Man schreibt das Jahr 1967 am altehrwürdigen Lancaster College der Universität Cambridge, und die Zeichen stehen auf Sturm. Zu den üblichen Grabenkämpfen zwischen den Professoren kommen die Forderungen einer politisierten Studentenschaft. Angeführt wird die Rebellion von Hugh Balliston, einem begabten jungen Intellektuellen, der auch die attraktive Hetta für seine Sache eingespannt hat. Doch Hugh gerät zunehmend unter den Einfluss eines externen Agitators, der ihn zu immer drastischeren Aktionen treibt. Als anlässlich eines Madrigalkonzertes der Kapelle des Colleges, einem der bedeutendsten Sakralbauten des Landes, eine rabiate Entweihung und ein moderner Bildersturm droht, geht es mit einem Mal nicht mehr nur um die Überwindung oder Bewahrung alter Traditionen und Glaubenssätze, sondern um Leben und Tod. Im siebten Band seiner Romanreihe "Almosen fürs Vergessen" widmet sich Simon Raven mit unverkennbarer Verehrung für den historischen Schauplatz auf gewohnt unterhaltsame und bissige Weise einem weiteren Meilenstein der britischen Nachkriegsgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2023Ohne Krawall kein Gewissen
Simon Raven blickt im Roman "Wo man singt" mit bösem Spott auf die revolutionären Umtriebe an den Universitäten der späten Sechzigerjahre.
Am morgigen Fronleichnamsfeiertag ziehen traditionell Prozessionen durch katholische Gemeinden. Im Lancaster College der Universität Cambridge ist man nicht katholisch, aber eine Prozession gibt es auch dort, allerdings eine unerwünschte (die zudem im April stattfindet). Sie ist der Zielpunkt in Simon Ravens Roman "Wo man singt", der dieses fiktive College - das aber bis ins kleinste Detail dem berühmten King's College gleicht, wo der 1927 geborene Raven kurz nach dem Krieg die alten Sprachen studierte - zum einzigen Schauplatz hat. Wer die anderen Bände des insgesamt zehnteiligen Romanzyklus "Almosen fürs Vergessen", dessen handlungschronologisch siebter Band "Wo man singt" ist, kennt, der wird ahnen, dass es bei einer solchen räumlichen Beschränkung um einen Ort gehen muss, der dem Verfasser sehr am Herzen lag. Im Auftaktband "Fielding Gray" war es ein elitäres Jungsinternat, danach aber führten Ravens Bücher ihre immer wiederkehrenden Figuren rund um die Welt - das britische Empire, schon zerbröselnd, ließ grüßen. In dem vor einem halben Jahr auf Deutsch erschienenen sechsten Band, "Judasjunge", ging es etwa von London über den Balkan nach Athen und dann vor allem nach Kreta. Das spielte sich 1963 ab; im siebten Teil ist man nun vier Jahre weiter und zurück in good old England.
Wobei es längst nicht mehr gut ums Land steht. Gleich zu Beginn, der das Gespräch zweier Fellows des Colleges bietet, spricht Raven "die allgemein herrschende Toleranz, die in diesen modernen Zeiten und in seinem Beruf" - eines der Fellows - "von ihm gefordert war", an, um eine seiner Figuren nur zwei Seiten später auf die Krönungsfeierlichkeiten von 1953 zurückblicken zu lassen: "Damals", sagt sie zu der anderen, "hat dir der vollkommen irrsinnige Gedanke vorgeschwebt, dass man zu Beginn einer neuen Regentschaft am besten lauter alte Bräuche abschafft." Das hätte auch alles heute auf einem Universitätstennisplatz gesagt werden können; und man merkt Ravens Schreiben an, dass seine Sympathien nicht gesellschaftlichen Unruhestiftern gelten. Dabei liebte er selbst die Provokation. Die antisemitischen Klischees, die seinen jüdischen Protagonisten entgegengebracht werden, dürfen noch als Figurenrede durchgehen, aber die sehr offenherzige Sexualität in all ihren Versionen und Perversionen ist ein Herzensanliegen des Autors, der selbst wegen seiner relativ offen ausgelebten Homosexualität zu Lebzeiten (Raven starb 2001) als ein Enfant terrible der englischen Literatur angesehen wurde. Lustvoll zitiert der deutsche Verlag die Rezension von "Places Where They Sing" (so der Originaltitel des Romans) durch das "Times Literary Supplement" im Jahr 1970, die den Büchern des Zyklus insgesamt bescheinigte, eine geeignete Vorlage für eine Fernsehserie abzugeben - "wären sie weniger anstößig".
Man hätte auch schreiben können: "wären sie weniger ironisch". Denn Raven hat einen Heidenspaß an der Diskreditierung seines eigenen Personals. In diesem nun erstmals (wie alle Raven- Bücher des Elfenbein Verlags von Sabine Franke) ins Deutsche übersetzten Band zumal, denn der Handlungszeitpunkt 1967 gab dem damals gerade mal vierzigjährigen Spötter angesichts der beginnenden Hippiebewegung und des revolutionäre Brodelns an den Universitäten die schönste Basis für seinen Zynismus. In seinem Lancaster College betreiben einzelne Dozenten die Weltrevolution, und von außen wird ein charismatischer kommunistischer Agitator entsandt, der dafür sorgen soll, dass die institutionelle Ordnung zusammenbricht. Was wäre dafür besser geeignet, als den symbolträchtigsten Tag des Universitätslebens zu instrumentalisieren: ein Madrigalkonzert des Knabenchors vor dem gotischen Wunderwerk der Kapelle von Lancaster College. Es kommt zu der erwähnten Prozession: einem studentischen Protestzug mitten ins Publikum des Konzerts, der reichlich Provokationspotential enthält. Raven lässt einen der Organisatoren zu seinen Kritikern sprechen, als hätte es damals schon die Letzte Generation gegeben: "Sie sind alle so zufrieden mit sich und der Welt, dass es unsere Pflicht ist, Sie aufzurütteln! Sie haben zugelassen, dass Ihre Gewissen inzwischen vor Lethargie gelähmt sind, und wenn wir keinen Krawall machen, werden wir es nie schaffen, Sie wachzurütteln." Es gibt, das lehrt Raven, nichts Neues unter der Sonne, nicht hinsichtlich der Sorglosigkeit und nicht hinsichtlich der Rücksichtslosigkeit.
Auch nicht hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Kontext, denn der dienstälteste Fellow wirft begehrliche Blicke auf zwei hübsche Chorknaben, und da Raven zwar drastisch in seinen erotischen (bisweilen auch fast pornographischen) Anspielungen ist, aber seinem Publikum den eigentlichen Akt diskret verschweigt, mag man sich seine Gedanken darüber machen, ob der Lustgreis schon einmal an seine unschuldige Beute gekommen ist. Raven macht aus den beiden Jungs immerhin ein bauernschlaues Duo, das zwar noch nichts vom Hintergrund des ihnen entgegengebrachten Interesses ahnt, aber es schon durchaus wahrnimmt und für ebenso eigentümlich wie bedenklich erachtet.
So wird der mehr als ein halbes Jahrhundert alte Roman "Wo man singt" zu einem verblüffend hellsichtig daherkommenden Buch, währen die andern bisher auf Deutsch erschienenen Teile der "Almosen fürs Vergessen" eher als Zeitporträts (gerade auch in politischer Hinsicht) interessant sind. Gelesen haben muss man sie übrigens nicht notwendig, um den neuen Band zu verstehen - obwohl einem dann einiges entgangen ist, denn Ravens Witz geht über Zynismus weit hinaus. Das Personal des Zyklus taucht zwar immer wieder auf, doch es gibt auch jeweils knappe Rückblenden, die die fürs Nachvollziehen der jeweiligen Konstellationen notwendigen Kenntnisse sicherstellen. Aber um etwa den Provost (also Vorgesetzten) des Colleges, Robert Reculver Constable, in seinem Verhalten ganz würdigen zu können, muss man nicht nur wissen, dass er es war, der dem zentralen Akteur des Zyklus, dem Schriftsteller Fielding Gray, weiland die Aufnahme als Student verweigert hatte. Man sollte auch seinen im ersten Band vorgestellten moralischen Rigorismus kennen.
Solche Kontinuitäten, die nach Jahrzehnten Handlungszeit plötzlich wichtig werden, machen "Almosen fürs Vergessen" zu einem höchst ambitionierten und auch höchst unterhaltsamen Erzählprojekt. Drei Bände sind wir noch vom Abschluss des ehrgeizigen Übersetzungsplans entfernt, der mit bewundernswerter Pünktlichkeit abläuft: jedes halbe Jahr ein weiterer Baustein zu einer der sarkastischsten Romanfolgen der englischen Literatur. ANDREAS PLATTHAUS
Simon Raven: "Wo man singt". Almosen fürs Vergessen, Band 7.
Aus dem Englischen von Sabine Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2023. 263 S., geb., 22,- Euro, bei Subskription aller zehn Bände 19,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simon Raven blickt im Roman "Wo man singt" mit bösem Spott auf die revolutionären Umtriebe an den Universitäten der späten Sechzigerjahre.
Am morgigen Fronleichnamsfeiertag ziehen traditionell Prozessionen durch katholische Gemeinden. Im Lancaster College der Universität Cambridge ist man nicht katholisch, aber eine Prozession gibt es auch dort, allerdings eine unerwünschte (die zudem im April stattfindet). Sie ist der Zielpunkt in Simon Ravens Roman "Wo man singt", der dieses fiktive College - das aber bis ins kleinste Detail dem berühmten King's College gleicht, wo der 1927 geborene Raven kurz nach dem Krieg die alten Sprachen studierte - zum einzigen Schauplatz hat. Wer die anderen Bände des insgesamt zehnteiligen Romanzyklus "Almosen fürs Vergessen", dessen handlungschronologisch siebter Band "Wo man singt" ist, kennt, der wird ahnen, dass es bei einer solchen räumlichen Beschränkung um einen Ort gehen muss, der dem Verfasser sehr am Herzen lag. Im Auftaktband "Fielding Gray" war es ein elitäres Jungsinternat, danach aber führten Ravens Bücher ihre immer wiederkehrenden Figuren rund um die Welt - das britische Empire, schon zerbröselnd, ließ grüßen. In dem vor einem halben Jahr auf Deutsch erschienenen sechsten Band, "Judasjunge", ging es etwa von London über den Balkan nach Athen und dann vor allem nach Kreta. Das spielte sich 1963 ab; im siebten Teil ist man nun vier Jahre weiter und zurück in good old England.
Wobei es längst nicht mehr gut ums Land steht. Gleich zu Beginn, der das Gespräch zweier Fellows des Colleges bietet, spricht Raven "die allgemein herrschende Toleranz, die in diesen modernen Zeiten und in seinem Beruf" - eines der Fellows - "von ihm gefordert war", an, um eine seiner Figuren nur zwei Seiten später auf die Krönungsfeierlichkeiten von 1953 zurückblicken zu lassen: "Damals", sagt sie zu der anderen, "hat dir der vollkommen irrsinnige Gedanke vorgeschwebt, dass man zu Beginn einer neuen Regentschaft am besten lauter alte Bräuche abschafft." Das hätte auch alles heute auf einem Universitätstennisplatz gesagt werden können; und man merkt Ravens Schreiben an, dass seine Sympathien nicht gesellschaftlichen Unruhestiftern gelten. Dabei liebte er selbst die Provokation. Die antisemitischen Klischees, die seinen jüdischen Protagonisten entgegengebracht werden, dürfen noch als Figurenrede durchgehen, aber die sehr offenherzige Sexualität in all ihren Versionen und Perversionen ist ein Herzensanliegen des Autors, der selbst wegen seiner relativ offen ausgelebten Homosexualität zu Lebzeiten (Raven starb 2001) als ein Enfant terrible der englischen Literatur angesehen wurde. Lustvoll zitiert der deutsche Verlag die Rezension von "Places Where They Sing" (so der Originaltitel des Romans) durch das "Times Literary Supplement" im Jahr 1970, die den Büchern des Zyklus insgesamt bescheinigte, eine geeignete Vorlage für eine Fernsehserie abzugeben - "wären sie weniger anstößig".
Man hätte auch schreiben können: "wären sie weniger ironisch". Denn Raven hat einen Heidenspaß an der Diskreditierung seines eigenen Personals. In diesem nun erstmals (wie alle Raven- Bücher des Elfenbein Verlags von Sabine Franke) ins Deutsche übersetzten Band zumal, denn der Handlungszeitpunkt 1967 gab dem damals gerade mal vierzigjährigen Spötter angesichts der beginnenden Hippiebewegung und des revolutionäre Brodelns an den Universitäten die schönste Basis für seinen Zynismus. In seinem Lancaster College betreiben einzelne Dozenten die Weltrevolution, und von außen wird ein charismatischer kommunistischer Agitator entsandt, der dafür sorgen soll, dass die institutionelle Ordnung zusammenbricht. Was wäre dafür besser geeignet, als den symbolträchtigsten Tag des Universitätslebens zu instrumentalisieren: ein Madrigalkonzert des Knabenchors vor dem gotischen Wunderwerk der Kapelle von Lancaster College. Es kommt zu der erwähnten Prozession: einem studentischen Protestzug mitten ins Publikum des Konzerts, der reichlich Provokationspotential enthält. Raven lässt einen der Organisatoren zu seinen Kritikern sprechen, als hätte es damals schon die Letzte Generation gegeben: "Sie sind alle so zufrieden mit sich und der Welt, dass es unsere Pflicht ist, Sie aufzurütteln! Sie haben zugelassen, dass Ihre Gewissen inzwischen vor Lethargie gelähmt sind, und wenn wir keinen Krawall machen, werden wir es nie schaffen, Sie wachzurütteln." Es gibt, das lehrt Raven, nichts Neues unter der Sonne, nicht hinsichtlich der Sorglosigkeit und nicht hinsichtlich der Rücksichtslosigkeit.
Auch nicht hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Kontext, denn der dienstälteste Fellow wirft begehrliche Blicke auf zwei hübsche Chorknaben, und da Raven zwar drastisch in seinen erotischen (bisweilen auch fast pornographischen) Anspielungen ist, aber seinem Publikum den eigentlichen Akt diskret verschweigt, mag man sich seine Gedanken darüber machen, ob der Lustgreis schon einmal an seine unschuldige Beute gekommen ist. Raven macht aus den beiden Jungs immerhin ein bauernschlaues Duo, das zwar noch nichts vom Hintergrund des ihnen entgegengebrachten Interesses ahnt, aber es schon durchaus wahrnimmt und für ebenso eigentümlich wie bedenklich erachtet.
So wird der mehr als ein halbes Jahrhundert alte Roman "Wo man singt" zu einem verblüffend hellsichtig daherkommenden Buch, währen die andern bisher auf Deutsch erschienenen Teile der "Almosen fürs Vergessen" eher als Zeitporträts (gerade auch in politischer Hinsicht) interessant sind. Gelesen haben muss man sie übrigens nicht notwendig, um den neuen Band zu verstehen - obwohl einem dann einiges entgangen ist, denn Ravens Witz geht über Zynismus weit hinaus. Das Personal des Zyklus taucht zwar immer wieder auf, doch es gibt auch jeweils knappe Rückblenden, die die fürs Nachvollziehen der jeweiligen Konstellationen notwendigen Kenntnisse sicherstellen. Aber um etwa den Provost (also Vorgesetzten) des Colleges, Robert Reculver Constable, in seinem Verhalten ganz würdigen zu können, muss man nicht nur wissen, dass er es war, der dem zentralen Akteur des Zyklus, dem Schriftsteller Fielding Gray, weiland die Aufnahme als Student verweigert hatte. Man sollte auch seinen im ersten Band vorgestellten moralischen Rigorismus kennen.
Solche Kontinuitäten, die nach Jahrzehnten Handlungszeit plötzlich wichtig werden, machen "Almosen fürs Vergessen" zu einem höchst ambitionierten und auch höchst unterhaltsamen Erzählprojekt. Drei Bände sind wir noch vom Abschluss des ehrgeizigen Übersetzungsplans entfernt, der mit bewundernswerter Pünktlichkeit abläuft: jedes halbe Jahr ein weiterer Baustein zu einer der sarkastischsten Romanfolgen der englischen Literatur. ANDREAS PLATTHAUS
Simon Raven: "Wo man singt". Almosen fürs Vergessen, Band 7.
Aus dem Englischen von Sabine Franke. Elfenbein Verlag, Berlin 2023. 263 S., geb., 22,- Euro, bei Subskription aller zehn Bände 19,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus fühlt sich vom Sarkasmus im siebten Band des Romanzyklus "Almosen fürs Vergessen" des britischen Autors Simon Raven gut unterhalten. Der Autor siedelt seine Handlung in einem "fiktiven College" an, das der Kritiker aber sofort als das berühmte King's College, an dem der Autor selbst studierte, identifizieren kann. Ravens Zynismus gilt diesmal den Anfängen der 68er-Proteste an den Universitäten und der beginnenden Hippie-Bewegung, lesen wir. Den Höhepunkt der Handlung stellt die geplante Sabotage eines Madrigalkonzerts des College-Knabenchors durch die revolutionierenden Studenten dar, verrät Platthaus, bei dem, unterstützt durch einen kommunistischen Agitator, die "institutionelle Ordnung" zum Einsturz gebracht werden soll. Das Buch überzeugt den Kritiker nicht nur durch seinen spöttischen Blick auf das eigenen Figurenpersonal, sondern auch durch seine - das Buch erschien im Original 1972 - verblüffende Aktualität: Viele Dialoge könnten heute noch so geführt werden, meint Platthaus, Themen wie politischer Idealismus, aber auch sexueller Missbrauch in der Kirche werden hier verhandelt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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