»Am Tore wurden wir angehalten. Ein Sergeant kam an den Postwagen und fragte: 'Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Werden Sie lange hierbleiben?'« ...
... so wurde befragt, wer zur Goethezeit an die Tore von Berlin kam. Das Gepäck wurde durchsucht, man bekam einen Passierschein - musste aber, kaum im Gasthaus angekommen, schon die nächsten Kontrollbögen, diesmal die der Polizei, ausfüllen.
Wer mit Bruno Preisendörfer als Zeitreisender unterwegs ist, erlebt aber noch viel mehr: Er steht z. B. am 7. 11. 1775 morgens um fünf in Weimar vor dem Haus eines Kammergerichtspräsidenten namens von Kalb und sieht zu, wie Goethes Kutsche über das Pf laster rollt. Er besucht eine philanthropische Reformschule oder wird zwischen die Bauernkinder in die Bänke einer Dorfschule gesteckt. Er geht an die Universität, um Kant und Fichte zu lauschen, etwaige Verständnisschwierigkeiten müssen ihm nicht peinlich sein, es ging den Zeitgenossen ebenso.
Aber der Zeitreisende lernt nicht nur den philosophischen Zeitgeist kennen, sondern erlebt auch handfeste Abenteuer, übersteht mit dem jungen Eichendorff einen Schiffsunfall auf der Oder, sieht aus E.T.A. Hoffmanns Eckfenster am Gendarmenmarkt Berlin brennen, oder ist bei Georg Lichtenberg in Göttingen, als der durchs Fernglas der Beerdigung von Gottfried August Bürger zusieht. Vielleicht ist er auch bei der Zofe einer Gräfin, die sich ohne fremde Hilfe nicht ankleiden kann, oder er schleicht in den Anatomiesaal von Jena, wo die Selbstmörderinnen obduziert werden, die in Weimar in die Ilm gegangen sind, stiehlt mit fronenden Bauern Korn oder gerät als Knecht mit seinem Brotherrn aneinander.
Bruno Preisendörfer hat sich durch Hunderte von Büchern gelesen, Romane, Selbstzeugnisse, Briefe und Tagebücher. Er nimmt den Leser mit auf eine große Reise in die Goethezeit und man erlebt, wie das Lebe damals wirklich war.
... so wurde befragt, wer zur Goethezeit an die Tore von Berlin kam. Das Gepäck wurde durchsucht, man bekam einen Passierschein - musste aber, kaum im Gasthaus angekommen, schon die nächsten Kontrollbögen, diesmal die der Polizei, ausfüllen.
Wer mit Bruno Preisendörfer als Zeitreisender unterwegs ist, erlebt aber noch viel mehr: Er steht z. B. am 7. 11. 1775 morgens um fünf in Weimar vor dem Haus eines Kammergerichtspräsidenten namens von Kalb und sieht zu, wie Goethes Kutsche über das Pf laster rollt. Er besucht eine philanthropische Reformschule oder wird zwischen die Bauernkinder in die Bänke einer Dorfschule gesteckt. Er geht an die Universität, um Kant und Fichte zu lauschen, etwaige Verständnisschwierigkeiten müssen ihm nicht peinlich sein, es ging den Zeitgenossen ebenso.
Aber der Zeitreisende lernt nicht nur den philosophischen Zeitgeist kennen, sondern erlebt auch handfeste Abenteuer, übersteht mit dem jungen Eichendorff einen Schiffsunfall auf der Oder, sieht aus E.T.A. Hoffmanns Eckfenster am Gendarmenmarkt Berlin brennen, oder ist bei Georg Lichtenberg in Göttingen, als der durchs Fernglas der Beerdigung von Gottfried August Bürger zusieht. Vielleicht ist er auch bei der Zofe einer Gräfin, die sich ohne fremde Hilfe nicht ankleiden kann, oder er schleicht in den Anatomiesaal von Jena, wo die Selbstmörderinnen obduziert werden, die in Weimar in die Ilm gegangen sind, stiehlt mit fronenden Bauern Korn oder gerät als Knecht mit seinem Brotherrn aneinander.
Bruno Preisendörfer hat sich durch Hunderte von Büchern gelesen, Romane, Selbstzeugnisse, Briefe und Tagebücher. Er nimmt den Leser mit auf eine große Reise in die Goethezeit und man erlebt, wie das Lebe damals wirklich war.
buecher-magazin.deGegen einen wie Goethe wären heutige Literaturnobelpreisträger nur arme Schreiberlinge. Kaum ein Schriftsteller wurde schon zu seinen Lebzeiten derartig verehrt, keiner war so einflussreich in Wissenschaft und Politik. Wie wäre es, könnten wir uns auf eine Zeitreise in die Weimarer Klassik begeben? Wen würden wir in Weimar treffen? Herder, Schiller, Heine oder gar den großen Olympier selbst? Eine seltsame und zugleich faszinierende Stadt muss dieses 6000-Einwohner-Reich gewesen sein. Der Autor beschreibt es detail- und kenntnisreich: provinziell, aber dennoch liberal, der Lebens- und Sehnsuchtsort für Literaturliebhaber. Preisendörfer studierte akribisch Akten, las zeitgenössische Briefe, Blätter und Druckschriften, von denen er höchst unterhaltsam berichtet. Und er nimmt die Leser mit auf eine spannende Fahrt in klapprigen Postkutschen auf staubigen Straßen, durch unzählige Kleinstaaten und Zollstationen. Vor allem das Alltagsleben war nicht ganz so prächtig, wie in der Literatur gerne zu lesen ist. Wir lernen über damalige Ess- und Trinkgewohnheiten, betrachten zeitgenössische Modetorheiten und erfahren auch vom gar nicht so verklemmten Umgang mit Sexualität oder auch dem Tod.
© BÜCHERmagazin, Michael Pöppl (mpö)
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Erfrischend findet Helmut Böttiger Bruno Preisendörfers neues Buch, das ein neues Licht auf die Goethe-Zeit wirft. Der Autor beschäftigt sich in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" weniger mit dem künstlerischen Schaffen Goethes, sondern eher mit dessen Alltag, erzählt Böttiger. Dabei überrascht es den Rezensenten, wie viel die einzelnen Informationen der damaligen Lebensumstände - etwa über Kleidung, Nahrung, Bettbezüge und Kerzenbeschaffung - dann doch mit Goethe zu tun haben. Dem Autor gelinge es dadurch, die Person Goethe für den Leser greifbarer und die Literaturgeschichte interessanter zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2015Goethes Unterhose
Der Berliner Schriftsteller Bruno Preisendörfer hat eine kurzweilige Kulturgeschichte der Jahre um 1800 geschrieben
Wie es um die Einheit Deutschlands um das Jahr 1800 bestellt war, bringt Justus Möser folgendermaßen auf den Punkt: „Wir kommen nicht einmal zu einem rechten Nationalfluche, jede Provinz flucht und schimpft anders.“ Das könnte man freilich auch positiv, im Sinne der Vielfalt auffassen, und auch heute noch flucht man in München anders als in Hamburg (falls man es dort überhaupt tut), was die bundesrepublikanische Geschlossenheit allerdings kaum gefährdet.
Carl Julius Weber hat, wenn auch keinen Nationalfluch, so doch immerhin ein deutsches Nationalspiel, das Kegeln, und eine deutsche Nationalkrankheit, die philosophische „Systemsucht“, ausgemacht. Letztere dürfte, ohne größere Impfanstrengung, inzwischen als ausgerottet gelten, das Kegeln soll dagegen in manch ländlichen Gegenden weiter grassieren.
Wie dem auch sei: Einig Deutschland lag damals noch in weiter Ferne und war so schwer vorstellbar wie die Weltherrschaft Chinas, das für Johann Gottfried Herder lediglich ein Land war, das „im östlichen Winkel Asiens unter dem Gebirge liegt“.
Dabei war Herder, wie fast alle, ein in Weimar Zugezogener und wusste wenigstens noch, wie es in anderen Gegenden Deutschlands aussah und zuging. Wie es wiederum in Weimar zuging, davon berichtet Bruno Preisendörfer in „Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit“. Auch Berlin nimmt er in seiner umfangreichen, gleichwohl äußerst kurzweiligen Kulturgeschichte genauer in den Blick. Ausflüge an den Rhein, die Nordsee oder das Alpenvorland aber entfallen weitgehend, was auch das Einzige ist, das man diesem munter geschriebenen Buch – zugleich eine wahre Schatzkiste an Zitaten – vorwerfen kann. Wie groß die Unterschiede auf dem Gebiet des späteren deutschen Reiches in Sachen Kleidung, Essen oder Sexualität also gewesen sein mögen: Diese graduellen Abweichungen zu bemessen bleibt der Wissenschaft vorbehalten. Der Kampf gegen die „Selbstbefleckung“, gegen „Sodomie“ und „Knabenliebe“ dürfte überall, so viel lässt sich sagen, ähnlich ausgeprägt gewesen sein. Wunderheiler zogen durch das ganze Land, und das Gesinde hatte hier wie dort zu leiden.
Galgen standen zudem vor jeder Stadt, wobei im Süden offenbar größerer Bedarf bestand: „Der Bayer ist falsch, grausam, abergläubisch und verwegen“, schreibt Wilhelm Ludwig Wekhrlin, ein Schwabe, 1778, „nirgendwo trifft man mehr Räder, Galgen und Schergen an als in Bayern.“ Auch die Kindersterblichkeit war in allen Landesteilen erschreckend hoch, was sich im Zuge der Aufklärung aber langsam zu bessern begann. So entwickelte Friedrich Schillers Hausarzt Johann Christian Stark einen Gebärstuhl, schrieb Ratgeber („Hebammenunterricht in Gesprächen“) und führte erfolgreich Kaiserschnitte durch.
„Nach allem, was wir wissen, trug Goethe keine Unterhosen“, konstatiert Preisendörfer mit dem ihm eigenen Witz, wenn auch nicht allein des Witzes wegen: Ihn interessiert die Kleidung der damaligen Zeit, und eben nicht nur die Oberbekleidung. Er führt den Leser in die Wissenschaft von Bändern und Hauben ein, kritisiert die Schnürbrust und unternimmt auch einen „Exkurs über Holz, Kohle, Eisen und Schnaps“. Nebenbei erfährt man, dass Baumwolldochte besser waren als solche aus Leinen, denn diese musste man öfter „schneuzen“ (also kürzen).
Ob in weiteren Kapiteln wie „Stadtleben“, „Ehe und Familie“ oder „Gesundheit, Krankheit, Tod“ – Preisendörfer weiß sein Material geschickt zu bündeln. Dabei bietet er ein anschauliches Porträt der Goethezeit, die uns in vielem wohlvertraut erscheint, in manchem, wie den Therapiemethoden der Psychiatrie, aber auch sehr fremd. Andersherum würde sich Goethe ganz gewiss verwundern, erzählte man ihm, dass Männer 200 Jahre später nicht nur Unterhosen, sondern sogar solche mit den Namen fremder Männer darauf tragen würden.
TOBIAS LEHMKUHL
Einig Deutschland lag
damals noch in so weiter Ferne
wie die Großmacht China
Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. Galiani Verlag, Berlin 2015.
528 Seiten, 24,99 Euro.
E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Berliner Schriftsteller Bruno Preisendörfer hat eine kurzweilige Kulturgeschichte der Jahre um 1800 geschrieben
Wie es um die Einheit Deutschlands um das Jahr 1800 bestellt war, bringt Justus Möser folgendermaßen auf den Punkt: „Wir kommen nicht einmal zu einem rechten Nationalfluche, jede Provinz flucht und schimpft anders.“ Das könnte man freilich auch positiv, im Sinne der Vielfalt auffassen, und auch heute noch flucht man in München anders als in Hamburg (falls man es dort überhaupt tut), was die bundesrepublikanische Geschlossenheit allerdings kaum gefährdet.
Carl Julius Weber hat, wenn auch keinen Nationalfluch, so doch immerhin ein deutsches Nationalspiel, das Kegeln, und eine deutsche Nationalkrankheit, die philosophische „Systemsucht“, ausgemacht. Letztere dürfte, ohne größere Impfanstrengung, inzwischen als ausgerottet gelten, das Kegeln soll dagegen in manch ländlichen Gegenden weiter grassieren.
Wie dem auch sei: Einig Deutschland lag damals noch in weiter Ferne und war so schwer vorstellbar wie die Weltherrschaft Chinas, das für Johann Gottfried Herder lediglich ein Land war, das „im östlichen Winkel Asiens unter dem Gebirge liegt“.
Dabei war Herder, wie fast alle, ein in Weimar Zugezogener und wusste wenigstens noch, wie es in anderen Gegenden Deutschlands aussah und zuging. Wie es wiederum in Weimar zuging, davon berichtet Bruno Preisendörfer in „Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit“. Auch Berlin nimmt er in seiner umfangreichen, gleichwohl äußerst kurzweiligen Kulturgeschichte genauer in den Blick. Ausflüge an den Rhein, die Nordsee oder das Alpenvorland aber entfallen weitgehend, was auch das Einzige ist, das man diesem munter geschriebenen Buch – zugleich eine wahre Schatzkiste an Zitaten – vorwerfen kann. Wie groß die Unterschiede auf dem Gebiet des späteren deutschen Reiches in Sachen Kleidung, Essen oder Sexualität also gewesen sein mögen: Diese graduellen Abweichungen zu bemessen bleibt der Wissenschaft vorbehalten. Der Kampf gegen die „Selbstbefleckung“, gegen „Sodomie“ und „Knabenliebe“ dürfte überall, so viel lässt sich sagen, ähnlich ausgeprägt gewesen sein. Wunderheiler zogen durch das ganze Land, und das Gesinde hatte hier wie dort zu leiden.
Galgen standen zudem vor jeder Stadt, wobei im Süden offenbar größerer Bedarf bestand: „Der Bayer ist falsch, grausam, abergläubisch und verwegen“, schreibt Wilhelm Ludwig Wekhrlin, ein Schwabe, 1778, „nirgendwo trifft man mehr Räder, Galgen und Schergen an als in Bayern.“ Auch die Kindersterblichkeit war in allen Landesteilen erschreckend hoch, was sich im Zuge der Aufklärung aber langsam zu bessern begann. So entwickelte Friedrich Schillers Hausarzt Johann Christian Stark einen Gebärstuhl, schrieb Ratgeber („Hebammenunterricht in Gesprächen“) und führte erfolgreich Kaiserschnitte durch.
„Nach allem, was wir wissen, trug Goethe keine Unterhosen“, konstatiert Preisendörfer mit dem ihm eigenen Witz, wenn auch nicht allein des Witzes wegen: Ihn interessiert die Kleidung der damaligen Zeit, und eben nicht nur die Oberbekleidung. Er führt den Leser in die Wissenschaft von Bändern und Hauben ein, kritisiert die Schnürbrust und unternimmt auch einen „Exkurs über Holz, Kohle, Eisen und Schnaps“. Nebenbei erfährt man, dass Baumwolldochte besser waren als solche aus Leinen, denn diese musste man öfter „schneuzen“ (also kürzen).
Ob in weiteren Kapiteln wie „Stadtleben“, „Ehe und Familie“ oder „Gesundheit, Krankheit, Tod“ – Preisendörfer weiß sein Material geschickt zu bündeln. Dabei bietet er ein anschauliches Porträt der Goethezeit, die uns in vielem wohlvertraut erscheint, in manchem, wie den Therapiemethoden der Psychiatrie, aber auch sehr fremd. Andersherum würde sich Goethe ganz gewiss verwundern, erzählte man ihm, dass Männer 200 Jahre später nicht nur Unterhosen, sondern sogar solche mit den Namen fremder Männer darauf tragen würden.
TOBIAS LEHMKUHL
Einig Deutschland lag
damals noch in so weiter Ferne
wie die Großmacht China
Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. Galiani Verlag, Berlin 2015.
528 Seiten, 24,99 Euro.
E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2015In der Goethezeit herrscht Chaos, nicht beschauliche Ruhe
Bruno Preisendörfers erstaunliche Einblicke in eine Zeit, über die wir scheinbar alles wussten: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war"
Als "eine Epoche, die so bald nicht wiederkehrt", charakterisierte der alte Goethe seine eigene Zeit, vom "Ende der Kunstperiode" sprach Heinrich Heine. Selten dürfte Zeitgenossen die Epochalität nicht eines einzelnen Ereignisses, sondern einer ganzen Zeitspanne so bewusst gewesen sein wie am Ende der "Goethezeit", auch wenn der Begriff selbst erst sehr viel später seine gültige Ausprägung erfahren hat. Er steht noch immer für eine einzigartige Blüte deutscher Literatur, für Spätaufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik, die mehr neben- als nacheinander mit einer Phalanx bedeutender Dichter und Werke aufwartet. Kann man dieser Zeit wirklich noch eine neue Perspektive abgewinnen?
Preisendörfer versucht es, indem er den Leser auf eine imaginäre Zeitreise gut zweihundert Jahre zurück einlädt. Harmlos geht es dabei nicht zu, wie er gleich zu Beginn hervorhebt: Goethezeit ist Chaoszeit, nicht beschauliche Ruhe und Ordnung. Auch wenn Bruno Preisendörfer meint, dass man hier seinesgleichen begegnen könnte, überwiegen bei der Lektüre die Alteritätserfahrungen. Nein, die Goethezeit war denn doch eine völlig andere und ist durch eine untrennbare Kluft namens Moderne und technischer Fortschritt von der unseren geschieden.
Bruno Preisendörfer, 1957 in Kleinostheim geboren, der als Autor sowohl Sachbücher wie auch Romane schreibt, betreibt in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" weder klassische Sozialgeschichte noch eine sozialgeschichtlich fundierte Literaturgeschichtsschreibung. Stattdessen lässt er durch eine Vielzahl von Zitaten aus literarischen Texten, aber auch aus Briefen und Sachbüchern der Zeit weite Bereiche des Lebenskosmos um 1800 lebendig werden. Von den Beschwernissen der Reisen erfährt man, vom Leben auf dem Land oder in der Stadt, von Alltagshandlungen, Kleidern oder der Rolle des Todes. Die stete Anschaulichkeit der Quellen und die oft originelle Auswahl oder Perspektivierung schaffen immer wieder überraschende Einblicke in eine Zeit, über die man scheinbar alles weiß.
Dichter aus der zweiten Reihe laufen hierbei zur Hochform auf. Mit wie viel Gewinn wird etwa ein ums andere Mal aus dem rührenden Briefwechsel zwischen Heinrich Christian Boie, dem Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, und seiner späteren Frau Luise Mejer zitiert, vom Einrichten eines gemeinsamen Haushaltes über das Essen und Trinken bis hin zum Umgang mit Wunderheilern. Unter dem Stichwort Geburt folgt dann aber, nach einem schauderhaften Bericht über einen geglückten Kaiserschnitt, der sich wie ein Schlachtbericht liest, die briefliche Mitteilung Boies über den Tod seiner Frau samt ihres Kindes - er selbst blieb nur Ohrenzeuge, hineingelassen hat ihn der Arzt nicht.
Ein Schwerpunkt der Dokumente liegt bei den Spätaufklärern, bei Moritz, Knigge oder Seume etwa, während die Romantiker etwas schwach vertreten sind - so erdenfern waren ihre Texte und Briefe aber gar nicht. Bekannte Zitate vermisst man, so bei den Ausführungen zu Universitäten und den Studenten einen Hinweis zum Atheismusstreit um Fichte oder so beim Stichwort Kaffee etwa Goethes beckmesserische Kritik am Kaffeekonsum von Charlotte von Stein. Im Sinne der Originalität von Preisendörfers Zugriff kommt dies aber eher einem Lob gleich, denn wie viel neues oder neu gewichtetes Material bekommt man stattdessen vorgeführt. Der akribische Anhang belegt hier auch den Segen der Digitalisierung alter Konvolute - vor einigen Jahren hätte ein solches Werk noch viele Monate in Handschriftenlesesälen mit sich gebracht.
Geerdet wird die Goethezeit allemal. Über mangelnde Hygiene oder die laienhaften Medizinkenntnisse um 1800 wurde inzwischen ja viel geschrieben, frappierend ist dann aber doch, wie oft Bruno Preisendörfer auf geradezu zynische Widersprüche eines scheinbar aufgeklärten Zeitalters stößt, und das weit bis in die Zeit nach 1800 hinein, vom Umgang mit Dienstboten über Körper- und Todesstrafen bis hin zur "Therapie" von Geisteskranken. Allen Ernstes berichtet der Pädagoge Peter Villaume in seinem "Lesebuch für Bürgerschulen" aus dem Jahr 1801 etwa affirmativ von Schulen, in denen die Kinder nicht müßig sitzen, sondern während des Unterrichts arbeiten: "Die Kinder alle spinnen, stricken, flechten Körbe, machen allerlei Arbeit in Draht, in Holz, in Stroh und Schilf; auch nähen die Mädchen." Am Ende reist der Leser mit Preisendörfer dankbar und beglückt zurück in die Gegenwart und hält es zumindest unter nichtliterarischen Gesichtspunkten für verschmerzbar, dass diese Epoche so bald nicht wiederkehrt.
THOMAS MEISSNER
Bruno Preisendörfer: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war". Reise in die Goethezeit.
Verlag Galiani Berlin, Köln 2015. 518 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bruno Preisendörfers erstaunliche Einblicke in eine Zeit, über die wir scheinbar alles wussten: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war"
Als "eine Epoche, die so bald nicht wiederkehrt", charakterisierte der alte Goethe seine eigene Zeit, vom "Ende der Kunstperiode" sprach Heinrich Heine. Selten dürfte Zeitgenossen die Epochalität nicht eines einzelnen Ereignisses, sondern einer ganzen Zeitspanne so bewusst gewesen sein wie am Ende der "Goethezeit", auch wenn der Begriff selbst erst sehr viel später seine gültige Ausprägung erfahren hat. Er steht noch immer für eine einzigartige Blüte deutscher Literatur, für Spätaufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik, die mehr neben- als nacheinander mit einer Phalanx bedeutender Dichter und Werke aufwartet. Kann man dieser Zeit wirklich noch eine neue Perspektive abgewinnen?
Preisendörfer versucht es, indem er den Leser auf eine imaginäre Zeitreise gut zweihundert Jahre zurück einlädt. Harmlos geht es dabei nicht zu, wie er gleich zu Beginn hervorhebt: Goethezeit ist Chaoszeit, nicht beschauliche Ruhe und Ordnung. Auch wenn Bruno Preisendörfer meint, dass man hier seinesgleichen begegnen könnte, überwiegen bei der Lektüre die Alteritätserfahrungen. Nein, die Goethezeit war denn doch eine völlig andere und ist durch eine untrennbare Kluft namens Moderne und technischer Fortschritt von der unseren geschieden.
Bruno Preisendörfer, 1957 in Kleinostheim geboren, der als Autor sowohl Sachbücher wie auch Romane schreibt, betreibt in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" weder klassische Sozialgeschichte noch eine sozialgeschichtlich fundierte Literaturgeschichtsschreibung. Stattdessen lässt er durch eine Vielzahl von Zitaten aus literarischen Texten, aber auch aus Briefen und Sachbüchern der Zeit weite Bereiche des Lebenskosmos um 1800 lebendig werden. Von den Beschwernissen der Reisen erfährt man, vom Leben auf dem Land oder in der Stadt, von Alltagshandlungen, Kleidern oder der Rolle des Todes. Die stete Anschaulichkeit der Quellen und die oft originelle Auswahl oder Perspektivierung schaffen immer wieder überraschende Einblicke in eine Zeit, über die man scheinbar alles weiß.
Dichter aus der zweiten Reihe laufen hierbei zur Hochform auf. Mit wie viel Gewinn wird etwa ein ums andere Mal aus dem rührenden Briefwechsel zwischen Heinrich Christian Boie, dem Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, und seiner späteren Frau Luise Mejer zitiert, vom Einrichten eines gemeinsamen Haushaltes über das Essen und Trinken bis hin zum Umgang mit Wunderheilern. Unter dem Stichwort Geburt folgt dann aber, nach einem schauderhaften Bericht über einen geglückten Kaiserschnitt, der sich wie ein Schlachtbericht liest, die briefliche Mitteilung Boies über den Tod seiner Frau samt ihres Kindes - er selbst blieb nur Ohrenzeuge, hineingelassen hat ihn der Arzt nicht.
Ein Schwerpunkt der Dokumente liegt bei den Spätaufklärern, bei Moritz, Knigge oder Seume etwa, während die Romantiker etwas schwach vertreten sind - so erdenfern waren ihre Texte und Briefe aber gar nicht. Bekannte Zitate vermisst man, so bei den Ausführungen zu Universitäten und den Studenten einen Hinweis zum Atheismusstreit um Fichte oder so beim Stichwort Kaffee etwa Goethes beckmesserische Kritik am Kaffeekonsum von Charlotte von Stein. Im Sinne der Originalität von Preisendörfers Zugriff kommt dies aber eher einem Lob gleich, denn wie viel neues oder neu gewichtetes Material bekommt man stattdessen vorgeführt. Der akribische Anhang belegt hier auch den Segen der Digitalisierung alter Konvolute - vor einigen Jahren hätte ein solches Werk noch viele Monate in Handschriftenlesesälen mit sich gebracht.
Geerdet wird die Goethezeit allemal. Über mangelnde Hygiene oder die laienhaften Medizinkenntnisse um 1800 wurde inzwischen ja viel geschrieben, frappierend ist dann aber doch, wie oft Bruno Preisendörfer auf geradezu zynische Widersprüche eines scheinbar aufgeklärten Zeitalters stößt, und das weit bis in die Zeit nach 1800 hinein, vom Umgang mit Dienstboten über Körper- und Todesstrafen bis hin zur "Therapie" von Geisteskranken. Allen Ernstes berichtet der Pädagoge Peter Villaume in seinem "Lesebuch für Bürgerschulen" aus dem Jahr 1801 etwa affirmativ von Schulen, in denen die Kinder nicht müßig sitzen, sondern während des Unterrichts arbeiten: "Die Kinder alle spinnen, stricken, flechten Körbe, machen allerlei Arbeit in Draht, in Holz, in Stroh und Schilf; auch nähen die Mädchen." Am Ende reist der Leser mit Preisendörfer dankbar und beglückt zurück in die Gegenwart und hält es zumindest unter nichtliterarischen Gesichtspunkten für verschmerzbar, dass diese Epoche so bald nicht wiederkehrt.
THOMAS MEISSNER
Bruno Preisendörfer: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war". Reise in die Goethezeit.
Verlag Galiani Berlin, Köln 2015. 518 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main