Estland zur Zeit der deutschen Besatzung: Während sich Roland versteckt hält, weil er immer noch an die estnische Befreiung glaubt, versucht Edgar ins Zentrum der Machthaber vorzustoßen. Seine Frau Juudit verliebt sich in einen hohen deutschen Offizier, nicht ahnend, dass ihr Mann über genau diesen Offizier die Karriereleiter emporklettern möchte. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt, Estland steht unter der Besatzung der Sowjets, und wieder ist es Edgar, der hofft, seiner Vergangenheit zum Trotz auch bei den Kommunisten eine herausragende Rolle zu spielen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Von Sofi Oksanens neuem Roman "Als die Tauben verschwanden" ist Rezensentin Katharina Teutsch nicht ganz überzeugt. Die Geschichte um die Cousins Roland und Edgar, die sich auf unterschiedliche Weise im Zweiten Weltkrieg in Estland mit Nationalisten, Partisanen, Genossen und Nazi-Schergen auseinandersetzen, fordert der Kritikerin im Laufe der Handlung doch etwas zu viele Opfer, als dass der Roman sonderlich differenziert erscheinen kann. Einen Spionage-Thriller liest die Rezensentin hier ebenso wie eine Dreieckgeschichte um einen Wehrmachtssoldaten, der sowohl mit Edgar als auch mit seiner Frau anbändelt. Dabei bleiben ihr die Figuren in ihrer Bedeutungsschwere allerdings leider zu blass. Und so muss sie schließlich gestehen, dass der Roman, trotz des Verdienstes, ein wenig beleuchtetes Kapitel jüngerer Zeitgeschichte zu behandeln, kein großer "literarischer Wurf" ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Wer die Wahrheit sagt, ist betrogen
Diese Romane suchen ihresgleichen: Finnland ist Ehrengast auf der morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse. Seine Autoren haben ein besonderes Verhältnis zur Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes.
Von Tilman Spreckelsen
Finnland und Deutschland haben eine spezielle historische Beziehung. Finnland stand im Zweiten Weltkrieg lange an der Seite der Deutschen, weil die Finnen gegen die Sowjetunion kämpften. Und doch erzählt einer der spektakulärsten finnischen Romane der letzten Jahre von einem Mann, der während der deutschen Besatzung Profit aus der Not seiner Mitbürger schlägt. Allerdings nicht in Finnland, sondern in Estland. Der ehemalige Leistungssportler Mark tut sich später gar in einem Vernichtungslager mit ausnehmend üblen Drangsalierungspraktiken hervor, bis hin zum Massenmord. Dieser Mark ist der Protagonist in einem Propagandawerk, das 1966 im Verlag Eesti Ramat erschienen ist.
Warum ist dann die Rede von einem spektakulären Roman der letzten Jahre? Weil das Buch über Mark Teil dieses Romans ist. Der fiktive Autor des fiktiven Buchs heißt Edgar Parts. Die Pointe des Romans, in dem beide vorkommen, ist, dass Parts den in seiner umfassenden Boshaftigkeit eher holzschnittartigen Mark nicht frei erfunden, sondern aus schriftlichen Quellen kompiliert und eigene Erinnerungen hinzugefügt hat, wobei er den Idealismus eines der Vorbilder für Mark ins Gegenteil verkehrte und eigenes Verschulden der literarischen Figur aufbürdete. Weil all das beansprucht, eine wahrhaftige Geschichte Estlands unter der deutschen Besatzung zu erzählen, macht sich Edgar Parts einer ganzen Reihe von Tricksereien, massiven Täuschungen, ja Verrätereien schuldig.
Der Schriftsteller Edgar Parts ist eine Hauptfigur im Roman "Als die Tauben verschwanden" der 1977 geborenen finnisch-estnischen Starautorin Sofi Oksanen. Mit ihrer Hinwendung zur Geschichte und besonders zur Frage, wie eigentlich deren kanonische Darstellung entsteht, steht Oksanen nicht allein in der finnischen Gegenwartsliteratur. Eine ganze Reihe von Romanen, die in den letzten Jahren in Finnland publiziert worden sind und große Resonanz fanden, verfahren so, etwa Markus Nummis Roman "Am Anfang ein Garten", der, ausgehend von einem plötzlichen Erinnerungsschub des alten finnischen Generals und Politikers Carl Mannerheim im Jahr 1950, bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und bis nach Zentralasien ausgreift. In Kjell Westös "Das Trugbild" wiederum wird dargestellt, welche Auswirkungen das erstarkende "Dritte Reich" auf die Überzeugungen der finnischen Gesellschaft hatte.
In Juha Itkonens meisterlichem Roman "Ein flüchtiges Leuchten" wird die Nachkriegsgeschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs Finnlands ebenso erzählt wie die des Elektrohändlers Esko, aber auch von der Rezession ist die Rede, unter der vor allem Eskos Kinder zu leiden haben. Auch hier verschränken sich die verschiedenen Perspektiven, auch hier geht es um die Frage, wie das Erlebte erinnert und diese Erinnerungen verwaltet werden. Während sich Eskos kindliche Begeisterung über die Möglichkeiten moderner Speichermedien auf seine Kunden überträgt, sagt sein skeptischer Sohn Esa: "Wir wollen uns an alles erinnern und erinnern uns genau deshalb an gar nichts mehr." Und während Esko nach vorn blickt, weil der wirtschaftliche Niedergang Finnlands ihm im fernen Amerika nichts anhaben kann, verliert Esa erst den Grund unter den Füßen und dann sich selbst im Kaleidoskop seiner Erinnerungen, die zu ordnen ihm nicht ohne weiteres gelingt.
Es macht den enormen Reiz von Itkonens Roman aus, dass auch nach der Synthese dieser Positionen gefragt wird. Esa findet sie schließlich für sich, indem er für seine eigene Tochter zum Autor der Familiengeschichte wird.
"In Finnland", schreibt der moderne Klassiker Henrik Tikkanen 1975 in seinem autobiographischen Roman "Brändovägen 8 Brändo. Tel. 35", der jetzt auf Deutsch erscheint, "ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind." Tatsächlich ist die Geschichte des finnischen Nationalstaats jung. Bis 1809 gehörte Finnland zu Schweden, daher rührt die jahrhundertelange Dominanz des Schwedischen als Sprache der Oberschicht und des kulturellen Austauschs - bis heute gibt es eine reiche finnlandschwedische Literatur, deren prominenteste Vertreterin die vor hundert Jahren geborene "Mumin"-Autorin Tove Jansson war. Nach 1809 fiel das Land als Großfürstentum an Russland, und die Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins im neunzehnten Jahrhundert geht einher mit der Publikation des "Kalevala", eines aus mündlich tradierten Versen geschaffenen Epos, das auch im Ausland als Monument einer versunkenen finnischen Kultur gelesen wurde.
Auch dieses Werk feiert die Erinnerung: Wer die Welt beherrschen will, so seine Botschaft, muss den Ursprung der Dinge kennen - Wasser, Eisen, Feuer, Himmel und Erde -, dann kann er sie mit einem Spruch für seine Zwecke einsetzen. Und es ist der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes, der im "Kalevala" auf jeder Seite aufscheint, der das Werk als Fanal des Aufbruchs seiner Sprache erscheinen lässt.
Das "Kalevala" erschien 1835 in seiner ersten Fassung. Es dauerte aber bis 1870, ehe der erste finnisch geschriebene Roman erschien: "Sieben Brüder" von Aleksis Kivi, stilistisch zwischen auktorialer Erzählung und reiner Dialogform gehalten. Sein Schauplatz ist die Wildnis, die es zu erobern gilt, und auch in der Folge sind viele in der Stadt gelesene finnische Romane auf dem Land angesiedelt, etwa Werke von Juhani Aho oder Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Roman "Frommes Elend" von 1919, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, hebt sich dabei deutlich ab von all den europäischen Bauernromanen jener Zeit, indem er seinen Helden in ein ländliches Leben hineinstößt, dem alle Romantik fehlt, in dem die Armut, der Hunger und die Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist.
Noch immer spielt das Land mit seinen Sommerhäusern, den Wäldern, Inseln und Seen als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort eine gehörige Rolle in der finnischen Gegenwartsliteratur, etwa in der Novelle "Der Mond flieht" des 1954 geborenen Künstlers Rax Rinnekangas. Es ist ein Erinnerungsbuch an einen Sommer in Finnlands Norden, seit jeher eine Region, die mit Magie assoziiert wird, und der Erzähler berichtet von seiner Liebe zu seiner Cousine Sonja, vom jähen Tod des Mädchens und davon, wie alte Verwerfungen zwischen den Familienmitgliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingenommen werden, ohne dass irgendjemand eine Klärung versucht. Deshalb sieht Lauri, der Erzähler, der damals dreizehn Jahre alt war, in der Rückschau den Moment, in dem er den Unterschied zwischen Glauben und Wissen für sich entdeckte, als den Beginn seines erwachsenen Lebens an. Es ist der Moment, in dem er sich der Formbarkeit von Erinnerung bewusst wird.
Was aber, wenn die Wahrnehmung von vornherein dadurch limitiert ist, dass man sich in einem Ausnahmezustand befindet? Die Frage stellt sich bei dem aus verschiedenen Perspektiven erzählten Roman "Wildauge" von Katja Kettu. Die Autorin, geboren 1978, lässt in ihrem Buch, das nach Kettus Aussage auf Dokumente ihrer eigenen Großmutter zurückgeht, während der letzten Kriegsmonate, als Finnland mit der Sowjetunion einen Separatfrieden geschlossen hatte und deshalb zum Feind des früheren deutschen Verbündeten geworden war, in Lappland eine leidenschaftliche Hebamme auf einen deutschen SS-Mann mit finnischen Wurzeln prallen. In ihrer absoluten Fixiertheit auf jenen Johann Angelhurst, der schwer traumatisiert aus der Ukraine zurückkommt, begibt sich die Hebamme in ein Gefangenenlager am Eismeer und führt dort an den Häftlingen medizinische Versuche durch. In einer teils derben, teils mit Chiffren aus dem Fundus religiöser Verzückung gespeisten Sprache hält sie für den abwesenden Geliebten das Erlebte sehr selektiv fest, was im Roman durch einordnende Passagen anderer Protagonisten und Angelhursts eigenen Bericht gespiegelt wird.
Bezeichnend ist dabei eine Entscheidung, die der Hebamme abverlangt wird, als sich die deutsche Niederlage abzeichnet und sie die Möglichkeit erhält, mit den anderen Frauen zusammen den Ort des Grauens zu verlassen, um in etwa dort weiterzumachen, wo man vor dem Krieg war. Aber würde man sie lassen? "Ich würde mit Flecken der verflossenen Waffenbrüder auf dem Rocksaum in das verbrannte Lappland zurückkehren", sagt die Hebamme.
Gut möglich, dass der Roman um dieser Szene willen geschrieben wurde. Weitermachen, als sei nichts geschehen, ist in den Augen der Hebamme wie der Autorin keine Option. In anderen Augen schon, zumal wenn sich die Erzählung der Vergangenheit in einer Weise formen lässt, die eine folgerichtige berufliche Perspektive eröffnen. Fälschen, umschreiben, denunzieren: Bei Sofi Oksanens Edgar führt die fortgesetzte Anwendung dieser Fertigkeiten geradewegs in die Existenz eines systemkonformen, gutdotierten Schriftstellers in der estnischen Sowjetrepublik.
Und so wurzelt Oksanens böse Pointe darin, dass derjenigen, die die Wahrheit sagt, nicht geglaubt wird: Während Edgar Parts mit seiner dreisten Geschichtsklitterung durchkommt, landet seine Frau Juudit, die ihre Erinnerungen an das, was Edgar wirklich im Krieg getan hat, auch in noch so viel Alkohol nicht ertränken konnte, wegen "Wahnvorstellungen" in der Psychiatrie. Auch dagegen, so kann man sich das deuten, werden zurzeit in Finnland Bücher geschrieben, die ihresgleichen suchen. Als Gastgeschenk haben sie gerade den deutschen Lesern viel zu sagen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Romane suchen ihresgleichen: Finnland ist Ehrengast auf der morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse. Seine Autoren haben ein besonderes Verhältnis zur Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes.
Von Tilman Spreckelsen
Finnland und Deutschland haben eine spezielle historische Beziehung. Finnland stand im Zweiten Weltkrieg lange an der Seite der Deutschen, weil die Finnen gegen die Sowjetunion kämpften. Und doch erzählt einer der spektakulärsten finnischen Romane der letzten Jahre von einem Mann, der während der deutschen Besatzung Profit aus der Not seiner Mitbürger schlägt. Allerdings nicht in Finnland, sondern in Estland. Der ehemalige Leistungssportler Mark tut sich später gar in einem Vernichtungslager mit ausnehmend üblen Drangsalierungspraktiken hervor, bis hin zum Massenmord. Dieser Mark ist der Protagonist in einem Propagandawerk, das 1966 im Verlag Eesti Ramat erschienen ist.
Warum ist dann die Rede von einem spektakulären Roman der letzten Jahre? Weil das Buch über Mark Teil dieses Romans ist. Der fiktive Autor des fiktiven Buchs heißt Edgar Parts. Die Pointe des Romans, in dem beide vorkommen, ist, dass Parts den in seiner umfassenden Boshaftigkeit eher holzschnittartigen Mark nicht frei erfunden, sondern aus schriftlichen Quellen kompiliert und eigene Erinnerungen hinzugefügt hat, wobei er den Idealismus eines der Vorbilder für Mark ins Gegenteil verkehrte und eigenes Verschulden der literarischen Figur aufbürdete. Weil all das beansprucht, eine wahrhaftige Geschichte Estlands unter der deutschen Besatzung zu erzählen, macht sich Edgar Parts einer ganzen Reihe von Tricksereien, massiven Täuschungen, ja Verrätereien schuldig.
Der Schriftsteller Edgar Parts ist eine Hauptfigur im Roman "Als die Tauben verschwanden" der 1977 geborenen finnisch-estnischen Starautorin Sofi Oksanen. Mit ihrer Hinwendung zur Geschichte und besonders zur Frage, wie eigentlich deren kanonische Darstellung entsteht, steht Oksanen nicht allein in der finnischen Gegenwartsliteratur. Eine ganze Reihe von Romanen, die in den letzten Jahren in Finnland publiziert worden sind und große Resonanz fanden, verfahren so, etwa Markus Nummis Roman "Am Anfang ein Garten", der, ausgehend von einem plötzlichen Erinnerungsschub des alten finnischen Generals und Politikers Carl Mannerheim im Jahr 1950, bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und bis nach Zentralasien ausgreift. In Kjell Westös "Das Trugbild" wiederum wird dargestellt, welche Auswirkungen das erstarkende "Dritte Reich" auf die Überzeugungen der finnischen Gesellschaft hatte.
In Juha Itkonens meisterlichem Roman "Ein flüchtiges Leuchten" wird die Nachkriegsgeschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs Finnlands ebenso erzählt wie die des Elektrohändlers Esko, aber auch von der Rezession ist die Rede, unter der vor allem Eskos Kinder zu leiden haben. Auch hier verschränken sich die verschiedenen Perspektiven, auch hier geht es um die Frage, wie das Erlebte erinnert und diese Erinnerungen verwaltet werden. Während sich Eskos kindliche Begeisterung über die Möglichkeiten moderner Speichermedien auf seine Kunden überträgt, sagt sein skeptischer Sohn Esa: "Wir wollen uns an alles erinnern und erinnern uns genau deshalb an gar nichts mehr." Und während Esko nach vorn blickt, weil der wirtschaftliche Niedergang Finnlands ihm im fernen Amerika nichts anhaben kann, verliert Esa erst den Grund unter den Füßen und dann sich selbst im Kaleidoskop seiner Erinnerungen, die zu ordnen ihm nicht ohne weiteres gelingt.
Es macht den enormen Reiz von Itkonens Roman aus, dass auch nach der Synthese dieser Positionen gefragt wird. Esa findet sie schließlich für sich, indem er für seine eigene Tochter zum Autor der Familiengeschichte wird.
"In Finnland", schreibt der moderne Klassiker Henrik Tikkanen 1975 in seinem autobiographischen Roman "Brändovägen 8 Brändo. Tel. 35", der jetzt auf Deutsch erscheint, "ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind." Tatsächlich ist die Geschichte des finnischen Nationalstaats jung. Bis 1809 gehörte Finnland zu Schweden, daher rührt die jahrhundertelange Dominanz des Schwedischen als Sprache der Oberschicht und des kulturellen Austauschs - bis heute gibt es eine reiche finnlandschwedische Literatur, deren prominenteste Vertreterin die vor hundert Jahren geborene "Mumin"-Autorin Tove Jansson war. Nach 1809 fiel das Land als Großfürstentum an Russland, und die Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins im neunzehnten Jahrhundert geht einher mit der Publikation des "Kalevala", eines aus mündlich tradierten Versen geschaffenen Epos, das auch im Ausland als Monument einer versunkenen finnischen Kultur gelesen wurde.
Auch dieses Werk feiert die Erinnerung: Wer die Welt beherrschen will, so seine Botschaft, muss den Ursprung der Dinge kennen - Wasser, Eisen, Feuer, Himmel und Erde -, dann kann er sie mit einem Spruch für seine Zwecke einsetzen. Und es ist der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes, der im "Kalevala" auf jeder Seite aufscheint, der das Werk als Fanal des Aufbruchs seiner Sprache erscheinen lässt.
Das "Kalevala" erschien 1835 in seiner ersten Fassung. Es dauerte aber bis 1870, ehe der erste finnisch geschriebene Roman erschien: "Sieben Brüder" von Aleksis Kivi, stilistisch zwischen auktorialer Erzählung und reiner Dialogform gehalten. Sein Schauplatz ist die Wildnis, die es zu erobern gilt, und auch in der Folge sind viele in der Stadt gelesene finnische Romane auf dem Land angesiedelt, etwa Werke von Juhani Aho oder Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Roman "Frommes Elend" von 1919, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, hebt sich dabei deutlich ab von all den europäischen Bauernromanen jener Zeit, indem er seinen Helden in ein ländliches Leben hineinstößt, dem alle Romantik fehlt, in dem die Armut, der Hunger und die Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist.
Noch immer spielt das Land mit seinen Sommerhäusern, den Wäldern, Inseln und Seen als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort eine gehörige Rolle in der finnischen Gegenwartsliteratur, etwa in der Novelle "Der Mond flieht" des 1954 geborenen Künstlers Rax Rinnekangas. Es ist ein Erinnerungsbuch an einen Sommer in Finnlands Norden, seit jeher eine Region, die mit Magie assoziiert wird, und der Erzähler berichtet von seiner Liebe zu seiner Cousine Sonja, vom jähen Tod des Mädchens und davon, wie alte Verwerfungen zwischen den Familienmitgliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingenommen werden, ohne dass irgendjemand eine Klärung versucht. Deshalb sieht Lauri, der Erzähler, der damals dreizehn Jahre alt war, in der Rückschau den Moment, in dem er den Unterschied zwischen Glauben und Wissen für sich entdeckte, als den Beginn seines erwachsenen Lebens an. Es ist der Moment, in dem er sich der Formbarkeit von Erinnerung bewusst wird.
Was aber, wenn die Wahrnehmung von vornherein dadurch limitiert ist, dass man sich in einem Ausnahmezustand befindet? Die Frage stellt sich bei dem aus verschiedenen Perspektiven erzählten Roman "Wildauge" von Katja Kettu. Die Autorin, geboren 1978, lässt in ihrem Buch, das nach Kettus Aussage auf Dokumente ihrer eigenen Großmutter zurückgeht, während der letzten Kriegsmonate, als Finnland mit der Sowjetunion einen Separatfrieden geschlossen hatte und deshalb zum Feind des früheren deutschen Verbündeten geworden war, in Lappland eine leidenschaftliche Hebamme auf einen deutschen SS-Mann mit finnischen Wurzeln prallen. In ihrer absoluten Fixiertheit auf jenen Johann Angelhurst, der schwer traumatisiert aus der Ukraine zurückkommt, begibt sich die Hebamme in ein Gefangenenlager am Eismeer und führt dort an den Häftlingen medizinische Versuche durch. In einer teils derben, teils mit Chiffren aus dem Fundus religiöser Verzückung gespeisten Sprache hält sie für den abwesenden Geliebten das Erlebte sehr selektiv fest, was im Roman durch einordnende Passagen anderer Protagonisten und Angelhursts eigenen Bericht gespiegelt wird.
Bezeichnend ist dabei eine Entscheidung, die der Hebamme abverlangt wird, als sich die deutsche Niederlage abzeichnet und sie die Möglichkeit erhält, mit den anderen Frauen zusammen den Ort des Grauens zu verlassen, um in etwa dort weiterzumachen, wo man vor dem Krieg war. Aber würde man sie lassen? "Ich würde mit Flecken der verflossenen Waffenbrüder auf dem Rocksaum in das verbrannte Lappland zurückkehren", sagt die Hebamme.
Gut möglich, dass der Roman um dieser Szene willen geschrieben wurde. Weitermachen, als sei nichts geschehen, ist in den Augen der Hebamme wie der Autorin keine Option. In anderen Augen schon, zumal wenn sich die Erzählung der Vergangenheit in einer Weise formen lässt, die eine folgerichtige berufliche Perspektive eröffnen. Fälschen, umschreiben, denunzieren: Bei Sofi Oksanens Edgar führt die fortgesetzte Anwendung dieser Fertigkeiten geradewegs in die Existenz eines systemkonformen, gutdotierten Schriftstellers in der estnischen Sowjetrepublik.
Und so wurzelt Oksanens böse Pointe darin, dass derjenigen, die die Wahrheit sagt, nicht geglaubt wird: Während Edgar Parts mit seiner dreisten Geschichtsklitterung durchkommt, landet seine Frau Juudit, die ihre Erinnerungen an das, was Edgar wirklich im Krieg getan hat, auch in noch so viel Alkohol nicht ertränken konnte, wegen "Wahnvorstellungen" in der Psychiatrie. Auch dagegen, so kann man sich das deuten, werden zurzeit in Finnland Bücher geschrieben, die ihresgleichen suchen. Als Gastgeschenk haben sie gerade den deutschen Lesern viel zu sagen.
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»Eine großartig geschriebene Geschichte über drei Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen.« Cornelia Camen BuchMarkt 20140701