filme von David Lynch denken lassen. Den Soundtrack zum Roadtrip liefern die "Empress of Blues", Bessie Smith, Country-Ikone Patsy Cline und vor allem Billie Holiday, deren Autobiografie (aus Zufall?) zur Reiselektüre wird.
Ein berührender Roman - virtuos in seiner Dezenz - über Verletzlichkeit und Schmerz, vor allem aber über die Stärke der Frauen und die der Musik, über den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen und das Recht, die eigene Geschichte zu erzählen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Wilde Frauen bekommen keinen Blues
Mit Billie Holiday, Bessie Smith und viel Last auf den Schultern im Mietwagen durch die Südstaaten: Christina Maria Landerls Roman "Alles von mir".
Von Elena Witzeck
Eine Frau reist durch Amerika und liest ein Buch. Die Frau ist weiß, ihre ziellose Route führt sie durch die Südstaaten, und das Buch - es ist eine Biographie über Billie Holiday, eine der größten amerikanischen Jazzsängerinnen - liegt auf dem Rücksitz. Die Reisende sieht vom Rassismus, den die Sängerin ihr Leben lang erfahren hat, der sie ins Gefängnis brachte, nicht viel. Wie sollte sie auch, mit ihrer Hautfarbe? Und seit Billie in "Strange Fruit" von Lynchmorden und an Bäumen hängenden rottenden Körpern sang, hat sich ja einiges verändert.
Das Land sieht für die Frau, die es nicht kennt, so aus: Wald, Sümpfe, Straßenschilder, Licht im Geäst, Strommasten, Hotelzimmer, alle gleich: ein Flachbildfernseher, zwei Queensize-Betten. Hin und wieder fährt sie an Orten vorbei, deren Namen ihr bekannt vorkommen, eine Brücke etwa: Hier wurde Martin Luther Kings Protestmarsch, der von Selma nach Montgomery führen sollte, 1954 mit Tränengas und Knüppeln unterbrochen. Oder: In dieser Kleinstadt wohnte die weltberühmte Harper Lee. Weil die Reisende nichts kennt und wenigen Menschen begegnet, ist ihre Wahrnehmung für Nuancen geschärft: Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und verändert die ganze Anmutung der Gegend. "Dann wieder warmes Licht." Man könnte es naheliegend nennen, was sie beschreibt, aber die Erzählerin und ihre Beobachtungen sind vor allem eins: nah.
Die Musik schwarzer Frauen, die sie hört, je weiter sie in den Süden vordringt, nach Alabama und Mississippi, beschreibt sie in schlichten wenigen Worten: "Erst ist nur Klavier zu hören, freudig aufgeregt, dann kommt das Schlagzeug dazu, schließlich Holidays Stimme." Sie hört auch Bessie Smith, die Bluessängerin, die Billie Holiday zum ersten Mal vernahm, als sie, noch ein Mädchen, im Bordell Böden schrubbte. "Wild women don't have the blues", singt die aus Georgia stammende Ida Cox für die österreichische Frau in ihrem Mietwagen, und wenn man als Leserin Spotify hat, kann man auf die Playlist zugreifen und dort auch Nina Simone, Patsy Cline und Cat Power zuhören und sich wundern, wie sich dieses literarische Experiment mit dem Jazz der Zwanziger, den großen Frauen der Musikgeschichte und der Geschichte dieses Landes vermengt.
Da stehen Absätze aus Satzfetzen, wie im Vorbeifahren aufgeschnappt oder durch den Kopf geschossen, kontextfrei: schwarze Kühe auf giftigem Grün. Beiläufig geschehen Dinge, ein Fernseher geht an, er zeigt, wie Bessie Smith zur erfolgreichsten Bluessängerin aller Zeiten wird. "Zu sehen ist" steht da, und dann wie in einer Regieanweisung statische Momente, eine Szene im Hotel, auf einem Bett liegt ein Hemd, und der Blick wandert auf der Suche nach einem nächtlichen Besucher, der gerade noch da war. Außenansicht auf ein Autofenster, dann Blick von innen nach außen, jetzt sind die Leser im Kopf der Frau, die mal "ich" ist und mal "sie". So wie man sich selbst manchmal von außen betrachtet und dann wieder ganz bei sich ist, in Momenten großer Gefühle. Auch wegen dieses Gefühls, das bei der Protagonistin vor allem Trauer ist, erfährt man nur kleine Ausschnitte ihrer Wirklichkeit, und so wie sie sich selbst kann man ihr nur bedingt trauen. "Ob irgendjemand will, dass ich nach Süden fahre, frage ich mich, als sich minutenlang keine Wendemöglichkeit ergibt; ob das vielleicht ich bin."
Christina Maria Landerl stammt aus Wien und lebt in Berlin, ihr Debüt "Verlass die Stadt" war ein hochgelobtes Büchlein. Ihr erzählerisches Charakteristikum sind die wenig stringenten, auf ein Mindestmaß an literarischen Mitteln reduzierten und dennoch emotional geladenen Szenen. Für "Alles von mir" hat sie eine Recherchereise gemacht, die dem Roadtrip der Heldin zugrunde liegt, und wieder ist ein schmaler Roman entstanden.
Nun muss sich die äußere Reise auf den Spuren der Bürgerrechtsbewegung und der weiblichen Stimmen des Jazz den Vorwurf des Recherchierten machen lassen, der im Verlauf der Geschichte sogar zur Sprache kommt: Bei allem erfühlten Leid bleiben wir doch Touristinnen, die Ungerechtigkeit in einer fremden Kultur betrachten, sagt die mitteilsame junge Schwedin Karin, die eine Weile mit der Protagonistin unterwegs ist und Countrystar in Nashville werden will. Aber da ist ja noch die innere Reise, die sich geschmeidig mit der äußeren verschränkt. Und dass Billie Holidays Vater an einer Lungenentzündung starb, weil ihn als Trompeter einer Band auf Tournee durch den Süden kein Krankenhaus aufnehmen wollte, dass sie bereits als Kind vergewaltigt wurde und als Jugendliche mit ihrer Mutter in Bordellen arbeitete, dass sie zeit ihres Lebens von Männern misshandelt wurde, diese Berichte gehören zu den weniger ausgetretenen Pfaden der Jazzgeschichte. Sie im Landerl-Tonfall zu lesen ist, als läse man sie zum ersten Mal.
Der Reiz dieser Reise einer Verlorenen liegt in ihrer Sprache. Die Erzählerin ist wortkarg, versehrt, hin und wieder auch ein wenig naiv: Als sie New Orleans erreicht, erinnert sie sich an den Hurrikan, der die Stadt vor fünfzehn Jahren zerstört hat. "Der Ort der Katastrophe trägt den Schrecken nicht in sich oder zumindest nicht zu Schau", urteilt die Touristin. Sie ist es aber auch, die beim Blick auf ihre plappernde Mitfahrerin erkennt, wie absurd dieses menschliche Gefühl ist, hingerissen zu sein zwischen der Sehnsucht nach Distanz und dem wilden Wunsch nach Nähe: einerseits zu glauben, man hielte es nicht allein aus, und zugleich überzeugt zu sein, es in der Anwesenheit eines anderen, einer anderen nicht mehr auszuhalten. Wer einmal allein aufgebrochen ist, um sich von den selbstgebauten Grenzen zu befreien, kennt das.
Ganz subtil geht es in diesem kleinen Büchlein also die ganze Zeit um die großen Themen, ums Sehnen und Sichbefreien, um die Überwindung der Verletzung des Verlassenwerdens. Und um die Lebensaufgabe, dem Ideal der Zweisamkeit etwas Eigenes, Wahrhaftiges oder - in Ida Cox' Worten - Wildes entgegenzusetzen. Christina Maria Landerl beweist, dass das auch in einem kargen Raum mit zwei Queensize-Betten geht. Am besten mit Hilfe eines Songs über eine verlorene Liebe, der einem für drei Minuten zeigt, was man fühlen soll.
Christina Maria Landerl: "Alles von mir". Roman.
Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2020. 128 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Billie Holiday, Bessie Smith und viel Last auf den Schultern im Mietwagen durch die Südstaaten: Christina Maria Landerls Roman "Alles von mir".
Von Elena Witzeck
Eine Frau reist durch Amerika und liest ein Buch. Die Frau ist weiß, ihre ziellose Route führt sie durch die Südstaaten, und das Buch - es ist eine Biographie über Billie Holiday, eine der größten amerikanischen Jazzsängerinnen - liegt auf dem Rücksitz. Die Reisende sieht vom Rassismus, den die Sängerin ihr Leben lang erfahren hat, der sie ins Gefängnis brachte, nicht viel. Wie sollte sie auch, mit ihrer Hautfarbe? Und seit Billie in "Strange Fruit" von Lynchmorden und an Bäumen hängenden rottenden Körpern sang, hat sich ja einiges verändert.
Das Land sieht für die Frau, die es nicht kennt, so aus: Wald, Sümpfe, Straßenschilder, Licht im Geäst, Strommasten, Hotelzimmer, alle gleich: ein Flachbildfernseher, zwei Queensize-Betten. Hin und wieder fährt sie an Orten vorbei, deren Namen ihr bekannt vorkommen, eine Brücke etwa: Hier wurde Martin Luther Kings Protestmarsch, der von Selma nach Montgomery führen sollte, 1954 mit Tränengas und Knüppeln unterbrochen. Oder: In dieser Kleinstadt wohnte die weltberühmte Harper Lee. Weil die Reisende nichts kennt und wenigen Menschen begegnet, ist ihre Wahrnehmung für Nuancen geschärft: Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und verändert die ganze Anmutung der Gegend. "Dann wieder warmes Licht." Man könnte es naheliegend nennen, was sie beschreibt, aber die Erzählerin und ihre Beobachtungen sind vor allem eins: nah.
Die Musik schwarzer Frauen, die sie hört, je weiter sie in den Süden vordringt, nach Alabama und Mississippi, beschreibt sie in schlichten wenigen Worten: "Erst ist nur Klavier zu hören, freudig aufgeregt, dann kommt das Schlagzeug dazu, schließlich Holidays Stimme." Sie hört auch Bessie Smith, die Bluessängerin, die Billie Holiday zum ersten Mal vernahm, als sie, noch ein Mädchen, im Bordell Böden schrubbte. "Wild women don't have the blues", singt die aus Georgia stammende Ida Cox für die österreichische Frau in ihrem Mietwagen, und wenn man als Leserin Spotify hat, kann man auf die Playlist zugreifen und dort auch Nina Simone, Patsy Cline und Cat Power zuhören und sich wundern, wie sich dieses literarische Experiment mit dem Jazz der Zwanziger, den großen Frauen der Musikgeschichte und der Geschichte dieses Landes vermengt.
Da stehen Absätze aus Satzfetzen, wie im Vorbeifahren aufgeschnappt oder durch den Kopf geschossen, kontextfrei: schwarze Kühe auf giftigem Grün. Beiläufig geschehen Dinge, ein Fernseher geht an, er zeigt, wie Bessie Smith zur erfolgreichsten Bluessängerin aller Zeiten wird. "Zu sehen ist" steht da, und dann wie in einer Regieanweisung statische Momente, eine Szene im Hotel, auf einem Bett liegt ein Hemd, und der Blick wandert auf der Suche nach einem nächtlichen Besucher, der gerade noch da war. Außenansicht auf ein Autofenster, dann Blick von innen nach außen, jetzt sind die Leser im Kopf der Frau, die mal "ich" ist und mal "sie". So wie man sich selbst manchmal von außen betrachtet und dann wieder ganz bei sich ist, in Momenten großer Gefühle. Auch wegen dieses Gefühls, das bei der Protagonistin vor allem Trauer ist, erfährt man nur kleine Ausschnitte ihrer Wirklichkeit, und so wie sie sich selbst kann man ihr nur bedingt trauen. "Ob irgendjemand will, dass ich nach Süden fahre, frage ich mich, als sich minutenlang keine Wendemöglichkeit ergibt; ob das vielleicht ich bin."
Christina Maria Landerl stammt aus Wien und lebt in Berlin, ihr Debüt "Verlass die Stadt" war ein hochgelobtes Büchlein. Ihr erzählerisches Charakteristikum sind die wenig stringenten, auf ein Mindestmaß an literarischen Mitteln reduzierten und dennoch emotional geladenen Szenen. Für "Alles von mir" hat sie eine Recherchereise gemacht, die dem Roadtrip der Heldin zugrunde liegt, und wieder ist ein schmaler Roman entstanden.
Nun muss sich die äußere Reise auf den Spuren der Bürgerrechtsbewegung und der weiblichen Stimmen des Jazz den Vorwurf des Recherchierten machen lassen, der im Verlauf der Geschichte sogar zur Sprache kommt: Bei allem erfühlten Leid bleiben wir doch Touristinnen, die Ungerechtigkeit in einer fremden Kultur betrachten, sagt die mitteilsame junge Schwedin Karin, die eine Weile mit der Protagonistin unterwegs ist und Countrystar in Nashville werden will. Aber da ist ja noch die innere Reise, die sich geschmeidig mit der äußeren verschränkt. Und dass Billie Holidays Vater an einer Lungenentzündung starb, weil ihn als Trompeter einer Band auf Tournee durch den Süden kein Krankenhaus aufnehmen wollte, dass sie bereits als Kind vergewaltigt wurde und als Jugendliche mit ihrer Mutter in Bordellen arbeitete, dass sie zeit ihres Lebens von Männern misshandelt wurde, diese Berichte gehören zu den weniger ausgetretenen Pfaden der Jazzgeschichte. Sie im Landerl-Tonfall zu lesen ist, als läse man sie zum ersten Mal.
Der Reiz dieser Reise einer Verlorenen liegt in ihrer Sprache. Die Erzählerin ist wortkarg, versehrt, hin und wieder auch ein wenig naiv: Als sie New Orleans erreicht, erinnert sie sich an den Hurrikan, der die Stadt vor fünfzehn Jahren zerstört hat. "Der Ort der Katastrophe trägt den Schrecken nicht in sich oder zumindest nicht zu Schau", urteilt die Touristin. Sie ist es aber auch, die beim Blick auf ihre plappernde Mitfahrerin erkennt, wie absurd dieses menschliche Gefühl ist, hingerissen zu sein zwischen der Sehnsucht nach Distanz und dem wilden Wunsch nach Nähe: einerseits zu glauben, man hielte es nicht allein aus, und zugleich überzeugt zu sein, es in der Anwesenheit eines anderen, einer anderen nicht mehr auszuhalten. Wer einmal allein aufgebrochen ist, um sich von den selbstgebauten Grenzen zu befreien, kennt das.
Ganz subtil geht es in diesem kleinen Büchlein also die ganze Zeit um die großen Themen, ums Sehnen und Sichbefreien, um die Überwindung der Verletzung des Verlassenwerdens. Und um die Lebensaufgabe, dem Ideal der Zweisamkeit etwas Eigenes, Wahrhaftiges oder - in Ida Cox' Worten - Wildes entgegenzusetzen. Christina Maria Landerl beweist, dass das auch in einem kargen Raum mit zwei Queensize-Betten geht. Am besten mit Hilfe eines Songs über eine verlorene Liebe, der einem für drei Minuten zeigt, was man fühlen soll.
Christina Maria Landerl: "Alles von mir". Roman.
Verlag Müry Salzmann, Salzburg 2020. 128 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Elena Witzeck mag den lakonischen Landerl-Sound, der große Gefühle in knappen Skizzen bannt. Und so begibt sich die Kritikerin gern mit dem zweiten Roman der österreichischen Autorin auf eine Reise durch die USA, lauscht Songs von Billie Holliday und Betti Smith, erinnert sich an Martin Luther Kings Protestmarsch und fühlt sich dank Landerls Beschreibungskunst stets ganz dicht dran. Exkurse zur Geschichte des Jazz, der Bürgerrechtsbewegung und des Rassismus weiß die Autorin geschickt einzuflechten, staunt die Rezensentin, die dringend empfiehlt Landerl auf ihrer äußeren und inneren Reise zu begleiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH