Inhalt: Erster Teil: Allgemeine Themen§ 1. Der Philosoph im 17. Jahrhundert (Helmut Holzhey). - § 2. Die respublica litteraria. Wunschbild der Europäischen Gelehrtenwelt (Hans Bots). - § 3. Der Gebrauch des Lateins und der Nationalsprachen (Vilem Mudroch und Wolfgang Rother). - § 4. Die philosophische Reflexion auf die Methode (Peter Schulthess). - § 5. Haupttendenzen der clandestinen Philosophie (Gianni Paganini). - § 6. Okkulte Strömungen (George MacDonald Ross). - § 7. Die Vermittlung chinesischer Philosophie in Europa (Iso Kern). - § 8. Philosophiegeschichtsschreibung im 17. Jahrhundert (Giovanni Santinello und Lucien Braun). - § 9. Geschichtliche Darstellungen der Philosophie des 17. Jahrhunderts (Stefan Ehrenberg). Zweiter Teil: Iberische HalbinselErstes Kapitel: Die Präsenz der klassischen Systeme (Enrique Rivera de Ventosa)§ 1. Platonismus und Neuplatonismus. - § 2. Die Vorherrschaft des Aristotelismus und der Antiaristotelismus. - § 3. Der Stoizismus und weitere Strömungen.Zweites Kapitel: Die Schulphilosophie (Enrique Rivera de Ventosa)§ 4. Der Philosophieunterricht an den Universitäten. - § 5. Der Augustinismus. - § 6. Der Anselmismus und die Ontotheologie. - § 7. Der Thomismus. - § 8. Der Scotismus. - § 9. Der Lullismus. - § 10. Der philosophische Beitrag der Jesuiten. - § 11. Die Mystik.Drittes Kapitel: Der Einfluss des neuzeitlichen Denkens§ 12. Die Anfänge des neuzeitlichen Denkens in Spanien (Enrique Rivera de Ventosa). - § 13. Die Anfänge des neuzeitlichen Denkens in Portugal (Enrique Rivera de Ventosa). - § 14. Die ersten Auseinandersetzungen über das neuzeitliche Denken in Spanien (Enrique Rivera de Ventosa). - § 15. Jüdisches Denken und die neue Philosophie: Isaac Cardoso (Yosef Hayim Yerushalmi).Viertes Kapitel: Staats- und Moralphilosophie§ 16. Das politische Denken in Spanien (Henry Méchoulan). - § 17. Baltasar Gracián y Morales (Henry Méchoulan). - § 18. Das politische Denken in Portugal (Enrique Rivera de Ventosa). - § 19. Kasuistik und Probabilismus (Enrique Rivera de Ventosa).Dritter Teil: ItalienTendenzen in der Geschichtsschreibung über die italienische Philosophie im 17. Jahrhundert (Paolo Casini).Erstes Kapitel: Das Erbe des 16. Jahrhunderts. Die politische Philosophie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Tommaso Campanella§ 1. Die Auseinandersetzungen über das Konzil von Trient (Cesare Vasoli). - § 2. Staatsräson, Tacitismus, Machiavellismus, Utopie (Enzo Baldini undAnna Maria Battista). - § 3. Tommaso Campanella (Pavel Floss).Zweites Kapitel: Die Schulphilosophie (Ugo Baldini)§ 4. Der Philosophieunterricht an den Universitäten. - § 5. Die Philosophie und die Wissenschaften im Jesuitenorden.Drittes Kapitel: Die neue Wissenschaft§ 6. Galileo Galilei (William R. Shea). - § 7. Die Accademia dei Lincei (Giuseppe Olmi). - § 8. Die Schule Galileis (William R. Shea). - § 9. Die Accademia del Cimento (Renato Romano).- § 10. Atomisten, Naturphilosophen, Mediziner, Enzyklopädisten (Manlio Iofrida) - § 11. Der Kreis von Bologna und die Accademia degli Inquieti (Marta Cavazza). - § 12. Die Accademia degli Investiganti (Paolo Cristofolini).Viertes Kapitel: Der Cartesianismus.Die politische Philosophie in der zweiten Jahrhunderthälfte (Vittor Ivo Comparato)§ 13. Die Rezeption der cartesischen Philosophie. - § 14. Anhänger und Gegner der cartesischen Philosophie. - § 15. Die politische Philosophie in der zweiten Hälfte des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2002Die wilden Denker
Der neue "Ueberweg" erschließt die Philosophie zu Leibniz' Zeiten
"Das Jahrhundert der Methode" hat der französische Philosophiehistoriker Yvon Belaval das siebzehnte Jahrhundert genannt, und mit Bacon, Galilei, Descartes, Spinoza und Newton vor Augen ist man durchaus geneigt, dieser Charakteristik fürs erste beizustimmen. Das Bild ändert sich jedoch, sobald man ein Gesamtpanorama auf sich wirken läßt, zu welchem Jakob Böhmes Einblicke in die "innerste Geburt der Gottheit" ebenso gehören wie der Hexenwahn und die Rosenkreuzer, die Gold- und Projektemacher, die Utopisten und Visionäre vom Schlage der Daniel Czepko und Quirinus Kuhlmann, die Polyhistorie, der "clandestine" Atheismus oder die erste Begeisterung für chinesisches Denken.
Das "Jahrhundert der Methode" ist dann ebenso das Jahrhundert der Metapher, der Mystik und der Manier, der "chymischen" Gärung und "deoglorialen" Exaltationen, des Denkens in Bildern und Begriffslabyrinthen ohne Ausgang ins Diesseits, will sagen: in das, was sich bruchlos ins Medium aufgeklärter Bewußtheit hinein aufheben ließe. Zu sich selbst gefunden hat dies alles zuletzt am ehesten in dem System eines Gottfried Wilhelm Leibniz, der ganz unerhörten Chiffre des unendlichen Zusammenklangs aller Dinge, der existierenden Theodizee. Aber das ändert nichts daran, daß von allen neuzeitlichen Jahrhunderten das siebzehnte bis heute das am meisten abgeschattete und opake ist.
Vor dreizehn Jahren ist im neuen "Ueberweg", dem aktuellen Standardwerk zur Geschichte der Philosophie, der erste Band zu diesem kryptischen Jahrhundert, gewidmet der Iberischen Halbinsel und Italien, erschienen. Jetzt liegt mit dem vierten und letzten auch jener Band vor, der die deutschen Versionen der frühneuzeitlichen Philosophie zur Darstellung bringt. Daß hier Pionierarbeit geleistet werden würde, stand außer Frage; ein vergleichbares Kompendium gab und gibt es nach Umfang und Dokumentationsleistung nicht. Zu den zweiundvierzig Mitarbeitern des Doppelbandes zählen beste Kenner der Epoche, und es dürfte niemanden geben, der nicht schon nach kurzer Arbeit in dieser Grube erfreut und belehrt seine Funde gemacht hätte.
Behandelt werden außer den Denkern auf dem Boden des alten Reiches auch die in den nord- und südosteuropäischen Ländern; schon diese Ausblicke nach Skandinavien, Polen und Ungarn samt Siebenbürgen erschließen weithin unbekanntes Terrain: Wer kannte bisher die "mosaische Physik" Cort Aslakssöns in Kopenhagen, wer den "Begründer der ungarischsprachigen Philosophie" János Apácai Csere? Für Deutschland gelten im europäischen Vergleich Besonderheiten - äußerlich schon die, daß hier erst gegen Ende des Jahrhunderts die Nationalsprache für die Philosophie Bedeutung gewinnt, in der Sache etwa die, daß Deutschland sich zum "Kernland des Lullismus" entwickelt und auch von daher, einem Clauberg oder Wittich in Duisburg zum Trotz, dem Cartesianismus gegenüber weitgehend in der Reserve bleibt.
Bekannt ist, daß in dem konfessionell gespaltenen Reich sich seit Jahrhundertbeginn in Gestalt der Schulphilosophie eine metaphysische lingua franca herausbildete, die einen mitunter recht regen Austausch über die Bekenntnisgrenzen hinweg beförderte; begünstigt wurde dies etwa dadurch, daß an den lutherischen Hochschulen um 1600 Melanchthons Lehrbücher außer Gebrauch kamen und so der antimetaphysische Affekt der Reformatoren einer freieren Stellung insbesondere zum Aristotelismus der spanischen Jesuitenschule wich. Johannes Stier in Jena konnte als lutherischer Aristoteliker Francisco Suárez den "gemeinsamen Lehrer und Schulmeister aller Metaphysiker" nennen. Christoph Scheibler in Gießen avancierte mit seinem Opus metaphysicum gleich selbst zum "protestantischen Suárez", und auch reformierte Autoren wie Clemens Timpler in Steinfurt oder Bartholomäus Keckermann in Heidelberg brachten im Rahmen ihrer eklektischen Systeme Aristoteles und seine Schule zu neuen Ehren.
Überhaupt erscheinen die Theologen nicht nur als Verhinderer, sondern auch als Förderer der Erkenntnis. Wer beispielsweise Abraham Calov bislang nur als kampfeslustigen Dogmatiker kannte, lernt den Theologen jetzt als Verfasser philosophischer Schriften kennen, so etwa einer Lehre vom Erkennbaren, die der Metaphysik vorzuschalten sei - die formale Parallele zu Kant drängt sich auf. Aber auch wer die Doktrin zum Beispiel des Jesuitenordens bislang für ein eher monolithisches Ganzes hielt, wird durch die Darstellung zum Beispiel der bemerkenswert ontologiekritischen Lehren Rodrigo de Arriagas in Prag eines Besseren belehrt. Der Geist war immer lebendiger, als das Vorurteil will.
Eingebettet sind diese Referate zunächst in eine nützliche Institutionengeschichte, die die Herausbildung geistiger Zentren an den Gymnasien, Hohen Schulen und Universitäten des Reiches und der Schweiz lebendig werden läßt. Mehrere instruktive Paragraphen sind aber auch zur Gänze Einzelpersonen gewidmet, wichtig dabei diejenigen zu Athanasius Kircher, Kepler, Pufendorf und Thomasius, mit dem die Schwelle zum Aufklärungszeitalter erreicht wird. Einen Sonderfall stellt Leibniz dar, der auf gut 160 Seiten von gleich neun Autoren dargestellt wird.
Der vorliegende Band, für den als Gesamtherausgeber Helmut Holzhey verantwortlich zeichnet, bemüht sich im übrigen, die Bresche in die Stoffülle auch unter systematischen Aspekten zu schlagen. Die Kreuzung der personenbezogenen, institutionenorientierten und thematischen Gesichtspunkte, die sich so ergibt, gelingt nicht immer, sie führt gelegentlich zu Unübersichtlichkeit. Holzhey plädiert für einen "breiten Philosophiebegriff" und auch eine (tatsächlich gelungene) "unparteiische" Darstellung, die auch bislang weniger beachteten Autoren Gerechtigkeit widerfahren läßt. In der Tat liegen die Möglichkeiten zu spezifischen Verdiensten der heute überwiegend positivistisch betriebenen Philosophiegeschichte weniger in der letztgültigen Aneignung früheren Denkens als vielmehr in materialer Horizonterweiterung durch Konfrontation mit fremdem Denken.
Um Philosophie indes sollte es dabei gehen, tut es auch meist, aber nicht immer: der Pietismusparagraph, den Holzhey selbst wie zur Warnung "ein Stück Kirchengeschichte" nennt, hätte durchaus auf seine philosophische Relevanz hin gesichtet, umgeschrieben und im Interesse des Gesamtwerks gekürzt werden können - letzteres schon deshalb, weil bei genauerem Zusehen leider doch kleinere Lücken klaffen: Den in Padua promovierten Iatrochemiker Otto Tachenius aus Herford etwa, zu dessen Erfindungen und Schriften sich nach Leibniz "das Vaterland Glück wünschen" durfte, sucht man vergeblich; den Kieler Medizinprofessor Günther Schelhammer, mit Boyle persönlich bekannt und doch auch sein Kritiker, findet man mit Auslassung seines Geburtsjahres und -tags (13. März 1649) nur unzureichend gestreift.
Aber aus diesen Beispielen darf nicht auf grobe Defekte und Auslassungen insgesamt geschlossen werden; das neue Werk ist eine Pioniertat, es ist eine Brücke in ein verschollen geglaubtes Jahrhundert und als Arbeitsmittel hochwillkommen. Dafür kann man allen Beteiligten, den Verlag, der für eine gediegene Ausstattung bei akzeptablem Preis gesorgt hat, eingeschlossen, nur Dank wissen. Die nötigen Studien zu einem nicht nur methodischen Jahrhundert stehen auf neuer Grundlage.
THOMAS SÖREN HOFFMANN
"Die Philosophie des 17. Jahrhunderts". Band 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Herausgegeben von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. 2 Halbbände. Schwabe Verlag, Basel 2001. XXIV, 1507 S., geb., 174,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der neue "Ueberweg" erschließt die Philosophie zu Leibniz' Zeiten
"Das Jahrhundert der Methode" hat der französische Philosophiehistoriker Yvon Belaval das siebzehnte Jahrhundert genannt, und mit Bacon, Galilei, Descartes, Spinoza und Newton vor Augen ist man durchaus geneigt, dieser Charakteristik fürs erste beizustimmen. Das Bild ändert sich jedoch, sobald man ein Gesamtpanorama auf sich wirken läßt, zu welchem Jakob Böhmes Einblicke in die "innerste Geburt der Gottheit" ebenso gehören wie der Hexenwahn und die Rosenkreuzer, die Gold- und Projektemacher, die Utopisten und Visionäre vom Schlage der Daniel Czepko und Quirinus Kuhlmann, die Polyhistorie, der "clandestine" Atheismus oder die erste Begeisterung für chinesisches Denken.
Das "Jahrhundert der Methode" ist dann ebenso das Jahrhundert der Metapher, der Mystik und der Manier, der "chymischen" Gärung und "deoglorialen" Exaltationen, des Denkens in Bildern und Begriffslabyrinthen ohne Ausgang ins Diesseits, will sagen: in das, was sich bruchlos ins Medium aufgeklärter Bewußtheit hinein aufheben ließe. Zu sich selbst gefunden hat dies alles zuletzt am ehesten in dem System eines Gottfried Wilhelm Leibniz, der ganz unerhörten Chiffre des unendlichen Zusammenklangs aller Dinge, der existierenden Theodizee. Aber das ändert nichts daran, daß von allen neuzeitlichen Jahrhunderten das siebzehnte bis heute das am meisten abgeschattete und opake ist.
Vor dreizehn Jahren ist im neuen "Ueberweg", dem aktuellen Standardwerk zur Geschichte der Philosophie, der erste Band zu diesem kryptischen Jahrhundert, gewidmet der Iberischen Halbinsel und Italien, erschienen. Jetzt liegt mit dem vierten und letzten auch jener Band vor, der die deutschen Versionen der frühneuzeitlichen Philosophie zur Darstellung bringt. Daß hier Pionierarbeit geleistet werden würde, stand außer Frage; ein vergleichbares Kompendium gab und gibt es nach Umfang und Dokumentationsleistung nicht. Zu den zweiundvierzig Mitarbeitern des Doppelbandes zählen beste Kenner der Epoche, und es dürfte niemanden geben, der nicht schon nach kurzer Arbeit in dieser Grube erfreut und belehrt seine Funde gemacht hätte.
Behandelt werden außer den Denkern auf dem Boden des alten Reiches auch die in den nord- und südosteuropäischen Ländern; schon diese Ausblicke nach Skandinavien, Polen und Ungarn samt Siebenbürgen erschließen weithin unbekanntes Terrain: Wer kannte bisher die "mosaische Physik" Cort Aslakssöns in Kopenhagen, wer den "Begründer der ungarischsprachigen Philosophie" János Apácai Csere? Für Deutschland gelten im europäischen Vergleich Besonderheiten - äußerlich schon die, daß hier erst gegen Ende des Jahrhunderts die Nationalsprache für die Philosophie Bedeutung gewinnt, in der Sache etwa die, daß Deutschland sich zum "Kernland des Lullismus" entwickelt und auch von daher, einem Clauberg oder Wittich in Duisburg zum Trotz, dem Cartesianismus gegenüber weitgehend in der Reserve bleibt.
Bekannt ist, daß in dem konfessionell gespaltenen Reich sich seit Jahrhundertbeginn in Gestalt der Schulphilosophie eine metaphysische lingua franca herausbildete, die einen mitunter recht regen Austausch über die Bekenntnisgrenzen hinweg beförderte; begünstigt wurde dies etwa dadurch, daß an den lutherischen Hochschulen um 1600 Melanchthons Lehrbücher außer Gebrauch kamen und so der antimetaphysische Affekt der Reformatoren einer freieren Stellung insbesondere zum Aristotelismus der spanischen Jesuitenschule wich. Johannes Stier in Jena konnte als lutherischer Aristoteliker Francisco Suárez den "gemeinsamen Lehrer und Schulmeister aller Metaphysiker" nennen. Christoph Scheibler in Gießen avancierte mit seinem Opus metaphysicum gleich selbst zum "protestantischen Suárez", und auch reformierte Autoren wie Clemens Timpler in Steinfurt oder Bartholomäus Keckermann in Heidelberg brachten im Rahmen ihrer eklektischen Systeme Aristoteles und seine Schule zu neuen Ehren.
Überhaupt erscheinen die Theologen nicht nur als Verhinderer, sondern auch als Förderer der Erkenntnis. Wer beispielsweise Abraham Calov bislang nur als kampfeslustigen Dogmatiker kannte, lernt den Theologen jetzt als Verfasser philosophischer Schriften kennen, so etwa einer Lehre vom Erkennbaren, die der Metaphysik vorzuschalten sei - die formale Parallele zu Kant drängt sich auf. Aber auch wer die Doktrin zum Beispiel des Jesuitenordens bislang für ein eher monolithisches Ganzes hielt, wird durch die Darstellung zum Beispiel der bemerkenswert ontologiekritischen Lehren Rodrigo de Arriagas in Prag eines Besseren belehrt. Der Geist war immer lebendiger, als das Vorurteil will.
Eingebettet sind diese Referate zunächst in eine nützliche Institutionengeschichte, die die Herausbildung geistiger Zentren an den Gymnasien, Hohen Schulen und Universitäten des Reiches und der Schweiz lebendig werden läßt. Mehrere instruktive Paragraphen sind aber auch zur Gänze Einzelpersonen gewidmet, wichtig dabei diejenigen zu Athanasius Kircher, Kepler, Pufendorf und Thomasius, mit dem die Schwelle zum Aufklärungszeitalter erreicht wird. Einen Sonderfall stellt Leibniz dar, der auf gut 160 Seiten von gleich neun Autoren dargestellt wird.
Der vorliegende Band, für den als Gesamtherausgeber Helmut Holzhey verantwortlich zeichnet, bemüht sich im übrigen, die Bresche in die Stoffülle auch unter systematischen Aspekten zu schlagen. Die Kreuzung der personenbezogenen, institutionenorientierten und thematischen Gesichtspunkte, die sich so ergibt, gelingt nicht immer, sie führt gelegentlich zu Unübersichtlichkeit. Holzhey plädiert für einen "breiten Philosophiebegriff" und auch eine (tatsächlich gelungene) "unparteiische" Darstellung, die auch bislang weniger beachteten Autoren Gerechtigkeit widerfahren läßt. In der Tat liegen die Möglichkeiten zu spezifischen Verdiensten der heute überwiegend positivistisch betriebenen Philosophiegeschichte weniger in der letztgültigen Aneignung früheren Denkens als vielmehr in materialer Horizonterweiterung durch Konfrontation mit fremdem Denken.
Um Philosophie indes sollte es dabei gehen, tut es auch meist, aber nicht immer: der Pietismusparagraph, den Holzhey selbst wie zur Warnung "ein Stück Kirchengeschichte" nennt, hätte durchaus auf seine philosophische Relevanz hin gesichtet, umgeschrieben und im Interesse des Gesamtwerks gekürzt werden können - letzteres schon deshalb, weil bei genauerem Zusehen leider doch kleinere Lücken klaffen: Den in Padua promovierten Iatrochemiker Otto Tachenius aus Herford etwa, zu dessen Erfindungen und Schriften sich nach Leibniz "das Vaterland Glück wünschen" durfte, sucht man vergeblich; den Kieler Medizinprofessor Günther Schelhammer, mit Boyle persönlich bekannt und doch auch sein Kritiker, findet man mit Auslassung seines Geburtsjahres und -tags (13. März 1649) nur unzureichend gestreift.
Aber aus diesen Beispielen darf nicht auf grobe Defekte und Auslassungen insgesamt geschlossen werden; das neue Werk ist eine Pioniertat, es ist eine Brücke in ein verschollen geglaubtes Jahrhundert und als Arbeitsmittel hochwillkommen. Dafür kann man allen Beteiligten, den Verlag, der für eine gediegene Ausstattung bei akzeptablem Preis gesorgt hat, eingeschlossen, nur Dank wissen. Die nötigen Studien zu einem nicht nur methodischen Jahrhundert stehen auf neuer Grundlage.
THOMAS SÖREN HOFFMANN
"Die Philosophie des 17. Jahrhunderts". Band 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Herausgegeben von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. 2 Halbbände. Schwabe Verlag, Basel 2001. XXIV, 1507 S., geb., 174,-
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