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Produktdetails
  • Verlag: Primus
  • ISBN-13: 9783896784247
  • ISBN-10: 3896784242
  • Artikelnr.: 10210080
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2002

Unsere Vorfahren
Ernst Schubert betrachtet den
Alltag im Mittelalter
Um die großen Konturen zu erkennen, empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzutreten. Durch Distanz zum Detail wirkt das Wesentliche. Deshalb hat Ernst Schubert in seinem Buch „Alltag im Mittelalter” den Rückschritt gewagt, um den Durchblick zu bekommen. Der Professor für niedersächsische Landesgeschichte und Direktor des Instituts für historische Landesforschung an der Universität Göttingen wählt einen der klassischen Geschichtsschreibung vorausliegenden Ansatz: die Natur.
In ihr glaubt Schubert jene Distanz gefunden zu haben, aus der die anthropozentrischen historiographischen Teil-Disziplinen als ein Ganzes überschaubar sind: „Das Alter der Erde ist sicherlich die umfassende, jede andere Erscheinungsform der Geschichte umschließende Größe..., sie umgreift ganz andere zeitliche Dimensionen als die kurze Historie des Menschen.” Im Menschen als Teilmenge der Natur entdeckt der Mittelalter-Historiker seine große Kontur der Geschichtsschreibung: „Es geht immer um eine Relation, um den Menschen im Verhältnis zu seiner Umwelt.” Und so gliedern Naturphänomene den ersten Teil seines Buches.
Das Wetter war kein Thema
So originell der Versuch ist, die Geschichte des Mittelalters zunächst in Absehung vom Menschen zu betrachten und Klima, Wasser, Wald oder Luft als Ausgangspunkt zu wählen, so sehr hat diese Methode ihre Tücken. Schuberts Absicht, von natürlichen Erscheinungen Folgen für Wirtschaft, Politik und mittelalterliches Zusammenleben abzuleiten, leidet unter einem Mangel an schriftlichen Quellen. Diese sind rar, und sofern es sie gibt, handeln sie nicht vom Wetter. Deshalb bedient sich der Mediävist archäologischer und naturwissenschaftlicher Befunde, um Natur vor tausend Jahren zu rekonstruieren. Allein, die Phänomene die er beschreibt, sind oft allgemein und nicht zeitspezifisch und bilden deshalb nur einen dünnen roten Faden. Wenn der Autor etwa die Fährnisse der kalten Winter beklagt, dann hätte er viele seiner Beispiele ebenso gut aus dem 19. oder dem 20. Jahrhundert wählen können. So gefährdete etwa der Frosttod nicht nur die Pferde der Nürnberger Truppen 1388, sondern auch die Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
Was als Naturgeschichte beginnt, geht alsbald in traditionelle Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters über. Der Göttinger Historiker begreift sich als „Bote” zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen. Das liegt in Schuberts Logik: „Die Natur entscheidet über die Wirtschaft und damit über die Geschichte.” Auf gesichertes Terrain gelangt, hat der Autor viel Interessantes zu erzählen. Das von ihm geschilderte Verhältnis des Menschen zum Tier eröffnet interessante Einblicke in die Mentalitätsgeschichte: Der Mensch des Mittelalters begriff das Tier als selbstverantwortliches Wesen mit ewiger Seele und irdischem Körper. Groteske Tierprozesse, in denen zur Sodomie genötigte Schafe der Anstiftung zum Ehebruch für schuldig befunden wurden, waren die Folge.
Komplizierter, wenn auch weniger skurril, war das Verhältnis der Menschen untereinander, dem Schubert Teil zwei seines Buches widmet. Da das menschliche Miteinander im Mittelalter nicht wirklich zu rekonstruieren ist, gleicht der Mediävist hier einem Spurensucher, der Indizien sammelt. Schuberts Augenmerk gilt dabei vor allem Sprichworten, Flüchen, Familiennamen und Umgangsformen. Dann beginnt die Konstruktion: „Gott”, so folgert er aus blasphemisch Dahingesagtem, „ist Mithandelnder im alltäglichen Leben; er erscheint in dieser Rolle aber nicht als Friedensstifter, als gütiger Mahner. Gott wird als Person gedacht, die Ehre besitzt, und diese Ehre kann geschmäht werden.” Wenn der Zorn des Menschen sich gegen Gott richtete, war das eine heikle Angelegenheit, da es nicht nur dem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft schadete. Deshalb wurde das Fluchen im Mittelalter bestraft, was wiederum das menschliche Verhalten sublimierte.
Keine Welt von Trotteln
Weil die Alltagsgeschichte des Mittelalters so sehr eine Frage der Interpretation ist, skizziert Schuberts Buch eine ganz eigene Epoche. Seine Deutung bricht mit etlichen populären Klischees. Schubert sieht im mittelalterlichen Menschen nicht den abergläubischen Trottel, zu dem er gerne verzerrt wird, sondern ein dem (Un)Wissen seiner Zeit, den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Luft- und Säftelehre verhafteten Ahnen des heutigen Bürgers. Auch dem Verdikt, das Mittelalter sei eine grausame Zeit gewesen, schließt sich der Historiker nicht an, sondern betrachtet es als „eine Epoche, in der Europa lernte”.
Den Leser lehrt Schuberts Buch Respekt vor dem Mittelalter oder, mit den Worten des Autors: „Das Gefährliche in der Selbstgefälligkeit des modernen Aberglaubens über mittelalterliche Zustände liegt nicht im historischen Irrtum; es liegt in der Illusion über die Belastbarkeit der erreichten Fort schritte. Eine vorurteilsfreie Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte wird die Menschen in jener Zeit weder idealisieren noch für dumm verkaufen, sie wird sie als Vorfahren ernst nehmen.”
THOMAS THIEMEYER
ERNST SCHUBERT: Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander. Primus Verlag, Darmstadt 2002. 423 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2002

Ihr Teufel, drängelt doch nicht so!
Ökologisch gut: Ernst Schuberts Alltagsgeschichte des Mittelalters

Was Alltag sei, weiß eigentlich jedermann. Er ist das, was jeden Tag geschieht oder geschehen könnte, darüber hinaus schließt er aber die Routinen des Lebens ein: Geburt, Erziehung und Arbeit, Sexualität, Krankheit, Gewalt und Tod. In der Geschichtswissenschaft ist freilich die Frage nach dem Alltag aufgekommen, um in sozialhistorischer Absicht die Lebenspraxis der "kleinen Leute" aufzuhellen und sie, etwa bezogen aufs Mittelalter, der höfischen Welt von Königtum und Adel, dem farbenprächtigen und wohlduftenden Zeremoniell der Prälaten im steinernen Gehäuse oder den Zirkeln disputierender Gelehrter gegenüberzustellen. Nicht Pharao, sondern der Sklave, nicht der Grundherr, sondern der isolierte und diskriminierte Köhler im Walde ist der Held dieser Geschichte.

Die Probleme des Forschungsansatzes blieben aber bis heute ungelöst. Selbstverständlich ließ sich nämlich von der Lebensgestaltung der Unterschichten nicht diejenige der höheren Stände isolieren, die jene mit ihren Normen und ihrem Vorbild tief beeinflußt hat (und Ähnliches gilt auch umgekehrt). Näher betrachtet erweist sich vor allem jeder Alltag als höchst individuelle Mischung wiedererkennbarer Bausteine; so unverwechselbar wie die Menschen bis zum Zeitalter des Klonens waren, so unverwechselbar war auch ihr Tages- und Lebenslauf. Niemand hielt es deshalb für überflüssig, die Heiligsprechung Ulrichs, des Oberhirten von Augsburg, auf der römischen Synode des Jahres 993 mit einem Bericht "de cottidiana consuetudine episcopi", über die täglichen Gewohnheiten des Bischofs, zu unterstützen.

Wird aber die Einsicht ernstgenommen, daß jeder Mensch - Kaiser und Papst, Bischof, Pfarrer, Mönch und Stadtbürger - seinen spezifischen Alltag hat, dann läßt sich Alltagsgeschichte nur noch erzählen - mit Namensnennung, Zeitangabe und Ortskenntnis -, nicht aber systematisch analysieren. Die Geschichtswissenschaft hat sich deshalb, zur Enttäuschung mancher Verlage und interessierter Leser, schon vor rund einem Jahrzehnt vom Projekt der Alltagsgeschichte abgewandt; das Thema hat sich als theorieunfähig erwiesen, so daß niemand sagen kann, wie Untersuchungen hier zu verbindlichen Ergebnissen führen sollen.

Unter diesen Umständen überrascht der neue Versuch des Göttinger Landeshistorikers Ernst Schubert, dem Alltag im Mittelalter eine wissenschaftliche Abhandlung zu widmen. Aber so sympathisch Schuberts Vorhaben war, "aus Dankbarkeit" und mit "gebotener Achtung" in einen Dialog mit seinen toten Vorfahren über die Frage einzutreten, wie sie ein Leben von kaum vorstellbaren Härten bewältigt haben, so interessante Eigentümlichkeiten des mittelalterlichen Lebens der renommierte Mediävist herausarbeitet und so klug er übersehene Zusammenhänge realienkundlich aufzudecken vermag, so unzweifelhaft ist doch auch er an den Widersprüchen der Alltagsgeschichte gescheitert. Schubert glaubte sich auf das "natürliche Lebensumfeld" der Menschen im Sinne einer historischen Umweltforschung einerseits und auf das "menschliche Miteinander" andererseits beschränken zu können; seine Prämisse, die religiöse Dimension des Lebens könne also vernachlässigt werden, ja selbst seine Behauptung, die Kirche mit ihrer gebildeten Geistlichkeit habe nur mäßig den Alltag des Mittelalters bestimmt, konnte aber er selber im Gang seiner Darstellung nicht aufrechterhalten.

Satan und Beelzebub

Ähnliches gilt von dem Versuch, den eigenen Ergebnissen den Rang grundlegender Erkenntnisse dadurch zu verleihen, daß sich der Autor auf das deutsche Mittelalter beschränkt und dem übrigen Europa nur gelegentliche Seitenblicke widmet. Denn natürlich überblickt er auch in diesem räumlich begrenzten, zeitlich aber weitgesteckten Rahmen nur einen Ausschnitt der Überlieferung, vor allem die Quellen zur spätmittelalterlichen Stadt mit ihren Voraussetzungen im ländlichen Umkreis, während er früh- und hochmittelalterliche Zeugnisse recht zufällig und willkürlich heranzieht. Der Anspruch überdies, aus einer stets nur unvollkommen zu sichernden Quellenbasis Regeln des Lebens im ganzen abzuleiten, mußte fehlschlagen; zu welchen Befunden ließen sich keine Gegenbefunde finden? Schubert, der selbst keinen Lebenszusammenhang imaginiert, weil er jeder Theoriebildung mißtraut, hat wohl gar nicht bemerkt, wie widersprüchlich seine Urteile zu ein und demselben Phänomen ausfallen können.

Nehmen wir die Gegenmacht des Guten als Beispiel. Einmal erklärt der Autor, "den" Teufel kenne das Mittelalter nicht, sondern nur eine Mehrzahl, die Gesellenbruderschaft also der Hölle; wenige Seiten weiter liest man überrascht, daß "der" Teufel als personaler Widerpart Gottes Gestalt gewann und "zuständig für die zeitliche Verwünschung, weniger für die ewige Verdammnis" der Menschen gewesen sei; der Teufel habe ferner noch nicht im Mittelalter, sondern erst im frühneuzeitlichen Hexenwahn Unzucht mit Frauen getrieben, er sei aber schon Männern - besonders Handwerkern und Kleinbauern - als verläßlicher Vertragspartner erschienen. Dann wieder ist von mehreren Teufeln die Rede, aber nicht von einer Genossenschaft, sondern von einer hierarchisch gestuften Gesellschaft: Der Chef der Teufel sei Satan, Beelzebub der Lehrjunge, alle zusammen aber seien Individualisten gewesen, die stets um die einzelne Seele, nicht um das soziale Ganze der Menschen geworben hätten.

Prügelnde Nonnen

Der Leser weiß kaum je, für welche Zeit genau Schuberts Urteile gelten sollen; der Autor springt meist ohne präzise Angaben hin und her und zieht nicht selten frühneuzeitliche Belege zur Kennzeichnung mittelalterlicher Verhältnisse heran, während er sonst beide Epochen scharf kontrastiert. Da er ferner Beleg an Beleg reiht, um vermeintliche Regeln des mittelalterlichen Lebens aufzustellen, dringt er nie zu den besonderen Umständen einer Begebenheit vor; damit erstickt er zugleich die Phantasie des Lesers, die er doch gebraucht hätte, um den gewünschten Respekt vor den Menschen der Vergangenheit zu erzeugen. "Gewaltbereitschaft bei allen Ständen, Gewaltbereitschaft auch bei Frauen", lautet etwa eine seiner apodiktischen Feststellungen. Doch die Geschichte, die er zum Beleg erzählt, bleibt mit ihrem Quellenzitat unkommentiert: "Die Augsburger Dominikanerinnen setzten sich 1441 aggressiv gegen eine Reformmaßnahme zur Wehr, die der Rat verfügt hatte. Die Sprechgitter zur Klosterklausur sollten vermauert werden, als aber die Arbeiter anrückten, ,da wurden die frawen so zornig ... und luefen herfür mit stangen und mit pratspießen und schluegen und stachen zu den maurern und zu den werkleuten und triben sie all ab mit gewalt'. Diese konnten dann nur unter dem Schutz städtischer Söldner ihre Arbeit verrichten."

Die Stärken von Schuberts Buch liegen in der historischen Ökologie. Fasziniert liest man die Abschnitte über die "Sorge um die rechte Luft", über die Nutzung und Kultivierung des Waldes - teilweise schon orientiert am Prinzip der Nachhaltigkeit - oder über die Rolle des Wassers als Nahrungsspender, als Basis des Verkehrs und als unverzichtbares Medium der Abfallentsorgung. Der Autor verschmäht es, neben Luft, Erde (Wald) und Wasser auch dem Feuer als viertem Element seine Aufmerksamkeit zu schenken, das ihm gleichwohl als "Lebensnerv der Kultur" gilt. Bei den zwischenmenschlichen Beziehungen widmet er der Ehe, diesem vielumstrittenen Problem der neueren Mediävistik, die höchste Aufmerksamkeit. Die Rolle der Ehefrau glaubt er, mit der paradoxen Formulierung der "dienstbereiten Genossin" des Ehemannes erfassen zu können. Den Kirchenrechtler Gratian rühmt er für seinen Grundsatz, daß der Konsens die Ehe stifte; Gratian, der Kamaldulenser, habe damit die soziale Welt des Mittelalters stärker verändert als alles andere. "Natürlich" habe die Kirche diesen Mönch, "der durch dienende Arbeit zum großen Europäer wurde", aber nicht heiliggesprochen. Abgesehen von dieser Invektive: Man sollte nicht übertreiben! Wodurch hätte der Lateiner Gratian denn das Eherecht der Orthodoxen in Byzanz, wodurch die Ehepraxis jüdischer oder muslimischer Europäer des Mittelalters beeinflußt?

Ernst Schubert wagt am Schluß seines Buches eine Gesamtdeutung des Mittelalters: Das einzig Mittelalterliche am Mittelalter sei die geringe Prägekraft von Normen, Prinzipien und Institutionen und die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren in der Lebenspraxis gewesen, Pluralismus also. Auch hier sind Zweifel und Widerspruch nicht zu unterdrücken: Statt unverbundenes Nebeneinander des Disparaten kennzeichnet das europäische Mittelalter wohl doch die stets ungelöste und wandlungsreiche Spannung von Einheiten und Differenzen.

MICHAEL BORGOLTE

Ernst Schubert: "Alltag im Mittelalter". Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander. Primus Verlag, Darmstadt 2002. 423 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wer hätte das gedacht, staunt Valentin Groebner: Im Mittelalter ging es gar nicht so viel anders zu als heute, berichtet der Rezensent. Denn schon damals beklagte man durch Umweltveränderungen bedingte Überschwemmungen, den Mangel an sauberem Trinkwasser und die Abholzung der Wälder. Und mancher Mensch des 13. Jahrhunderts sei weiter vom Aberglauben entfernt gewesen als Menschen in späteren Jahrhunderten. All das hat der Rezensent dem Band des Göttinger Professors für Landesgeschichte Ernst Schubert entnommen. Mit "Verve", einer gehörigen Portion Ironie und Sachkenntnis berichte der Autor, so Groebner, über Müllhandel und Fäkalien und die Vorliebe einer "proteinarmen" Gesellschaft, mit Vergnügen Singvögel zu verspeisen. So weit, so gut. Im zweiten Teil des Bandes habe der Autor nämlich leider den roten Faden verloren und schreibe so ziemlich über alle Aspekte des mittelalterlichen Lebens. Und, mäkelt Groebner, es dränge sich am Ende doch der Verdacht auf, Schubert sei an genau jenen Klischees über das Mittelalter "kleben geblieben", gegen die er eigentlich habe anschreiben wollen. So fehle hier der Blick auf französische, osteuropäische und italienische Quellen. Schade, bedauert der Rezensent, dass auch ein so "kluges, gelehrtes und ironisches" Buch der auf Deutschland fixierten Landesgeschichte verhaftet geblieben sei.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr