Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.06.2010Die Schönheit eines Eukaryonten
Rätselhafter Monolith: Jens Harders gezeichnete Weltgeschichte „Alpha . . . directions“
Am Anfang war der Punkt. Mit jeder Seite wächst er, wie im Daumenkino, bis er zum Kreis wird, von dessen Explosion gerade Linien zurückbleiben. Als Geburt der Form inszeniert der Comic-Künstler Jens Harder den Urknall. Was dann in seinem vierten Album „Alpha . . . directions“ folgt, ist nichts weniger als 14 Milliarden Jahre Weltgeschichte bis zur Entstehung des Menschen, auf knapp 350 Seiten in mehr als 2000 Zeichnungen.
In der überschaubaren Menge von Comic-Neuerscheinungen der etablierten Verlage wirkt dieses gerade beim Erlanger Comic-Salon als bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnete Buch wie der rätselhafte Monolith aus Stanley Kubricks „2001“. Kurios und zugleich bezeichnend sind auch die Umstände, unter denen es nun hierzulande erscheint. Denn nach fünf Jahren Arbeit fand der 1970 in der DDR geborene Harder keinen deutschen Verlag, sodass „Alpha . . . directions“ zuerst 2009 im comicaffinen Frankreich veröffentlicht wurde, wo es sofort zum vieldiskutierten Erfolg wurde. Beim weltweit wichtigsten Comicfestival in Angoulême schließlich erhielt es den „Prix de l’Audace“, den Preis für Wagemut, was bei dem im gleichen Maße großartigen wie größenwahnsinnigen ersten Band einer geplanten Trilogie über die Vergangenheit und Zukunft der Erde nicht verwundert.
Tatsächlich fällt es schwer, eine Kategorie für „Alpha . . . directions“ zu finden, funktioniert der Comic doch genauso als bebildertes Sachbuch wie auch als Kunstwerk. Zunächst erstaunt die schiere Fülle an Wissen, die der gelernte Grafiker Harder in seinem Buch versammelt, wobei er nie in unverständlichen Fachjargon verfällt. Jedes Kapitel beschreibt ein Weltzeitalter und seine Untersysteme; jeweils am Ende listet eine Zeittafel nochmals die wichtigsten Ereignisse auf. Seit Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ hat man nicht mehr mit so viel Vergnügen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gelesen, von der Entwicklung der Moleküle und der RNS über das Auseinanderdriften der Kontinente bis hin zum Untergang der Dinosaurier und Auftritt des Affen. Sicherlich ließe sich einwenden, dass Harder manchmal, wie etwa beim Aussterben der Saurier durch einen Kometeneinschlag, bloßen Hypothesen den Status von Fakten zukommen und keinen Platz für Zweifel an der vollkommenen Erkennbarkeit vorgeschichtlicher Abläufe lässt. Auch wirken die kurzen bildbegleitenden Texte hier und da etwas ungelenk. Etwa wenn davon die Rede ist, dass die Oberfläche der Urozeane stur schweige oder eine Weiterentwicklung ihre „Uraufführung“ erlebe.
Angesichts von Harders bahnbrechendem visuellen Konzept fallen diese Kritikpunkte allerdings kaum ins Gewicht. Ebenso überraschend wie einleuchtend wird jedes Kapitel monochrom in einem einzigen Farbton gehalten, von Rot über Grün zu Blau und wieder zu Rot, was den ständigen Wechsel von Erwärmung und Abkühlung des Planeten symbolisiert. Noch für die sprödesten Sachverhalte findet Harder großartig sinnliche Bilder, die meistens für sich allein stehen, vergehen doch zwischen ihnen nicht Sekunden wie normalerweise im Comic, sondern Millennien. Wo andere Zeichner an der Statik des Geschehens und an der Visualisierung des Satzes „Bereits erprobt von Radiolarien reichern manche Arten nach mathematischen Prinzipien kalkhaltige Abfallprodukte an“ verzweifeln würden, inspiriert Harder diese unmögliche Ausgangslage zu verblüffenden Einfällen. Mal als Stammbaum, mal als chemische Darstellung, mal als Panorama, miniaturhaft klein oder doppelseitig – auf den holzschnittartigen Panels wird die Schönheit eines Eukaryonten ebenso zum Ereignis wie die von Insekten bevölkerten Urwälder.
Als größter Trumpf des Buches erweist sich Harders Entscheidung, die Evolution nicht einfach brav chronologisch zu bebildern, sondern mit jedem neuen Phänomen auch dessen visuelle Verarbeitung im Lauf der Kulturgeschichte zu zeigen. Die Entstehung des Mondes zieht beispielsweise eine Flut von bekannten Ikonen nach sich: von antiken Sternenkarten über Illustrationen aus Jules Vernes „Reise zum Mond“ bis hin zu Bildern von der ersten Mondlandung; auf den Beginn des Fressens und Gefressenwerdens der Arten folgen Darstellungen der Verheerung von den Hieroglyphen der Ureinwohner Südamerikas über mittelalterliche Totentänze bis zu Goyas „Schwarzen Gemälden“. Hin und wieder finden zwischen den Bildern halsbrecherische Zeitsprünge statt; so, wenn eben noch die Ausbildung von Tiergehäusen anhand von Korallenriffs erklärt werden und gleich im Anschluss Container und Hochhäuser zu sehen sind.
Zwar bleibt abzuwarten, ob Harders Konzept auch in den folgenden beiden Büchern „Beta . . civilizations“, über die Menschheitsgeschichte, und „Gamma . . . visions“, über Zukunftsvisionen, tragen wird. „Alpha . .. directions“ jedenfalls ist ein Comic wie es ihn schon lange nicht mehr gegeben hat: vielschichtig, sperrig, sinnlich, provokant, grandios. THOMAS VON STEINAECKER
JENS HARDER: Alpha . . . directions. Carlsen Verlag, Hamburg 2010. 360 Seiten, 49,90 Euro.
Zwischen den Bildern
vergehen nicht Sekunden,
sondern Millennien
„Das Fressen und Gefressenwerden mündet in etwas Neues. Denn einige der Opfer wappnen sich zum blinden Passagier.“ – Die Taktik der Symbiose bringt Chloroplasten und Mitochondrien hervor. Abb. aus d. bespr. Band
Mit muskulösen Flossenbeinen erobern die Fische das Land.
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Rätselhafter Monolith: Jens Harders gezeichnete Weltgeschichte „Alpha . . . directions“
Am Anfang war der Punkt. Mit jeder Seite wächst er, wie im Daumenkino, bis er zum Kreis wird, von dessen Explosion gerade Linien zurückbleiben. Als Geburt der Form inszeniert der Comic-Künstler Jens Harder den Urknall. Was dann in seinem vierten Album „Alpha . . . directions“ folgt, ist nichts weniger als 14 Milliarden Jahre Weltgeschichte bis zur Entstehung des Menschen, auf knapp 350 Seiten in mehr als 2000 Zeichnungen.
In der überschaubaren Menge von Comic-Neuerscheinungen der etablierten Verlage wirkt dieses gerade beim Erlanger Comic-Salon als bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnete Buch wie der rätselhafte Monolith aus Stanley Kubricks „2001“. Kurios und zugleich bezeichnend sind auch die Umstände, unter denen es nun hierzulande erscheint. Denn nach fünf Jahren Arbeit fand der 1970 in der DDR geborene Harder keinen deutschen Verlag, sodass „Alpha . . . directions“ zuerst 2009 im comicaffinen Frankreich veröffentlicht wurde, wo es sofort zum vieldiskutierten Erfolg wurde. Beim weltweit wichtigsten Comicfestival in Angoulême schließlich erhielt es den „Prix de l’Audace“, den Preis für Wagemut, was bei dem im gleichen Maße großartigen wie größenwahnsinnigen ersten Band einer geplanten Trilogie über die Vergangenheit und Zukunft der Erde nicht verwundert.
Tatsächlich fällt es schwer, eine Kategorie für „Alpha . . . directions“ zu finden, funktioniert der Comic doch genauso als bebildertes Sachbuch wie auch als Kunstwerk. Zunächst erstaunt die schiere Fülle an Wissen, die der gelernte Grafiker Harder in seinem Buch versammelt, wobei er nie in unverständlichen Fachjargon verfällt. Jedes Kapitel beschreibt ein Weltzeitalter und seine Untersysteme; jeweils am Ende listet eine Zeittafel nochmals die wichtigsten Ereignisse auf. Seit Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ hat man nicht mehr mit so viel Vergnügen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gelesen, von der Entwicklung der Moleküle und der RNS über das Auseinanderdriften der Kontinente bis hin zum Untergang der Dinosaurier und Auftritt des Affen. Sicherlich ließe sich einwenden, dass Harder manchmal, wie etwa beim Aussterben der Saurier durch einen Kometeneinschlag, bloßen Hypothesen den Status von Fakten zukommen und keinen Platz für Zweifel an der vollkommenen Erkennbarkeit vorgeschichtlicher Abläufe lässt. Auch wirken die kurzen bildbegleitenden Texte hier und da etwas ungelenk. Etwa wenn davon die Rede ist, dass die Oberfläche der Urozeane stur schweige oder eine Weiterentwicklung ihre „Uraufführung“ erlebe.
Angesichts von Harders bahnbrechendem visuellen Konzept fallen diese Kritikpunkte allerdings kaum ins Gewicht. Ebenso überraschend wie einleuchtend wird jedes Kapitel monochrom in einem einzigen Farbton gehalten, von Rot über Grün zu Blau und wieder zu Rot, was den ständigen Wechsel von Erwärmung und Abkühlung des Planeten symbolisiert. Noch für die sprödesten Sachverhalte findet Harder großartig sinnliche Bilder, die meistens für sich allein stehen, vergehen doch zwischen ihnen nicht Sekunden wie normalerweise im Comic, sondern Millennien. Wo andere Zeichner an der Statik des Geschehens und an der Visualisierung des Satzes „Bereits erprobt von Radiolarien reichern manche Arten nach mathematischen Prinzipien kalkhaltige Abfallprodukte an“ verzweifeln würden, inspiriert Harder diese unmögliche Ausgangslage zu verblüffenden Einfällen. Mal als Stammbaum, mal als chemische Darstellung, mal als Panorama, miniaturhaft klein oder doppelseitig – auf den holzschnittartigen Panels wird die Schönheit eines Eukaryonten ebenso zum Ereignis wie die von Insekten bevölkerten Urwälder.
Als größter Trumpf des Buches erweist sich Harders Entscheidung, die Evolution nicht einfach brav chronologisch zu bebildern, sondern mit jedem neuen Phänomen auch dessen visuelle Verarbeitung im Lauf der Kulturgeschichte zu zeigen. Die Entstehung des Mondes zieht beispielsweise eine Flut von bekannten Ikonen nach sich: von antiken Sternenkarten über Illustrationen aus Jules Vernes „Reise zum Mond“ bis hin zu Bildern von der ersten Mondlandung; auf den Beginn des Fressens und Gefressenwerdens der Arten folgen Darstellungen der Verheerung von den Hieroglyphen der Ureinwohner Südamerikas über mittelalterliche Totentänze bis zu Goyas „Schwarzen Gemälden“. Hin und wieder finden zwischen den Bildern halsbrecherische Zeitsprünge statt; so, wenn eben noch die Ausbildung von Tiergehäusen anhand von Korallenriffs erklärt werden und gleich im Anschluss Container und Hochhäuser zu sehen sind.
Zwar bleibt abzuwarten, ob Harders Konzept auch in den folgenden beiden Büchern „Beta . . civilizations“, über die Menschheitsgeschichte, und „Gamma . . . visions“, über Zukunftsvisionen, tragen wird. „Alpha . .. directions“ jedenfalls ist ein Comic wie es ihn schon lange nicht mehr gegeben hat: vielschichtig, sperrig, sinnlich, provokant, grandios. THOMAS VON STEINAECKER
JENS HARDER: Alpha . . . directions. Carlsen Verlag, Hamburg 2010. 360 Seiten, 49,90 Euro.
Zwischen den Bildern
vergehen nicht Sekunden,
sondern Millennien
„Das Fressen und Gefressenwerden mündet in etwas Neues. Denn einige der Opfer wappnen sich zum blinden Passagier.“ – Die Taktik der Symbiose bringt Chloroplasten und Mitochondrien hervor. Abb. aus d. bespr. Band
Mit muskulösen Flossenbeinen erobern die Fische das Land.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jens Harders Comic-Weltgeschichte ist ein kühnes Unterfangen, das Kunst und Naturwissenschaft auf das Faszinierendste verbindet, schreibt hingerissen Rezensent Thomas von Steinaecker. Es wundert ihn deshalb auch nicht, dass dieser erste Teil einer Trilogie in Frankreich, wo das Album 2009 zuerst erschien, einen Preis für "Wagemut" erhielt. Selten habe man derart vergnüglich über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gelesen, freut sich der Rezensent, der den profunden Sachverstand des 1970 in der DDR geborenen Zeichners hervorhebt. Insbesondere das "bahnbrechende visuelle Konzept" dieses Buches aber begeistert Steinaecker, der deshalb die mitunter etwas ungeschickten bildbegleitenden Texte und die unerschütterliche Gewissheit auch über bloß Hypothesen ganz unerheblich findet. Harders Fähigkeit, noch die trockensten Zusammenhänge in atemberaubende Bilder umzusetzen, entschädigt dafür voll und ganz, schwärmt der Rezensent, der diesen Comic gar nicht genug für seine Originalität, seine Vielschichtigkeit und seine Sinnlichkeit preisen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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