Der Krieg ist aus, und den jungen Engländern liegt, so scheint es, die Welt zu Füßen. Peter Morrison, Sohn eines reichen Landbesitzers, hat sich aus hehren Motiven für eine Offiziersausbildung im fernen Bangalore entschieden. In der Indischen Armee will er seinem Land und seinem König für einige Jahre dienen - und etwas von der Welt sehen. Auf dem Truppenschiff "Georgic" trifft er auf zukünftige Kameraden, die es ebenfalls in die legendäre exotische Kolonie zieht. Doch finden sie dort nicht mehr die alten Hierarchien, das lässige Luxusleben und das unbeschwerte Abenteuer vor. Vielmehr kündigt sich überall das Ende der britischen Herrschaft und die Übergabe Indiens an die einheimische muslimische und hinduistische Bevölkerung an. Und so steht Peter und seinen Freunden an der Offiziersschule völlig überraschend ein Inder als Ausbilder gegenüber: der exzentrische und in jeder Hinsicht ungewöhnliche Hauptmann Gilzai Khan. Diesem gelingt es jedoch, die skeptischen Offiziersanwärter für sich zu gewinnen, so dass sie ihm selbst dann noch die Treue halten, als er bei der britischen Regierung in Delhi in Ungnade fällt und die Armee verlassen muss. Als eines Tages die Bahnstation von aufständischen Indern belagert wird und diese Aktion Gilzai Khans Handschrift trägt, steht Peter Morrison vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens.Simon Raven wirft in "Blast nun zum Rückzug" ein eigenwilliges Schlaglicht auf die Kolonialgeschichte und nimmt dabei genüsslich die absurden und unrühmlichen Seiten des Armeelebens und der britischen Oberschicht in den Blick.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nie hat Rezensent Elmar Schenkel so gespannt den Sturz des Empires in Indien verfolgt wie mit Simon Ravens Romanzyklus, dessen zweiter Teil nun in der laut Schenkel gelungenen Übersetzung von Sabine Franke auf Deutsch vorliegt. Wie Ravens Geschichte durch Zeiten und Orte mäandert, bereits bekannte Figuren weiter begleitet und lose Verbindungen zum ersten Teil hält, findet Schenkel fesselnd. Von kolonialer Hybris und dekadenter Untergangsstimmung erzählt der Autor laut Rezensent mit Kenntnis und Tempo. Achtung, Suchtpotenzial!, warnt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2021Uns braucht dort keiner
Ein Roman bläst zum Rückzug aus Indien: Simon Ravens Psychogramm britischer Soldaten
Der Titel könnte aktueller nicht sein. Ein Weltreich bricht zusammen, eine Macht zieht sich zurück. Aber wie sieht dies eigentlich aus für die, die man mit Parolen und Propaganda in die fernen, gefährlichen Grenzbezirke des Imperiums geschickt hat - als "Vorposten des Fortschritts" (Joseph Conrad) - und die nun ihre Sachen gleich wieder packen müssen? Alle Handlungen sind von der Sinnfrage durchlöchert. So zu lesen in Simon Ravens Roman "Blast nun zum Rückzug", dem zweiten Teil des zehnbändigen Zyklus "Almosen fürs Vergessen" (der nun als dritte Übersetzung dieser zehn Bücher auf Deutsch erscheint).
Simon Raven ist einer der großen Außenseiter der englischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, ähnlich wie Anthony Powell, und gleich diesem dem roman-fleuve verschworen, jenem mäandernden Gebilde, das sich durch die Jahrzehnte und Generationen schlängelt wie ein unbemerkter Fluss, mit vertrauten Bewohnern und überraschend auftauchenden Eindringlingen, einer fantastischen Flora und Fauna, die in ihrer Evolution sichtbar werden; Wasser gestaut oder stürzend. Am Ufer gleiten Ruinen und Brückenteile historischer und politischer Art vorbei. Das Panorama kann süchtig machen. Man ist auf der Suche nach den alten Bekannten aus früheren Teilen des Zyklus. Manchmal scheint das vergeblich, sie wollen sich nicht sehen lassen, es schieben sich andere Protagonisten ins Licht, bis dann aus dem Hintergrund wieder ein vertrautes Gesicht hervorschaut, das nun aber merkwürdig fremd geworden ist. Nicht das Bekannte erzeugt ja die Sucht, sondern eben dessen Verfremdung, denn an ihr erkennen wir unsere eigenen Verschiebungen und Verluste, unsere Falten und krummen Wege, kurz, die eigene Befremdlichkeit.
Balzac und Zola waren die ersten in dieser Kunst der historischen Moiré-Effekte, ihnen folgten Romain Rolland oder John Galsworthy. Solche Stammbaumepen sind zwar immer auch eine Suche nach der verlorenen Zeit, aber Raven konterkariert dieses eher sentimentale Bemühen schon im Zyklustitel "Almosen fürs Vergessen". Das Vergessen bildet das Flussbett dieser Romane: Vergessen von eigenen Vergehen, von Freundschaften und kolonialer Dummheit. Und so beginnt denn der Roman damit, dass englische Offiziersanwärter auf dem Schiff ein Verbrechen gegen einen ägyptischen Zauberkünstler begehen und über dieses schnell der Mantel des Vergessens gebreitet wird.
Die Tat selbst, wie vieles auf diesen Seiten, geschieht halb aus Wut und Rache, halb aus kolonialer Arroganz. Ein Vorgeschmack auf das, was die jungen Männer, die durch die schützende Hand der Oberen ungestraft bleiben, in Indien erwartet. Die Hauptfiguren entstammen der Mittel- und Oberschicht, sie haben oft eine Public School, ein Internat absolviert und kennen die Codes von Eton oder Oxford. Raven weiß, wovon er redet, denn er wurde vom Internat Charterhouse verstoßen. Wie es dort zuging, erfährt man übrigens in der Kriegsautobiographie "Goodbye to All That" (1929) von Robert Graves. Männer unter sich, einen ganzen Roman lang, das gärt, und Sexuelles kocht immer wieder auf, ob hetero- oder homosexuell. Da ist der vor sich hin masturbierende Murphy, der in seinen Vorgesetzten verliebte Barry, der kaltblütig agierende Peter Morrison, der sich mit einer indischen Prostituierten einlässt, die sich später an ihm rächen will, der aufmüpfige Alister und der Adlige Muscateer, der an Gelbsucht stirbt. Ob sie es bei der sich auflösenden Armee in Indien überhaupt noch zum Offizier bringen werden? Das ist hier die Frage, denn während sie ankommen, werden immer größere Truppenteile abgezogen.
Als Vorgesetzter wird ihnen nun der muslimische Hauptmann Gilzai Khan vor die Nase gesetzt, ein Zeichen der allmählich schwindenden eigenen Macht. Es sind noch zwei Jahre bis zur indischen Unabhängigkeit und bis zum grausamen Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Hindus, aus dem Pakistan und Ostpakistan (heute Bangladesch) als neue Staaten hervorgehen werden. Der Rassismus und Klassensnobismus der Briten wird durch diesen Gilzai Khan mächtig herausgefordert. Doch er erzieht sie mit harter Hand und nimmt sie beim Wort. Allmählich werden sie sogar zu Freunden, während sich Barry mit ihm sexuell einlässt. Nach der Totenfeier für Muscateer fordert Khan Alister wegen einer Beleidigung heraus, es kommt zu einem üblen Wettkampf der beiden, bei dem Frauen zu Objekten degradiert werden - mehr sind sie in diesem Roman nie. Genau dieser Wettkampf lötet die Freundschaft zwischen den Männern. Zugleich werden wir Zeuge, mit welcher Kälte die Verwandten in England den Tod Muscateers aufnehmen.
Die Zeiten gehen drunter und drüber, in Auflösung ist nicht nur Indien, sondern der Kern des Empire selbst. Als Letzten, die im verfallenden Machtbereich angekommen sind, wird ihnen von den Vorgesetzten Verantwortung eingeschärft, damit der Rückzug kein Chaos bringt. Das ist allerdings schon zwischen Delhi und London entstanden; jederzeit kann die Lage außer Kontrolle geraten. Langeweile, Prügeleien, Drogen und Sexorgien verkünden die Botschaft: Die letzten Tage vor dem imperialen Weltuntergang sind angebrochen. Er kommt jedoch in anderer Form - als Gilzai Khan nämlich verschwindet. Er plant einen Anschlag auf die Briten, um sie, ja, im Lande zu behalten, ganz gegen deren Willen. Denn er als nicht-gläubiger Muslim weiß, was jetzt kommen wird: ein furchtbarer Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen.
An der Verhinderung des Anschlags und der Tötung Khans zerbricht die fragile Freundschaft der Beteiligten zwischen den Kulturen. Hier brechen, anders als bei dem leisen Bröckeln, das man aus E. M. Forsters "A Passage to India" (1924) kennt, die Brücken krachend ein. Sabine Franke hat dem Roman mit seinen schnellen Sprüngen und gewitzten Einlagen in einem ebensolchen Deutsch standgehalten. Wer ihn liest, lernt nicht nur viel über den Zustand Indiens im Jahr nach dem Krieg, sondern versteht auch besser das Wetterleuchten, das aufflammt, wenn Großmächte kollabieren.
ELMAR SCHENKEL
Simon Raven: "Blast nun zum Rückzug". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2021. 261 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman bläst zum Rückzug aus Indien: Simon Ravens Psychogramm britischer Soldaten
Der Titel könnte aktueller nicht sein. Ein Weltreich bricht zusammen, eine Macht zieht sich zurück. Aber wie sieht dies eigentlich aus für die, die man mit Parolen und Propaganda in die fernen, gefährlichen Grenzbezirke des Imperiums geschickt hat - als "Vorposten des Fortschritts" (Joseph Conrad) - und die nun ihre Sachen gleich wieder packen müssen? Alle Handlungen sind von der Sinnfrage durchlöchert. So zu lesen in Simon Ravens Roman "Blast nun zum Rückzug", dem zweiten Teil des zehnbändigen Zyklus "Almosen fürs Vergessen" (der nun als dritte Übersetzung dieser zehn Bücher auf Deutsch erscheint).
Simon Raven ist einer der großen Außenseiter der englischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, ähnlich wie Anthony Powell, und gleich diesem dem roman-fleuve verschworen, jenem mäandernden Gebilde, das sich durch die Jahrzehnte und Generationen schlängelt wie ein unbemerkter Fluss, mit vertrauten Bewohnern und überraschend auftauchenden Eindringlingen, einer fantastischen Flora und Fauna, die in ihrer Evolution sichtbar werden; Wasser gestaut oder stürzend. Am Ufer gleiten Ruinen und Brückenteile historischer und politischer Art vorbei. Das Panorama kann süchtig machen. Man ist auf der Suche nach den alten Bekannten aus früheren Teilen des Zyklus. Manchmal scheint das vergeblich, sie wollen sich nicht sehen lassen, es schieben sich andere Protagonisten ins Licht, bis dann aus dem Hintergrund wieder ein vertrautes Gesicht hervorschaut, das nun aber merkwürdig fremd geworden ist. Nicht das Bekannte erzeugt ja die Sucht, sondern eben dessen Verfremdung, denn an ihr erkennen wir unsere eigenen Verschiebungen und Verluste, unsere Falten und krummen Wege, kurz, die eigene Befremdlichkeit.
Balzac und Zola waren die ersten in dieser Kunst der historischen Moiré-Effekte, ihnen folgten Romain Rolland oder John Galsworthy. Solche Stammbaumepen sind zwar immer auch eine Suche nach der verlorenen Zeit, aber Raven konterkariert dieses eher sentimentale Bemühen schon im Zyklustitel "Almosen fürs Vergessen". Das Vergessen bildet das Flussbett dieser Romane: Vergessen von eigenen Vergehen, von Freundschaften und kolonialer Dummheit. Und so beginnt denn der Roman damit, dass englische Offiziersanwärter auf dem Schiff ein Verbrechen gegen einen ägyptischen Zauberkünstler begehen und über dieses schnell der Mantel des Vergessens gebreitet wird.
Die Tat selbst, wie vieles auf diesen Seiten, geschieht halb aus Wut und Rache, halb aus kolonialer Arroganz. Ein Vorgeschmack auf das, was die jungen Männer, die durch die schützende Hand der Oberen ungestraft bleiben, in Indien erwartet. Die Hauptfiguren entstammen der Mittel- und Oberschicht, sie haben oft eine Public School, ein Internat absolviert und kennen die Codes von Eton oder Oxford. Raven weiß, wovon er redet, denn er wurde vom Internat Charterhouse verstoßen. Wie es dort zuging, erfährt man übrigens in der Kriegsautobiographie "Goodbye to All That" (1929) von Robert Graves. Männer unter sich, einen ganzen Roman lang, das gärt, und Sexuelles kocht immer wieder auf, ob hetero- oder homosexuell. Da ist der vor sich hin masturbierende Murphy, der in seinen Vorgesetzten verliebte Barry, der kaltblütig agierende Peter Morrison, der sich mit einer indischen Prostituierten einlässt, die sich später an ihm rächen will, der aufmüpfige Alister und der Adlige Muscateer, der an Gelbsucht stirbt. Ob sie es bei der sich auflösenden Armee in Indien überhaupt noch zum Offizier bringen werden? Das ist hier die Frage, denn während sie ankommen, werden immer größere Truppenteile abgezogen.
Als Vorgesetzter wird ihnen nun der muslimische Hauptmann Gilzai Khan vor die Nase gesetzt, ein Zeichen der allmählich schwindenden eigenen Macht. Es sind noch zwei Jahre bis zur indischen Unabhängigkeit und bis zum grausamen Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Hindus, aus dem Pakistan und Ostpakistan (heute Bangladesch) als neue Staaten hervorgehen werden. Der Rassismus und Klassensnobismus der Briten wird durch diesen Gilzai Khan mächtig herausgefordert. Doch er erzieht sie mit harter Hand und nimmt sie beim Wort. Allmählich werden sie sogar zu Freunden, während sich Barry mit ihm sexuell einlässt. Nach der Totenfeier für Muscateer fordert Khan Alister wegen einer Beleidigung heraus, es kommt zu einem üblen Wettkampf der beiden, bei dem Frauen zu Objekten degradiert werden - mehr sind sie in diesem Roman nie. Genau dieser Wettkampf lötet die Freundschaft zwischen den Männern. Zugleich werden wir Zeuge, mit welcher Kälte die Verwandten in England den Tod Muscateers aufnehmen.
Die Zeiten gehen drunter und drüber, in Auflösung ist nicht nur Indien, sondern der Kern des Empire selbst. Als Letzten, die im verfallenden Machtbereich angekommen sind, wird ihnen von den Vorgesetzten Verantwortung eingeschärft, damit der Rückzug kein Chaos bringt. Das ist allerdings schon zwischen Delhi und London entstanden; jederzeit kann die Lage außer Kontrolle geraten. Langeweile, Prügeleien, Drogen und Sexorgien verkünden die Botschaft: Die letzten Tage vor dem imperialen Weltuntergang sind angebrochen. Er kommt jedoch in anderer Form - als Gilzai Khan nämlich verschwindet. Er plant einen Anschlag auf die Briten, um sie, ja, im Lande zu behalten, ganz gegen deren Willen. Denn er als nicht-gläubiger Muslim weiß, was jetzt kommen wird: ein furchtbarer Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen.
An der Verhinderung des Anschlags und der Tötung Khans zerbricht die fragile Freundschaft der Beteiligten zwischen den Kulturen. Hier brechen, anders als bei dem leisen Bröckeln, das man aus E. M. Forsters "A Passage to India" (1924) kennt, die Brücken krachend ein. Sabine Franke hat dem Roman mit seinen schnellen Sprüngen und gewitzten Einlagen in einem ebensolchen Deutsch standgehalten. Wer ihn liest, lernt nicht nur viel über den Zustand Indiens im Jahr nach dem Krieg, sondern versteht auch besser das Wetterleuchten, das aufflammt, wenn Großmächte kollabieren.
ELMAR SCHENKEL
Simon Raven: "Blast nun zum Rückzug". Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2021. 261 S., geb., 22,- [Euro].
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