Soll man lieber verreisen oder lesen? Martin Mosebach versteht von beidem etwas, und so schaffen seine Erkundungen die überraschendsten Konstellationen. Die Beschäftigung mit Orient und Okzident führt ihn nach Kairo und in das Kloster Shio Mghvime, lässt ihn aber auch Heimito von Doderers Kunst des Bogenschießens entdecken. Die große Geschichte in den kleinen Geschichten entdeckt er beim Romanlesen ebenso wie auf der Reise nach Havanna, Korea oder Sarajevo. Martin Mosebachs Kunst als Romancier und Essayist wurde oft gerühmt, schafft er es doch, das Vertrauteste so darzustellen, als habe man es noch nie gesehen. Dieses große Buch ist die Summe seines Reisens und Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Gewitter am Himmel der Ikonen
Weltbürger und Lokalpatriot: Martin Mosebach nimmt uns mit zu seinen irdischen und literarischen Aufbrüchen. "Als das Reisen noch geholfen hat" erzählt von Büchern, Orten und Fluchten. Vor allem der Osten zieht den Autor an.
Von Sandra Kegel
Um über Frankfurt schreiben zu können, muss Martin Mosebach der Stadt erst einmal entkommen. Das zeigt nicht nur sein jüngster Roman "Was davor geschah", der im Großbürgertum seiner Geburtsstadt spielt und doch ganz woanders entstand, nämlich in einem Kloster in Georgien, einem Ort also, der dem Taunus-Milieu ferner nicht sein könnte. Auch andere Werke des Büchnerpreisträgers sind aus der Distanz zu ihrem Sujet verfasst. Auf Capri schrieb Mosebach "Westend", das in Indien spielende "Beben" entstand im Schweizer Wallis, unlängst reiste er für ein neues Buch nach Sri Lanka.
Gerade den Schriftstellern muss es dabei viel eher noch als den alle Sprachgrenzen überwindenden Musikern oder Malern schwerfallen, sich künstlerisch zu entwurzeln. Der Autor nimmt ja nicht nur den Geschmack und die Sehweisen seiner Heimat im Gepäck mit, sondern vor allem sein ureigenes künstlerisches Ausdrucksmittel. Wer dagegen behauptet, nicht ein Land, sondern die Sprache sei Heimat, und zwar überall, der kann bei Mosebach nachlesen, wie diese dem Autor in der Fremde zum bedrohlichen Gefängnis werden kann: In den meisten Schriftstellerbiographien, so beschreibt Mosebach den "Dichter ohne Heimat", spitze sich der "Kampf um die angeborene und doch ganz neu zu erfindende Sprache im Ausland zu". Nicht immer muss er tragisch verlaufen, wie die Einzelfälle belegen, die Mosebach von Ovid über Dante bis zu Victor Hugo und Nabokov aufführt.
Hinter all den Dichter-Emigranten, den Verbannten, Flüchtlingen und Weltbürgern erkennt er das Urbild aller Dichter, Homer, "von dem die Alten sagen, er sei heimatlos im Elend herumgetrieben gewesen, weil die neidischen Götter ihn für seinen Ruhm strafen wollten". Und hier nun findet sich schließlich so etwas wie eine Verortung des flüchtigen Romanciers: Der Schriftsteller, der seine Heimat verliert, "kommt seiner Bestimmung näher" - er verlässt seine Welt, um zu dem Ort zu gelangen, von dem aus er sie betrachten kann.
Martin Mosebach verlässt seine Welt, wie man in seiner Textsammlung mit dem schönen, Handke variierenden Titel "Als das Reisen noch geholfen hat" nachlesen kann, schon immer ohne Vorbereitung. Bereits in seiner "Wallfahrt nach Vierzehnheiligen", die er als Student gemeinsam mit einem Kommilitonen unternahm, bekennt der Autor, dass auch damals sein Gepäck unzureichend war: "Keine Landkarte, planlos zusammengepackte Kleidungsstücke, kein Regenzeug, schlechte Schuhe." Bis zum heutigen Tag bereitet er, wie er neulich im Gespräch bestätigte, seine Reisen nicht vor: "Ich raffe ein paar Sachen zusammen und weiß auch meistens nicht so genau, wohin es geht."
An welche Ecken und Enden der Welt es den vom Zufall geleiteten Dichter, Jahrgang 1951, in den vergangenen Jahren verschlagen hat, davon geben die Schriften auf fast fünfhundert Seiten sprachmächtig Auskunft. Wir folgen Mosebach auf Spaziergängen durch das muslimische und koptische Kairo, das 2004 nichts von den Vorgängen auf dem Tahrirplatz ahnt, dafür den Reisenden mit seinen verfallenen Häusern und Kaffeehäusern auf dem Friedhof befremdet. Im Frühling 2009 marschiert er durch die Revolutionsstadt Havanna; staunend, "wie prachtvoll die Stadt einmal gewesen sein muss", und begeistert von der verzauberten Entrücktheit des Ortes fast ohne Straßenlaternen, Fernsehantennen, Verkehr. Auch wenn Mosebach das Vergangene bisweilen verklärt, bewahrt ihn seine ansteckende Neugier für Alltagsphänomene der Gegenwart vor restaurativem Kitsch. Er beschreibt die Dinge und Menschen mit einer merkwürdigen und für Reaktionäre, die meist Misanthropen sind, ganz untypischen Sympathie. Aber er macht sich keine Illusion über die Opfer. Der angedrehten Fröhlichkeit der havanesischen Salsa-Musiker misstraut er.
Wir reisen mit Mosebach zurück ins belagerte Sarajevo des Herbstes 1994, dessen Pflaster von Granateinschlägen gesprenkelt ist. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie für einen Jungen im armselig grauen Nachkriegsdeutschland der friedliche Rheingau zur Verheißung wird, dass man als Deutscher glücklich sein kann. Im Butzenscheibenwesen von Rüdesheim erforschen wir abgetane Moden und überlebte Sehnsüchte. Mit zweitausend Passagieren und einem Odysseus gehen wir auf Kreuzfahrt und lesen eine unvollendete Liebeserklärung an Frankfurt, das sich vor dem Main wie "ein bunt strahlendes Tivoli, eine verzauberte Ölraffinerie, ein im Filmatelier ersonnenes Gotham City erhebt".
Mit den Augen des Dichters sehen wir das absurde Kriegstheater an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, im erwähnten georgischen Kloster Shio Mghvime erleben wir den Katholiken, der einen kalten Winter lang mit sich und den Mönchen hadert, ob er als Nicht-Orthodoxer an einer Zeremonie teilnehmen kann. "Schweinsteiger" ist das erste deutsche Wort, das ihm hier unterkommt. Martin Mosebach beteuert gern, dass er nicht etwa auf Reisen gehe, um etwas zu entdecken, Menschen oder Landschaften, sondern um in der Fremde selbst weiterzukommen in der Frage, wie ein neues Buch aussehen könnte. Es sei eine Entscheidung, die von Zufällen getragen ist. Und doch fällt auf, dass es ihn eher in östliche als in westliche Länder zieht; ja selbst Havanna nimmt eine leicht orientalische Miene an.
Mit Kapitelüberschriften wie "Hände weg vom Status quo!", "Pax in bello" oder "Abschied von der Persönlichkeit" ordnet Mosebach die Texte, die in Zeitschriften und Magazinen meist schon erschienen sind, manche davon in dieser Zeitung. Als Autor, schreibt Mosebach, habe er es sich abgewöhnt, sich "über die Zustände, von denen ich erzähle, zu beklagen". Diesen Vorsatz bricht er gleichwohl ein ums andere Mal. Manchmal leise bedauernd, manchmal in sehr streitbaren Artikeln. Angriffslustig wettert er gegen die "Arme neue Stadt" und die Architektur der Moderne nach 1920: "Was ist es nur gewesen, das uns die Wertlosigkeit als höchsten Wert, die Formlosigkeit als höchste Form, die Unbrauchbarkeit als Funktionstüchtigkeit, die Lumpigkeit als Kostbarkeit verkauft hat?"
Auch wenn nicht jedermann seine Ansichten teilt, beispielsweise, dass heute "niemand eine andere als eine Gründerzeitwohnung haben" will - viele seiner Beobachtungen sind unbedingt triftig. Etwa jene, dass die Matratzenlager der studentischen Wohngemeinschaften sich ebenso gut in die Gründerzeitinterieurs einfügen wie die Ahnenporträts der Aristokraten, die Bücherwände asketischer Intellektueller oder die schwarzen Ledersofas von Cy-Twombly-Sammlern.
Der Probierstein des architektonischen Werts eines Gebäudes ist nach Mosebach überraschend einfach: "Wenn es in vollkommen gewandelten ästhetischen und politischen Verhältnissen nicht nur standhält, sondern ihnen sogar noch entgegenkommt." Der Autor lässt kaum Zweifel daran, dass er die Moderne als kulturellen Abstieg betrachtet. Seine Anmerkungen sind aber nie verächtlich, sondern milde ironisch und sehr oft, wie im Abgesang auf den Bundespräsidenten als machtlosen Ordensverleiher und Kranzniederleger, hochkomisch: "Wie im epischen Theater Bert Brechts ist der Bundespräsident ein Staatsschauspieler, dessen Amt darin besteht zu spielen, was er nicht ist."
Reisen fordert zum Schreiben heraus, weil man den Zuhausegebliebenen mitteilen will, was man gesehen hat. Doch nicht nur Neckermann schickt uns auf Reisen, das tut auch die Literatur, die ihre Leser in Parallelwelten zu entführen vermag - auch davon handelt dieses Buch, dessen Untertitel treffend "Von Büchern und Orten" lautet. Da passt es, dass mehrere der versammelten Schriften Fragen zur Literatur verhandeln und Autoren würdigen, Kempowski, Gernhardt sowie, natürlich, einen Stern erster Größe in Mosebachs Kanon: Heimito von Doderer. Aber die Bandbreite seiner Texte ist noch weiter gefasst; nämlich bis hin zu seiner Beschäftigung mit Kirche, Ritus und Religion.
"Wenn das Wesentliche eingetreten ist, die Deplatzierung, und ich die erste Seite geschrieben habe", sagt Mosebach, dann sei ihm ein Ort so lieb wie der andere. Aber eine Stadt oder eine Gegend, in der er lange und intensiv gearbeitet hat, betritt er nur ungern wieder. Zum Glück hält die Welt noch manches Neuland für ihn bereit.
Martin Mosebach: "Als das Reisen noch geholfen hat". Von Büchern und Orten.
Hanser Verlag, München 2011. 496 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltbürger und Lokalpatriot: Martin Mosebach nimmt uns mit zu seinen irdischen und literarischen Aufbrüchen. "Als das Reisen noch geholfen hat" erzählt von Büchern, Orten und Fluchten. Vor allem der Osten zieht den Autor an.
Von Sandra Kegel
Um über Frankfurt schreiben zu können, muss Martin Mosebach der Stadt erst einmal entkommen. Das zeigt nicht nur sein jüngster Roman "Was davor geschah", der im Großbürgertum seiner Geburtsstadt spielt und doch ganz woanders entstand, nämlich in einem Kloster in Georgien, einem Ort also, der dem Taunus-Milieu ferner nicht sein könnte. Auch andere Werke des Büchnerpreisträgers sind aus der Distanz zu ihrem Sujet verfasst. Auf Capri schrieb Mosebach "Westend", das in Indien spielende "Beben" entstand im Schweizer Wallis, unlängst reiste er für ein neues Buch nach Sri Lanka.
Gerade den Schriftstellern muss es dabei viel eher noch als den alle Sprachgrenzen überwindenden Musikern oder Malern schwerfallen, sich künstlerisch zu entwurzeln. Der Autor nimmt ja nicht nur den Geschmack und die Sehweisen seiner Heimat im Gepäck mit, sondern vor allem sein ureigenes künstlerisches Ausdrucksmittel. Wer dagegen behauptet, nicht ein Land, sondern die Sprache sei Heimat, und zwar überall, der kann bei Mosebach nachlesen, wie diese dem Autor in der Fremde zum bedrohlichen Gefängnis werden kann: In den meisten Schriftstellerbiographien, so beschreibt Mosebach den "Dichter ohne Heimat", spitze sich der "Kampf um die angeborene und doch ganz neu zu erfindende Sprache im Ausland zu". Nicht immer muss er tragisch verlaufen, wie die Einzelfälle belegen, die Mosebach von Ovid über Dante bis zu Victor Hugo und Nabokov aufführt.
Hinter all den Dichter-Emigranten, den Verbannten, Flüchtlingen und Weltbürgern erkennt er das Urbild aller Dichter, Homer, "von dem die Alten sagen, er sei heimatlos im Elend herumgetrieben gewesen, weil die neidischen Götter ihn für seinen Ruhm strafen wollten". Und hier nun findet sich schließlich so etwas wie eine Verortung des flüchtigen Romanciers: Der Schriftsteller, der seine Heimat verliert, "kommt seiner Bestimmung näher" - er verlässt seine Welt, um zu dem Ort zu gelangen, von dem aus er sie betrachten kann.
Martin Mosebach verlässt seine Welt, wie man in seiner Textsammlung mit dem schönen, Handke variierenden Titel "Als das Reisen noch geholfen hat" nachlesen kann, schon immer ohne Vorbereitung. Bereits in seiner "Wallfahrt nach Vierzehnheiligen", die er als Student gemeinsam mit einem Kommilitonen unternahm, bekennt der Autor, dass auch damals sein Gepäck unzureichend war: "Keine Landkarte, planlos zusammengepackte Kleidungsstücke, kein Regenzeug, schlechte Schuhe." Bis zum heutigen Tag bereitet er, wie er neulich im Gespräch bestätigte, seine Reisen nicht vor: "Ich raffe ein paar Sachen zusammen und weiß auch meistens nicht so genau, wohin es geht."
An welche Ecken und Enden der Welt es den vom Zufall geleiteten Dichter, Jahrgang 1951, in den vergangenen Jahren verschlagen hat, davon geben die Schriften auf fast fünfhundert Seiten sprachmächtig Auskunft. Wir folgen Mosebach auf Spaziergängen durch das muslimische und koptische Kairo, das 2004 nichts von den Vorgängen auf dem Tahrirplatz ahnt, dafür den Reisenden mit seinen verfallenen Häusern und Kaffeehäusern auf dem Friedhof befremdet. Im Frühling 2009 marschiert er durch die Revolutionsstadt Havanna; staunend, "wie prachtvoll die Stadt einmal gewesen sein muss", und begeistert von der verzauberten Entrücktheit des Ortes fast ohne Straßenlaternen, Fernsehantennen, Verkehr. Auch wenn Mosebach das Vergangene bisweilen verklärt, bewahrt ihn seine ansteckende Neugier für Alltagsphänomene der Gegenwart vor restaurativem Kitsch. Er beschreibt die Dinge und Menschen mit einer merkwürdigen und für Reaktionäre, die meist Misanthropen sind, ganz untypischen Sympathie. Aber er macht sich keine Illusion über die Opfer. Der angedrehten Fröhlichkeit der havanesischen Salsa-Musiker misstraut er.
Wir reisen mit Mosebach zurück ins belagerte Sarajevo des Herbstes 1994, dessen Pflaster von Granateinschlägen gesprenkelt ist. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie für einen Jungen im armselig grauen Nachkriegsdeutschland der friedliche Rheingau zur Verheißung wird, dass man als Deutscher glücklich sein kann. Im Butzenscheibenwesen von Rüdesheim erforschen wir abgetane Moden und überlebte Sehnsüchte. Mit zweitausend Passagieren und einem Odysseus gehen wir auf Kreuzfahrt und lesen eine unvollendete Liebeserklärung an Frankfurt, das sich vor dem Main wie "ein bunt strahlendes Tivoli, eine verzauberte Ölraffinerie, ein im Filmatelier ersonnenes Gotham City erhebt".
Mit den Augen des Dichters sehen wir das absurde Kriegstheater an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea, im erwähnten georgischen Kloster Shio Mghvime erleben wir den Katholiken, der einen kalten Winter lang mit sich und den Mönchen hadert, ob er als Nicht-Orthodoxer an einer Zeremonie teilnehmen kann. "Schweinsteiger" ist das erste deutsche Wort, das ihm hier unterkommt. Martin Mosebach beteuert gern, dass er nicht etwa auf Reisen gehe, um etwas zu entdecken, Menschen oder Landschaften, sondern um in der Fremde selbst weiterzukommen in der Frage, wie ein neues Buch aussehen könnte. Es sei eine Entscheidung, die von Zufällen getragen ist. Und doch fällt auf, dass es ihn eher in östliche als in westliche Länder zieht; ja selbst Havanna nimmt eine leicht orientalische Miene an.
Mit Kapitelüberschriften wie "Hände weg vom Status quo!", "Pax in bello" oder "Abschied von der Persönlichkeit" ordnet Mosebach die Texte, die in Zeitschriften und Magazinen meist schon erschienen sind, manche davon in dieser Zeitung. Als Autor, schreibt Mosebach, habe er es sich abgewöhnt, sich "über die Zustände, von denen ich erzähle, zu beklagen". Diesen Vorsatz bricht er gleichwohl ein ums andere Mal. Manchmal leise bedauernd, manchmal in sehr streitbaren Artikeln. Angriffslustig wettert er gegen die "Arme neue Stadt" und die Architektur der Moderne nach 1920: "Was ist es nur gewesen, das uns die Wertlosigkeit als höchsten Wert, die Formlosigkeit als höchste Form, die Unbrauchbarkeit als Funktionstüchtigkeit, die Lumpigkeit als Kostbarkeit verkauft hat?"
Auch wenn nicht jedermann seine Ansichten teilt, beispielsweise, dass heute "niemand eine andere als eine Gründerzeitwohnung haben" will - viele seiner Beobachtungen sind unbedingt triftig. Etwa jene, dass die Matratzenlager der studentischen Wohngemeinschaften sich ebenso gut in die Gründerzeitinterieurs einfügen wie die Ahnenporträts der Aristokraten, die Bücherwände asketischer Intellektueller oder die schwarzen Ledersofas von Cy-Twombly-Sammlern.
Der Probierstein des architektonischen Werts eines Gebäudes ist nach Mosebach überraschend einfach: "Wenn es in vollkommen gewandelten ästhetischen und politischen Verhältnissen nicht nur standhält, sondern ihnen sogar noch entgegenkommt." Der Autor lässt kaum Zweifel daran, dass er die Moderne als kulturellen Abstieg betrachtet. Seine Anmerkungen sind aber nie verächtlich, sondern milde ironisch und sehr oft, wie im Abgesang auf den Bundespräsidenten als machtlosen Ordensverleiher und Kranzniederleger, hochkomisch: "Wie im epischen Theater Bert Brechts ist der Bundespräsident ein Staatsschauspieler, dessen Amt darin besteht zu spielen, was er nicht ist."
Reisen fordert zum Schreiben heraus, weil man den Zuhausegebliebenen mitteilen will, was man gesehen hat. Doch nicht nur Neckermann schickt uns auf Reisen, das tut auch die Literatur, die ihre Leser in Parallelwelten zu entführen vermag - auch davon handelt dieses Buch, dessen Untertitel treffend "Von Büchern und Orten" lautet. Da passt es, dass mehrere der versammelten Schriften Fragen zur Literatur verhandeln und Autoren würdigen, Kempowski, Gernhardt sowie, natürlich, einen Stern erster Größe in Mosebachs Kanon: Heimito von Doderer. Aber die Bandbreite seiner Texte ist noch weiter gefasst; nämlich bis hin zu seiner Beschäftigung mit Kirche, Ritus und Religion.
"Wenn das Wesentliche eingetreten ist, die Deplatzierung, und ich die erste Seite geschrieben habe", sagt Mosebach, dann sei ihm ein Ort so lieb wie der andere. Aber eine Stadt oder eine Gegend, in der er lange und intensiv gearbeitet hat, betritt er nur ungern wieder. Zum Glück hält die Welt noch manches Neuland für ihn bereit.
Martin Mosebach: "Als das Reisen noch geholfen hat". Von Büchern und Orten.
Hanser Verlag, München 2011. 496 S., geb., 21,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld hatte ein paar Fragen an diesen Autor, der sich wochenlang in ein georgisches Kloster zurückzieht, um Dante zu lesen und billige Heiligenbildchen zu betrachten. Wieso machen Sie das? Und wer zahlt das? Solche Fragen. Dann aber wird Steinfeld von Martin Mosebachs Aufmerksamkeit für die Dinge und von der Anschaulichkeit seines Schreibens mitgenommen, sodass er sich einfach nur wünscht, ganz still neben dem Autor zu sitzen und zu sehen, was er sieht, zu hören, was er hört usw. Geht leider nicht. Und so schaut Steinfeld, dass er für uns doch herausbekommt, was Mosebach umtreibt. Die Rituale sind's und die Kultur, die sich darin zeigt, entdeckt er. Und die Form (die die Welt fasst) ist's, die Lust daran. Das wäre gleich eine Art Poetik des Autors Mosebach, aber so weit geht Steinfeld nicht. Die Essays jedoch findet er einzigartig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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