Verliere ich auch nie die Erinnerung an mich selbst ...". Ihrer gewohnten Umgebung entrissen, blieb den Patientinnen psychiatrischer Anstalten oft nicht viel mehr als ihre Erfahrungen und Erinnerungen, ihr Wissen und ihre Kompetenzen - die Praktiken, die sie erlernt hatten und die ihnen vertraut waren. Anhand von Krankenakten und Selbstzeugnissen (textile Arbeiten, Zeichnungen, Briefe, Objekte) aus der Sammlung Prinzhorn geht Monika Ankele in ihrem Buch den oft ephemer erscheinenden alltäglichen Handlungsweisen von Patientinnen psychiatrischer Anstalten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Mit dem Fokus auf Raumaneignungen, auf Formen der Selbstgestaltung, auf Essverhalten oder Arbeitsgewohnheiten zeigt sie, welcher Stellenwert den Alltagspraktiken nicht nur im Blick der Ärzte zukam, sondern welche Bedeutung sie für die Patientinnen - für die Bewältigung des Bruchs, der mit dem Eintritt in eine Anstalt erfahren wurde - einnehmen konnten. Fanden Werke von PsychiatriepatientInnen lange Zeit ausschließlich im Bereich der Kunstgeschichte Beachtung, so werden sie in dieser kulturwissenschaftlich ausgerichteten Studie an Fragen der Alltags- und Psychiatriegeschichte herangeführt. Zugleich ermöglicht der praxistheoretische Ansatz, der dem Buch zugrunde liegt, die Patientinnen als Akteurinnen, als Handelnde und Reagierende in den Vordergrund treten zu lassen.$ $ $0$0$ $0$31.12.1899$ $31.12.1899$0$DUE_IMS_TN$31.12.1899$0$0$AAAGLjAAHAAATW/AAl$
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Frankfurter Allgemeine ZeitungGegenwelten in Zwirn, Bettlaken und Papier
Objekte aus der Anstalt: Ein Katalog und ein Buch geben neue Antworten auf die Frage, warum die Kunst von Außenseitern fasziniert.
Zwei Preise hat die Historikerin Monika Ankele für ihr Buch über die von Frauen gefertigten Bilder und Objekte aus der berühmten Sammlung Prinzhorn bereits erhalten - zum einen den Käthe-Leichter-Preis des österreichischen Bundesfrauenministeriums, zum anderen einen der Stadt Wien. Und tatsächlich fällt die Veröffentlichung von Ankeles Studie, die aus ihrer Doktorarbeit hervorgegangen ist, in eine Zeit, in der die von der Autorin sorgsam erforschten und besprochenen Gegenstände plötzlich wieder besondere Aufmerksamkeit erhalten: Zu "Outsider Art" gibt es derzeit zahlreiche Ausstellungen - zuletzt etwa die Schau "Surrealismus und Wahnsinn" in Heidelberg.
Hervorgehoben wird damit die Kunst von Laien, die weder eine formale Ausbildung zur Malerei oder Skulptur erhielten und ursprünglich auch nicht für den Kunstmarkt produzierten. Das können malende Beamte sein, wie etwa der Zöllner Henri Rousseau, dessen Bilder die Fondation Beyeler in Basel derzeit zeigt. Unter "Outsider Art" fallen aber auch die Werke von Frauen, die in der Psychiatrie malten, zeichneten, töpferten, häkelten, strickten oder nähten. Möglicherweise taucht also das eine oder andere Objekt, das Ankele in ihrem Buch kontextualisiert, demnächst in einer Ausstellung auf, Gelegenheiten gebe es genug.
Auf die Frage also, was an der "Outsider"-Kunst so faszinierend ist, muss eine Antwort gefunden werden. Und das Aufregende ist, dass Ankele eine neue Antwort bietet.
Untersucht wurden Selbstzeugnisse wie Briefe, Texte, Zeichnungen oder textile Arbeiten, die Frauen in Anstalten angefertigt haben und die zwischen 1900 und 1920 in die Lehrsammlung der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg eingingen, die heutige Sammlung Prinzhorn. Im Jahr 1922 verfasste der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn sein Buch "Bildnerei der Geisteskranken", das auf die Kunstgeschichte erheblichen Einfluss ausübte, insbesondere auf die Surrealisten.
Nun blickt Ankele nicht mit den Augen einer Kunsthistorikerin auf diese Selbstzeugnisse von Frauen. Sie betrachtet die Gegenstände aus medizinhistorischer Sicht, insbesondere in der von Roy Porter begründeten Tradition einer patientenorientierten Medizingeschichte. 1985 veröffentlichte Porter den Aufsatz "The Patient's View. Doing Medical History from Below". Die Geschichte der Medizin war bis dahin aus Sicht der Ärzte geschrieben worden. Jetzt sollten die Patienten zu Wort kommen.
Da wäre zum Beispiel die unverheiratete Agnes Richter, die 1895 im Alter von einundfünfzig Jahren in die sächsische Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, eine gelernte Näherin, die ihr Jäckchen mit Textfragmenten bestickte. Als Hausmädchen hatte Richter zuerst in Dresden gedient, war dann für acht Jahre nach Amerika gegangen, kehrte zurück und wurde 1893 zuerst in das "Siechen- und Irrenhaus" nach Dresden gebracht, da sie, wie ihre Akte vermerkt, "durch Unruhe den Hausfrieden gestört" habe. "Meine Jacke", "meine Strümpfe", "ich", "ich bin", "ich heute Fräulein", heißt es in atemlosem Stakkato auf der Jacke, auf dem Ärmel geht es weiter mit "Anstaltsärzte". Richter starb 1918 in der Anstalt.
Da wäre auch der Fall von Hedwig Willms, einer gelernten Schneiderin, die in der Anstalt Berlin zu Buch ausgerechnet ein Service aus Baumwollfäden knüpfte und häkelte, bevor sie sich zu Tode hungerte und im August 1915 starb. Oder da wäre Marie Lieb, die in ihrer Zelle in der psychiatrischen Universitätsirrenklinik in Heidelberg ihr Bettzeug zerriss und zu Mustern auf dem Boden auslegte. Bis auf die Fotografien ihres Zellenbodens aus dem Jahr 1894 ist über sie nichts weiter überliefert.
Richter, Willms und Lieb stehen stellvertretend für eine Vielzahl von Patienten, die aus Zeitungen, Akten, Klopapier, Garnen, Bettlaken, Matratzenfüllungen, aber auch Blut und Kot Bilder, Puppen oder Objekte schufen. In der Kunstgeschichte wurden solche Werke lange als eine Form von gesteigerter Kreativität idealisiert, die angeblich im Wahnsinn freier fließe und nicht durch die Vernunft gehemmt werde. Diese Verbrämung beschreibt der Literaturwissenschaftler Peter Bürger dementsprechend kritisch in dem lesenswerten Katalog "Surrealismus und Wahnsinn". Vor allem André Breton, Autor des 1924 erschienenen "Manifests des Surrealismus", stilisierte die Geisteskranken zu einer Art Vorbild - allerdings, wie Bürger detailreich nachweist, nur auf dem Papier. Die surrealistischen Künstler beharrten auf dem Unterschied zu den nur wortreich umworbenen Irren, eine Distanz, "die sich in der von ihnen eingenommenen Beobachterposition wie in dem von ihnen beanspruchten Deutungsmonopol niederschlägt".
Aus diesem Dilemma weist Ankele den Weg. Sie beschreibt die Objekte und auch Bilder aus der Prinzhorn Sammlung als den Versuch von Patienten, sich ihr entmündigtes Lebens wieder zurückzuholen. Malend, stickend, nähend, kämpften sie gegen den ritualisierten Klinikalltag an, der Individuen zu Fällen macht und Personen zu Krankheitsbildern. Sie waren aus einer Welt herausgeholt worden, in der es schöngedeckte Tische gab, Teppiche oder Bilder an der Wand. Sie wurden in eine Welt gebracht, die aus Ärzten in Kitteln und Anstaltsräumen bestand.
Und es ist wohl dieser Hintergrund, der die Werke für uns heute so berührend macht: Ein ausgebildeter Künstler wie Damien Hirst mag sich der Ölmalerei zuwenden, weil er das für eine kluge Strategie im Kunstmarkt hält. Laien wie Richter, Willms und Lieb aber schufen ihre Objekte, weil sie eine Botschaft hatten. Weil sie eine Gegenwelt brauchten. Ihr Ernst ist bei aller Not auch ein Versprechen.
JULIA VOSS
Monika Ankele: "Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900". Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2009. 306 S., Abb., br., 24,90 [Euro].
"Surrealismus und Wahnsinn". Hrsg. von Thomas Röske und Ingrid von Beyme. Deutsch/Englisch. Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn, Heidelberg 2009. 208 S., Abb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Objekte aus der Anstalt: Ein Katalog und ein Buch geben neue Antworten auf die Frage, warum die Kunst von Außenseitern fasziniert.
Zwei Preise hat die Historikerin Monika Ankele für ihr Buch über die von Frauen gefertigten Bilder und Objekte aus der berühmten Sammlung Prinzhorn bereits erhalten - zum einen den Käthe-Leichter-Preis des österreichischen Bundesfrauenministeriums, zum anderen einen der Stadt Wien. Und tatsächlich fällt die Veröffentlichung von Ankeles Studie, die aus ihrer Doktorarbeit hervorgegangen ist, in eine Zeit, in der die von der Autorin sorgsam erforschten und besprochenen Gegenstände plötzlich wieder besondere Aufmerksamkeit erhalten: Zu "Outsider Art" gibt es derzeit zahlreiche Ausstellungen - zuletzt etwa die Schau "Surrealismus und Wahnsinn" in Heidelberg.
Hervorgehoben wird damit die Kunst von Laien, die weder eine formale Ausbildung zur Malerei oder Skulptur erhielten und ursprünglich auch nicht für den Kunstmarkt produzierten. Das können malende Beamte sein, wie etwa der Zöllner Henri Rousseau, dessen Bilder die Fondation Beyeler in Basel derzeit zeigt. Unter "Outsider Art" fallen aber auch die Werke von Frauen, die in der Psychiatrie malten, zeichneten, töpferten, häkelten, strickten oder nähten. Möglicherweise taucht also das eine oder andere Objekt, das Ankele in ihrem Buch kontextualisiert, demnächst in einer Ausstellung auf, Gelegenheiten gebe es genug.
Auf die Frage also, was an der "Outsider"-Kunst so faszinierend ist, muss eine Antwort gefunden werden. Und das Aufregende ist, dass Ankele eine neue Antwort bietet.
Untersucht wurden Selbstzeugnisse wie Briefe, Texte, Zeichnungen oder textile Arbeiten, die Frauen in Anstalten angefertigt haben und die zwischen 1900 und 1920 in die Lehrsammlung der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg eingingen, die heutige Sammlung Prinzhorn. Im Jahr 1922 verfasste der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn sein Buch "Bildnerei der Geisteskranken", das auf die Kunstgeschichte erheblichen Einfluss ausübte, insbesondere auf die Surrealisten.
Nun blickt Ankele nicht mit den Augen einer Kunsthistorikerin auf diese Selbstzeugnisse von Frauen. Sie betrachtet die Gegenstände aus medizinhistorischer Sicht, insbesondere in der von Roy Porter begründeten Tradition einer patientenorientierten Medizingeschichte. 1985 veröffentlichte Porter den Aufsatz "The Patient's View. Doing Medical History from Below". Die Geschichte der Medizin war bis dahin aus Sicht der Ärzte geschrieben worden. Jetzt sollten die Patienten zu Wort kommen.
Da wäre zum Beispiel die unverheiratete Agnes Richter, die 1895 im Alter von einundfünfzig Jahren in die sächsische Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, eine gelernte Näherin, die ihr Jäckchen mit Textfragmenten bestickte. Als Hausmädchen hatte Richter zuerst in Dresden gedient, war dann für acht Jahre nach Amerika gegangen, kehrte zurück und wurde 1893 zuerst in das "Siechen- und Irrenhaus" nach Dresden gebracht, da sie, wie ihre Akte vermerkt, "durch Unruhe den Hausfrieden gestört" habe. "Meine Jacke", "meine Strümpfe", "ich", "ich bin", "ich heute Fräulein", heißt es in atemlosem Stakkato auf der Jacke, auf dem Ärmel geht es weiter mit "Anstaltsärzte". Richter starb 1918 in der Anstalt.
Da wäre auch der Fall von Hedwig Willms, einer gelernten Schneiderin, die in der Anstalt Berlin zu Buch ausgerechnet ein Service aus Baumwollfäden knüpfte und häkelte, bevor sie sich zu Tode hungerte und im August 1915 starb. Oder da wäre Marie Lieb, die in ihrer Zelle in der psychiatrischen Universitätsirrenklinik in Heidelberg ihr Bettzeug zerriss und zu Mustern auf dem Boden auslegte. Bis auf die Fotografien ihres Zellenbodens aus dem Jahr 1894 ist über sie nichts weiter überliefert.
Richter, Willms und Lieb stehen stellvertretend für eine Vielzahl von Patienten, die aus Zeitungen, Akten, Klopapier, Garnen, Bettlaken, Matratzenfüllungen, aber auch Blut und Kot Bilder, Puppen oder Objekte schufen. In der Kunstgeschichte wurden solche Werke lange als eine Form von gesteigerter Kreativität idealisiert, die angeblich im Wahnsinn freier fließe und nicht durch die Vernunft gehemmt werde. Diese Verbrämung beschreibt der Literaturwissenschaftler Peter Bürger dementsprechend kritisch in dem lesenswerten Katalog "Surrealismus und Wahnsinn". Vor allem André Breton, Autor des 1924 erschienenen "Manifests des Surrealismus", stilisierte die Geisteskranken zu einer Art Vorbild - allerdings, wie Bürger detailreich nachweist, nur auf dem Papier. Die surrealistischen Künstler beharrten auf dem Unterschied zu den nur wortreich umworbenen Irren, eine Distanz, "die sich in der von ihnen eingenommenen Beobachterposition wie in dem von ihnen beanspruchten Deutungsmonopol niederschlägt".
Aus diesem Dilemma weist Ankele den Weg. Sie beschreibt die Objekte und auch Bilder aus der Prinzhorn Sammlung als den Versuch von Patienten, sich ihr entmündigtes Lebens wieder zurückzuholen. Malend, stickend, nähend, kämpften sie gegen den ritualisierten Klinikalltag an, der Individuen zu Fällen macht und Personen zu Krankheitsbildern. Sie waren aus einer Welt herausgeholt worden, in der es schöngedeckte Tische gab, Teppiche oder Bilder an der Wand. Sie wurden in eine Welt gebracht, die aus Ärzten in Kitteln und Anstaltsräumen bestand.
Und es ist wohl dieser Hintergrund, der die Werke für uns heute so berührend macht: Ein ausgebildeter Künstler wie Damien Hirst mag sich der Ölmalerei zuwenden, weil er das für eine kluge Strategie im Kunstmarkt hält. Laien wie Richter, Willms und Lieb aber schufen ihre Objekte, weil sie eine Botschaft hatten. Weil sie eine Gegenwelt brauchten. Ihr Ernst ist bei aller Not auch ein Versprechen.
JULIA VOSS
Monika Ankele: "Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900". Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2009. 306 S., Abb., br., 24,90 [Euro].
"Surrealismus und Wahnsinn". Hrsg. von Thomas Röske und Ingrid von Beyme. Deutsch/Englisch. Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn, Heidelberg 2009. 208 S., Abb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Julia Voss stellt fest, dass es ein wachsendes allgemeines Interesse an so genannter "Outsider Art" gibt und wendet sich gespannt Monika Ankeles aus einer Doktorarbeit hervorgegangenen Studie über künstlerische Arbeiten von Psychiatriepatientinnen um 1900 zu. Ankeles Versuche, eine Antwort darauf zu finden, warum eine solche Faszination von Kunst von Außenseitern, also nicht künstlerisch ausgebildeten Menschen ausgeht, findet die Rezensentin dann richtig aufregend: Die Autorin legt nämlich schlüssig dar, dass die künstlerischen Ausdrucksformen der Psychiatrie-Insassinnen, die in der Sammlung Prinzhorn aufgehoben werden, Ausdruck eines Fluchtwegs aus der Entmündigung und Entindividualisierung des Anstaltslebens darstellt. Und das, so Voss, sei auch das eigentlich Berührende und Fesselnde der im Buch untersuchten Künstlerinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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