Estland zur Zeit der deutschen Besatzung: Während sich Roland versteckt hält, weil er immer noch an die estnische Befreiung glaubt, versucht Edgar ins Zentrum der Machthaber vorzustoßen. Seine Frau Juudit verliebt sich in einen hohen deutschen Offizier, nicht ahnend, dass ihr Mann über genau diesen Offizier die Karriereleiter emporklettern möchte. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt, Estland steht unter der Besatzung der Sowjets, und wieder ist es Edgar, der hofft, seiner Vergangenheit zum Trotz auch bei den Kommunisten eine herausragende Rolle zu spielen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Von Sofi Oksanens neuem Roman "Als die Tauben verschwanden" ist Rezensentin Katharina Teutsch nicht ganz überzeugt. Die Geschichte um die Cousins Roland und Edgar, die sich auf unterschiedliche Weise im Zweiten Weltkrieg in Estland mit Nationalisten, Partisanen, Genossen und Nazi-Schergen auseinandersetzen, fordert der Kritikerin im Laufe der Handlung doch etwas zu viele Opfer, als dass der Roman sonderlich differenziert erscheinen kann. Einen Spionage-Thriller liest die Rezensentin hier ebenso wie eine Dreieckgeschichte um einen Wehrmachtssoldaten, der sowohl mit Edgar als auch mit seiner Frau anbändelt. Dabei bleiben ihr die Figuren in ihrer Bedeutungsschwere allerdings leider zu blass. Und so muss sie schließlich gestehen, dass der Roman, trotz des Verdienstes, ein wenig beleuchtetes Kapitel jüngerer Zeitgeschichte zu behandeln, kein großer "literarischer Wurf" ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2014Frauen, die in Milch baden
Finnland ist Gastland der Buchmesse 2014: Hat die finnische Autorin Sofi Oksanen das Buch der Stunde
geschrieben? Ihr neuer Roman ist eine Huldigung an die Freiheit Estlands – und Tendenzliteratur
VON THOMAS STEINFELD
Juudit, die estnische Frau aus der großen Stadt Tallinn, ist ihrer Nation untreu geworden und hat sich mit einem Offizier der Besatzungsmacht eingelassen. Dieser ist nicht nur Deutscher, denn dieser Teil der Geschichte spielt im Jahr 1943, sondern auch Hauptsturmführer der SS und mit der Vernichtung „reichsfeindlicher Elemente“ betraut. Da taucht, scheinbar aus der bäuerlichen Vergangenheit, ein richtiger Este auf, stark, wortkarg, furchtlos und erdverbunden. Und es kommt, wie es kommen muss: „Wo war der Eindruck geblieben, dass ihre Haut sich nach dem Deutschen anfühlte? Sie duftete nach meinem Land, nach jemandem, der in meinem Land geboren wurde und in meinem Land zu Staub werden würde, nach der Braut meines Landes . . . Die Wolken seihten die Sterne in ihre Augen, und die waren wie Waldtauben, die in Milch gebadet hatten.“ Es hat nicht viel Sinn zu untersuchen, woher die Sprache kommt, in der solche Bräute auftreten – so etwas findet sich oft, bei Hermann Löns, in der Heimatdichtung der vorvorigen Jahrhundertwende, in der völkischen Literatur des Nationalsozialismus. Ergiebiger ist es zu fragen, warum ein Werk, das bedenkenlos die Nation mit Natur und Schicksal in eins setzt, zum Roman der Stunde werden kann.
„Als die Tauben verschwanden“ ( Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2014 . 432 S., 19,99 Euro ) ist der vierte Roman der finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen und ihr zweiter, der sich mit der Nationalgeschichte Estlands beschäftigt: „Fegefeuer“ (finnisch 2008, deutsch 2010) war eine allegorische Erzählung, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen, eine alte und eine junge, die Estlands Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert als eine lange Folge hauptsächlich gewalttätiger Inbesitznahmen des weiblichen Körpers erleben. Der Roman wurde in vielen Ländern zu einem Bestseller und begründete den Ruf dieser Autorin, die in diesem Oktober im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse stehen wird, deren Ehrengast Finnland sein wird. Der Erfolg von „Fegefeuer“ ging nicht nur darauf zurück, wie sich darin, auf ebenso spekulative wie spektakuläre Weise, historischer Roman, Thriller, eine Fabel von weiblicher Selbstfindung und erzählte Sexualität verbanden – und er hat auch nur bedingt etwas mit dem schrillen Individualismus der Autorin zu tun. Schon in „Fegefeuer“ spielte der Glaube an die metaphysische Kraft der estnischen Muttererde eine Rolle. Und nun ist es zwar offenbar so, dass die Behauptung, die Nation sei der Natur zuzurechnen, um so heftiger ausfällt, je später eine Nation entsteht – zum ersten Mal war Estland im Jahr 1918 unabhängig geworden. Doch erfährt dieser Irrationalismus seine aktuelle Zuspitzung dadurch, dass die baltischen Staaten seit der Annexion der Krim durch Russland in diesem Frühjahr wieder als in ihrer Souveränität bedrohte Länder verstanden werden.
Auch dieser neue Roman ist als politische Allegorie angelegt. Da gibt es das alte, wahre Estland, das Dorf, wo das Timoteigras wächst und die alten Frauen und ihre Wahrsagerei noch lebendig sind. Daraus gehen vier Figuren hervor: Jener zunächst redliche, schweigsame und tatkräftige Este und seine mindestens ebenso tugendhafte Verlobte, die allerdings schon früh in der Geschichte ermordet wird. Die Frage, wer für den Tod des „Mädchens mit den fröhlichen Augen“ sorgte, fügt der Geschichte ein Element von Thriller hinzu und wird am Ende erwartungsgemäß beantwortet.
Den beiden steht Edgar gegenüber, der Vetter des wahrhaften Helden, eine korrupte, opportunistische, skrupellose Gestalt, deren ebenso dunkles wie sich über viele Stationen hinziehendes Treiben für den größten Teil der Handlung sorgt. Zwischen dieseen Kontrastfiguren steht Edgars Frau Juudit, das städtische, zu handfester Arbeit untaugliche, flatterhafte Wesen, das sich mit dem deutschen Offizier einlässt und ihn dabei auch noch ernsthaft liebt. Eine Funktion mit vier Variablen könnte man diese Anlage nennen, der es weder an Eindeutigkeit noch an melodramatischer Süße mangelt, und jede der vier Variablen steht für die Auslieferung Estlands an seine Feinde: im Verrat, im Wahn, im Alkoholismus und im Tod.
Bei Edgar, dem größten aller Verräter, ist das offensichtlich: Wie ein Chamäleon wechselt er die Parteien und die Fronten, das Reden und das Handeln, wird vom Soldaten der Roten Armee zum Waldbruder, vom Agenten der Deutschen zum sowjetischen Schriftsteller. Estland ist ein Spielball seiner Nachbarn, und er ist die Grundfigur des Überlebens, so sehr, dass er nie als Charakter erscheint. Dass eine Figur, die nichts anderes sein darf als ein Spiegel der Verhältnisse, in denen sie sich behaupten soll, stellt die elementare dramaturgische Schwäche dieses Romans dar. Bedenklicher aber ist der Eifer der Autorin, ihre eigene Erfindung so gründlich wie möglich zu denunzieren: Es reicht nicht aus, dass Edgar impotent ist und den Esten keine neuen Volksgenossen schenken kann. Er muss auch homosexuell sein, wobei Sofi Oksanen nicht einmal zu ahnen scheint, welche völkischen Fantasien sie auf diese Weise bedient. Und Juudit, seine Frau? Sie wird wahnsinnig über dem Gedanken, kein Kind geboren zu haben.
Zurück bleibt Estland, zurück bleiben die fünf Tage zwischen dem Abzug der Deutschen und der Wiederkehr der Roten Armee im Herbst 1944, und gegenwärtig sind die Jahre der Selbständigkeit seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums im Sommer 1991. Aus der Sorge, dass es mit dieser Souveränität ein Ende haben könnte, erwächst der Appell dieses Romans: „Wird der Westen Osteuropa wieder einmal verraten?“, lautete der Titel eines Essays, den Sofi Oksanen im April in der Welt veröffentlichte. Darin stehen die Sätze: „Es ist an der Zeit, dass der Westen ,Nein’ zu Russlands Vorhaben sagt, sein Territorium über die Grenzen des Landes hinaus auszuweiten. Und das ist nicht durch diplomatischen Dialog zu erreichen. Es ist unmöglich, mit einem Gegner zu verhandeln, der, wenn es um seine Ziele geht, ständig lügt.“ Es ist schwierig, in diesem Appell anderes zu lesen als eine Aufforderung zum militärischen Konflikt. Es ist noch schwieriger, in der literarischen Apologie des immer wieder verratenen, nun aber freien, von Blütenduft eingehüllten Estland anderes zu erkennen als das idealisierte Gegenüber eines radikal Bösen.
Dass in solchen ideologischen Konfrontationen der Verstand wenig zu melden hat, muss wohl so sein: Oder wie kommt es, dass in dem Augenblick, in dem sich Machtfragen stellen, das politische Bewusstsein auf der Strecke bleibt – und mit ihm das Wissen, dass es in der Politik um Interessen und deren Gegensätze geht, nicht um Gut und Böse? Oder wie kommt es, dass man plötzlich wieder mit einer Vorstellung von „Nation“ als kollektivem Schicksal konfrontiert ist, von der man dachte, die Geschichtswissenschaft habe sie längst auf einen ihrer Kehrichthaufen befördert?
Oder wie kommt es, dass niemand den Widerspruch zu bemerken scheint, der zwischen dem radikalen Nationalismus eines kleinen Landes und der Anrufung eines einigen, solidarischen, übernationalen Europa zu dessen Schutz und Wohlbefinden liegen muss? Und wie kommt es schließlich, dass es nach der Publikation von „Fegefeuer“ in Estland zu einer Debatte kam, in der sich manche Esten gegen die Schirmherrschaft einer Finnin über die estnische Nationalgeschichte wehrten und deren Ausverkauf an die westliche Kulturindustrie beklagten? Das sind Fragen, die unbeantwortet bleiben, wenn man ein Werk der Tendenzdichtung zu einem literarischen Meisterwerk erhebt.
Eine Allegorie, der es weder
an Eindeutigkeit noch an
melodramatischer Süße mangelt
Es reicht nicht aus, wenn der
Verräter böse ist: Er muss auch
impotent und homosexuell sein
Die Behauptung, die Nation sei der Natur zuzurechnen, fällt umso heftiger aus, je später eine Nation entsteht:
Sofi Oksanen, finnische Schriftstellerin mit estnischer Mutter, erzählt die
Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert als Melodram mit ungewissem Ausgang. Foto: Toni Härkönen
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Finnland ist Gastland der Buchmesse 2014: Hat die finnische Autorin Sofi Oksanen das Buch der Stunde
geschrieben? Ihr neuer Roman ist eine Huldigung an die Freiheit Estlands – und Tendenzliteratur
VON THOMAS STEINFELD
Juudit, die estnische Frau aus der großen Stadt Tallinn, ist ihrer Nation untreu geworden und hat sich mit einem Offizier der Besatzungsmacht eingelassen. Dieser ist nicht nur Deutscher, denn dieser Teil der Geschichte spielt im Jahr 1943, sondern auch Hauptsturmführer der SS und mit der Vernichtung „reichsfeindlicher Elemente“ betraut. Da taucht, scheinbar aus der bäuerlichen Vergangenheit, ein richtiger Este auf, stark, wortkarg, furchtlos und erdverbunden. Und es kommt, wie es kommen muss: „Wo war der Eindruck geblieben, dass ihre Haut sich nach dem Deutschen anfühlte? Sie duftete nach meinem Land, nach jemandem, der in meinem Land geboren wurde und in meinem Land zu Staub werden würde, nach der Braut meines Landes . . . Die Wolken seihten die Sterne in ihre Augen, und die waren wie Waldtauben, die in Milch gebadet hatten.“ Es hat nicht viel Sinn zu untersuchen, woher die Sprache kommt, in der solche Bräute auftreten – so etwas findet sich oft, bei Hermann Löns, in der Heimatdichtung der vorvorigen Jahrhundertwende, in der völkischen Literatur des Nationalsozialismus. Ergiebiger ist es zu fragen, warum ein Werk, das bedenkenlos die Nation mit Natur und Schicksal in eins setzt, zum Roman der Stunde werden kann.
„Als die Tauben verschwanden“ ( Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2014 . 432 S., 19,99 Euro ) ist der vierte Roman der finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen und ihr zweiter, der sich mit der Nationalgeschichte Estlands beschäftigt: „Fegefeuer“ (finnisch 2008, deutsch 2010) war eine allegorische Erzählung, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen, eine alte und eine junge, die Estlands Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert als eine lange Folge hauptsächlich gewalttätiger Inbesitznahmen des weiblichen Körpers erleben. Der Roman wurde in vielen Ländern zu einem Bestseller und begründete den Ruf dieser Autorin, die in diesem Oktober im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse stehen wird, deren Ehrengast Finnland sein wird. Der Erfolg von „Fegefeuer“ ging nicht nur darauf zurück, wie sich darin, auf ebenso spekulative wie spektakuläre Weise, historischer Roman, Thriller, eine Fabel von weiblicher Selbstfindung und erzählte Sexualität verbanden – und er hat auch nur bedingt etwas mit dem schrillen Individualismus der Autorin zu tun. Schon in „Fegefeuer“ spielte der Glaube an die metaphysische Kraft der estnischen Muttererde eine Rolle. Und nun ist es zwar offenbar so, dass die Behauptung, die Nation sei der Natur zuzurechnen, um so heftiger ausfällt, je später eine Nation entsteht – zum ersten Mal war Estland im Jahr 1918 unabhängig geworden. Doch erfährt dieser Irrationalismus seine aktuelle Zuspitzung dadurch, dass die baltischen Staaten seit der Annexion der Krim durch Russland in diesem Frühjahr wieder als in ihrer Souveränität bedrohte Länder verstanden werden.
Auch dieser neue Roman ist als politische Allegorie angelegt. Da gibt es das alte, wahre Estland, das Dorf, wo das Timoteigras wächst und die alten Frauen und ihre Wahrsagerei noch lebendig sind. Daraus gehen vier Figuren hervor: Jener zunächst redliche, schweigsame und tatkräftige Este und seine mindestens ebenso tugendhafte Verlobte, die allerdings schon früh in der Geschichte ermordet wird. Die Frage, wer für den Tod des „Mädchens mit den fröhlichen Augen“ sorgte, fügt der Geschichte ein Element von Thriller hinzu und wird am Ende erwartungsgemäß beantwortet.
Den beiden steht Edgar gegenüber, der Vetter des wahrhaften Helden, eine korrupte, opportunistische, skrupellose Gestalt, deren ebenso dunkles wie sich über viele Stationen hinziehendes Treiben für den größten Teil der Handlung sorgt. Zwischen dieseen Kontrastfiguren steht Edgars Frau Juudit, das städtische, zu handfester Arbeit untaugliche, flatterhafte Wesen, das sich mit dem deutschen Offizier einlässt und ihn dabei auch noch ernsthaft liebt. Eine Funktion mit vier Variablen könnte man diese Anlage nennen, der es weder an Eindeutigkeit noch an melodramatischer Süße mangelt, und jede der vier Variablen steht für die Auslieferung Estlands an seine Feinde: im Verrat, im Wahn, im Alkoholismus und im Tod.
Bei Edgar, dem größten aller Verräter, ist das offensichtlich: Wie ein Chamäleon wechselt er die Parteien und die Fronten, das Reden und das Handeln, wird vom Soldaten der Roten Armee zum Waldbruder, vom Agenten der Deutschen zum sowjetischen Schriftsteller. Estland ist ein Spielball seiner Nachbarn, und er ist die Grundfigur des Überlebens, so sehr, dass er nie als Charakter erscheint. Dass eine Figur, die nichts anderes sein darf als ein Spiegel der Verhältnisse, in denen sie sich behaupten soll, stellt die elementare dramaturgische Schwäche dieses Romans dar. Bedenklicher aber ist der Eifer der Autorin, ihre eigene Erfindung so gründlich wie möglich zu denunzieren: Es reicht nicht aus, dass Edgar impotent ist und den Esten keine neuen Volksgenossen schenken kann. Er muss auch homosexuell sein, wobei Sofi Oksanen nicht einmal zu ahnen scheint, welche völkischen Fantasien sie auf diese Weise bedient. Und Juudit, seine Frau? Sie wird wahnsinnig über dem Gedanken, kein Kind geboren zu haben.
Zurück bleibt Estland, zurück bleiben die fünf Tage zwischen dem Abzug der Deutschen und der Wiederkehr der Roten Armee im Herbst 1944, und gegenwärtig sind die Jahre der Selbständigkeit seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums im Sommer 1991. Aus der Sorge, dass es mit dieser Souveränität ein Ende haben könnte, erwächst der Appell dieses Romans: „Wird der Westen Osteuropa wieder einmal verraten?“, lautete der Titel eines Essays, den Sofi Oksanen im April in der Welt veröffentlichte. Darin stehen die Sätze: „Es ist an der Zeit, dass der Westen ,Nein’ zu Russlands Vorhaben sagt, sein Territorium über die Grenzen des Landes hinaus auszuweiten. Und das ist nicht durch diplomatischen Dialog zu erreichen. Es ist unmöglich, mit einem Gegner zu verhandeln, der, wenn es um seine Ziele geht, ständig lügt.“ Es ist schwierig, in diesem Appell anderes zu lesen als eine Aufforderung zum militärischen Konflikt. Es ist noch schwieriger, in der literarischen Apologie des immer wieder verratenen, nun aber freien, von Blütenduft eingehüllten Estland anderes zu erkennen als das idealisierte Gegenüber eines radikal Bösen.
Dass in solchen ideologischen Konfrontationen der Verstand wenig zu melden hat, muss wohl so sein: Oder wie kommt es, dass in dem Augenblick, in dem sich Machtfragen stellen, das politische Bewusstsein auf der Strecke bleibt – und mit ihm das Wissen, dass es in der Politik um Interessen und deren Gegensätze geht, nicht um Gut und Böse? Oder wie kommt es, dass man plötzlich wieder mit einer Vorstellung von „Nation“ als kollektivem Schicksal konfrontiert ist, von der man dachte, die Geschichtswissenschaft habe sie längst auf einen ihrer Kehrichthaufen befördert?
Oder wie kommt es, dass niemand den Widerspruch zu bemerken scheint, der zwischen dem radikalen Nationalismus eines kleinen Landes und der Anrufung eines einigen, solidarischen, übernationalen Europa zu dessen Schutz und Wohlbefinden liegen muss? Und wie kommt es schließlich, dass es nach der Publikation von „Fegefeuer“ in Estland zu einer Debatte kam, in der sich manche Esten gegen die Schirmherrschaft einer Finnin über die estnische Nationalgeschichte wehrten und deren Ausverkauf an die westliche Kulturindustrie beklagten? Das sind Fragen, die unbeantwortet bleiben, wenn man ein Werk der Tendenzdichtung zu einem literarischen Meisterwerk erhebt.
Eine Allegorie, der es weder
an Eindeutigkeit noch an
melodramatischer Süße mangelt
Es reicht nicht aus, wenn der
Verräter böse ist: Er muss auch
impotent und homosexuell sein
Die Behauptung, die Nation sei der Natur zuzurechnen, fällt umso heftiger aus, je später eine Nation entsteht:
Sofi Oksanen, finnische Schriftstellerin mit estnischer Mutter, erzählt die
Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert als Melodram mit ungewissem Ausgang. Foto: Toni Härkönen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Wer die Wahrheit sagt, ist betrogen
Diese Romane suchen ihresgleichen: Finnland ist Ehrengast auf der morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse. Seine Autoren haben ein besonderes Verhältnis zur Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes.
Von Tilman Spreckelsen
Finnland und Deutschland haben eine spezielle historische Beziehung. Finnland stand im Zweiten Weltkrieg lange an der Seite der Deutschen, weil die Finnen gegen die Sowjetunion kämpften. Und doch erzählt einer der spektakulärsten finnischen Romane der letzten Jahre von einem Mann, der während der deutschen Besatzung Profit aus der Not seiner Mitbürger schlägt. Allerdings nicht in Finnland, sondern in Estland. Der ehemalige Leistungssportler Mark tut sich später gar in einem Vernichtungslager mit ausnehmend üblen Drangsalierungspraktiken hervor, bis hin zum Massenmord. Dieser Mark ist der Protagonist in einem Propagandawerk, das 1966 im Verlag Eesti Ramat erschienen ist.
Warum ist dann die Rede von einem spektakulären Roman der letzten Jahre? Weil das Buch über Mark Teil dieses Romans ist. Der fiktive Autor des fiktiven Buchs heißt Edgar Parts. Die Pointe des Romans, in dem beide vorkommen, ist, dass Parts den in seiner umfassenden Boshaftigkeit eher holzschnittartigen Mark nicht frei erfunden, sondern aus schriftlichen Quellen kompiliert und eigene Erinnerungen hinzugefügt hat, wobei er den Idealismus eines der Vorbilder für Mark ins Gegenteil verkehrte und eigenes Verschulden der literarischen Figur aufbürdete. Weil all das beansprucht, eine wahrhaftige Geschichte Estlands unter der deutschen Besatzung zu erzählen, macht sich Edgar Parts einer ganzen Reihe von Tricksereien, massiven Täuschungen, ja Verrätereien schuldig.
Der Schriftsteller Edgar Parts ist eine Hauptfigur im Roman "Als die Tauben verschwanden" der 1977 geborenen finnisch-estnischen Starautorin Sofi Oksanen. Mit ihrer Hinwendung zur Geschichte und besonders zur Frage, wie eigentlich deren kanonische Darstellung entsteht, steht Oksanen nicht allein in der finnischen Gegenwartsliteratur. Eine ganze Reihe von Romanen, die in den letzten Jahren in Finnland publiziert worden sind und große Resonanz fanden, verfahren so, etwa Markus Nummis Roman "Am Anfang ein Garten", der, ausgehend von einem plötzlichen Erinnerungsschub des alten finnischen Generals und Politikers Carl Mannerheim im Jahr 1950, bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und bis nach Zentralasien ausgreift. In Kjell Westös "Das Trugbild" wiederum wird dargestellt, welche Auswirkungen das erstarkende "Dritte Reich" auf die Überzeugungen der finnischen Gesellschaft hatte.
In Juha Itkonens meisterlichem Roman "Ein flüchtiges Leuchten" wird die Nachkriegsgeschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs Finnlands ebenso erzählt wie die des Elektrohändlers Esko, aber auch von der Rezession ist die Rede, unter der vor allem Eskos Kinder zu leiden haben. Auch hier verschränken sich die verschiedenen Perspektiven, auch hier geht es um die Frage, wie das Erlebte erinnert und diese Erinnerungen verwaltet werden. Während sich Eskos kindliche Begeisterung über die Möglichkeiten moderner Speichermedien auf seine Kunden überträgt, sagt sein skeptischer Sohn Esa: "Wir wollen uns an alles erinnern und erinnern uns genau deshalb an gar nichts mehr." Und während Esko nach vorn blickt, weil der wirtschaftliche Niedergang Finnlands ihm im fernen Amerika nichts anhaben kann, verliert Esa erst den Grund unter den Füßen und dann sich selbst im Kaleidoskop seiner Erinnerungen, die zu ordnen ihm nicht ohne weiteres gelingt.
Es macht den enormen Reiz von Itkonens Roman aus, dass auch nach der Synthese dieser Positionen gefragt wird. Esa findet sie schließlich für sich, indem er für seine eigene Tochter zum Autor der Familiengeschichte wird.
"In Finnland", schreibt der moderne Klassiker Henrik Tikkanen 1975 in seinem autobiographischen Roman "Brändovägen 8 Brändo. Tel. 35", der jetzt auf Deutsch erscheint, "ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind." Tatsächlich ist die Geschichte des finnischen Nationalstaats jung. Bis 1809 gehörte Finnland zu Schweden, daher rührt die jahrhundertelange Dominanz des Schwedischen als Sprache der Oberschicht und des kulturellen Austauschs - bis heute gibt es eine reiche finnlandschwedische Literatur, deren prominenteste Vertreterin die vor hundert Jahren geborene "Mumin"-Autorin Tove Jansson war. Nach 1809 fiel das Land als Großfürstentum an Russland, und die Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins im neunzehnten Jahrhundert geht einher mit der Publikation des "Kalevala", eines aus mündlich tradierten Versen geschaffenen Epos, das auch im Ausland als Monument einer versunkenen finnischen Kultur gelesen wurde.
Auch dieses Werk feiert die Erinnerung: Wer die Welt beherrschen will, so seine Botschaft, muss den Ursprung der Dinge kennen - Wasser, Eisen, Feuer, Himmel und Erde -, dann kann er sie mit einem Spruch für seine Zwecke einsetzen. Und es ist der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes, der im "Kalevala" auf jeder Seite aufscheint, der das Werk als Fanal des Aufbruchs seiner Sprache erscheinen lässt.
Das "Kalevala" erschien 1835 in seiner ersten Fassung. Es dauerte aber bis 1870, ehe der erste finnisch geschriebene Roman erschien: "Sieben Brüder" von Aleksis Kivi, stilistisch zwischen auktorialer Erzählung und reiner Dialogform gehalten. Sein Schauplatz ist die Wildnis, die es zu erobern gilt, und auch in der Folge sind viele in der Stadt gelesene finnische Romane auf dem Land angesiedelt, etwa Werke von Juhani Aho oder Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Roman "Frommes Elend" von 1919, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, hebt sich dabei deutlich ab von all den europäischen Bauernromanen jener Zeit, indem er seinen Helden in ein ländliches Leben hineinstößt, dem alle Romantik fehlt, in dem die Armut, der Hunger und die Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist.
Noch immer spielt das Land mit seinen Sommerhäusern, den Wäldern, Inseln und Seen als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort eine gehörige Rolle in der finnischen Gegenwartsliteratur, etwa in der Novelle "Der Mond flieht" des 1954 geborenen Künstlers Rax Rinnekangas. Es ist ein Erinnerungsbuch an einen Sommer in Finnlands Norden, seit jeher eine Region, die mit Magie assoziiert wird, und der Erzähler berichtet von seiner Liebe zu seiner Cousine Sonja, vom jähen Tod des Mädchens und davon, wie alte Verwerfungen zwischen den Familienmitgliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingenommen werden, ohne dass irgendjemand eine Klärung versucht. Deshalb sieht Lauri, der Erzähler, der damals dreizehn Jahre alt war, in der Rückschau den Moment, in dem er den Unterschied zwischen Glauben und Wissen für sich entdeckte, als den Beginn seines erwachsenen Lebens an. Es ist der Moment, in dem er sich der Formbarkeit von Erinnerung bewusst wird.
Was aber, wenn die Wahrnehmung von vornherein dadurch limitiert ist, dass man sich in einem Ausnahmezustand befindet? Die Frage stellt sich bei dem aus verschiedenen Perspektiven erzählten Roman "Wildauge" von Katja Kettu. Die Autorin, geboren 1978, lässt in ihrem Buch, das nach Kettus Aussage auf Dokumente ihrer eigenen Großmutter zurückgeht, während der letzten Kriegsmonate, als Finnland mit der Sowjetunion einen Separatfrieden geschlossen hatte und deshalb zum Feind des früheren deutschen Verbündeten geworden war, in Lappland eine leidenschaftliche Hebamme auf einen deutschen SS-Mann mit finnischen Wurzeln prallen. In ihrer absoluten Fixiertheit auf jenen Johann Angelhurst, der schwer traumatisiert aus der Ukraine zurückkommt, begibt sich die Hebamme in ein Gefangenenlager am Eismeer und führt dort an den Häftlingen medizinische Versuche durch. In einer teils derben, teils mit Chiffren aus dem Fundus religiöser Verzückung gespeisten Sprache hält sie für den abwesenden Geliebten das Erlebte sehr selektiv fest, was im Roman durch einordnende Passagen anderer Protagonisten und Angelhursts eigenen Bericht gespiegelt wird.
Bezeichnend ist dabei eine Entscheidung, die der Hebamme abverlangt wird, als sich die deutsche Niederlage abzeichnet und sie die Möglichkeit erhält, mit den anderen Frauen zusammen den Ort des Grauens zu verlassen, um in etwa dort weiterzumachen, wo man vor dem Krieg war. Aber würde man sie lassen? "Ich würde mit Flecken der verflossenen Waffenbrüder auf dem Rocksaum in das verbrannte Lappland zurückkehren", sagt die Hebamme.
Gut möglich, dass der Roman um dieser Szene willen geschrieben wurde. Weitermachen, als sei nichts geschehen, ist in den Augen der Hebamme wie der Autorin keine Option. In anderen Augen schon, zumal wenn sich die Erzählung der Vergangenheit in einer Weise formen lässt, die eine folgerichtige berufliche Perspektive eröffnen. Fälschen, umschreiben, denunzieren: Bei Sofi Oksanens Edgar führt die fortgesetzte Anwendung dieser Fertigkeiten geradewegs in die Existenz eines systemkonformen, gutdotierten Schriftstellers in der estnischen Sowjetrepublik.
Und so wurzelt Oksanens böse Pointe darin, dass derjenigen, die die Wahrheit sagt, nicht geglaubt wird: Während Edgar Parts mit seiner dreisten Geschichtsklitterung durchkommt, landet seine Frau Juudit, die ihre Erinnerungen an das, was Edgar wirklich im Krieg getan hat, auch in noch so viel Alkohol nicht ertränken konnte, wegen "Wahnvorstellungen" in der Psychiatrie. Auch dagegen, so kann man sich das deuten, werden zurzeit in Finnland Bücher geschrieben, die ihresgleichen suchen. Als Gastgeschenk haben sie gerade den deutschen Lesern viel zu sagen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Romane suchen ihresgleichen: Finnland ist Ehrengast auf der morgen beginnenden Frankfurter Buchmesse. Seine Autoren haben ein besonderes Verhältnis zur Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes.
Von Tilman Spreckelsen
Finnland und Deutschland haben eine spezielle historische Beziehung. Finnland stand im Zweiten Weltkrieg lange an der Seite der Deutschen, weil die Finnen gegen die Sowjetunion kämpften. Und doch erzählt einer der spektakulärsten finnischen Romane der letzten Jahre von einem Mann, der während der deutschen Besatzung Profit aus der Not seiner Mitbürger schlägt. Allerdings nicht in Finnland, sondern in Estland. Der ehemalige Leistungssportler Mark tut sich später gar in einem Vernichtungslager mit ausnehmend üblen Drangsalierungspraktiken hervor, bis hin zum Massenmord. Dieser Mark ist der Protagonist in einem Propagandawerk, das 1966 im Verlag Eesti Ramat erschienen ist.
Warum ist dann die Rede von einem spektakulären Roman der letzten Jahre? Weil das Buch über Mark Teil dieses Romans ist. Der fiktive Autor des fiktiven Buchs heißt Edgar Parts. Die Pointe des Romans, in dem beide vorkommen, ist, dass Parts den in seiner umfassenden Boshaftigkeit eher holzschnittartigen Mark nicht frei erfunden, sondern aus schriftlichen Quellen kompiliert und eigene Erinnerungen hinzugefügt hat, wobei er den Idealismus eines der Vorbilder für Mark ins Gegenteil verkehrte und eigenes Verschulden der literarischen Figur aufbürdete. Weil all das beansprucht, eine wahrhaftige Geschichte Estlands unter der deutschen Besatzung zu erzählen, macht sich Edgar Parts einer ganzen Reihe von Tricksereien, massiven Täuschungen, ja Verrätereien schuldig.
Der Schriftsteller Edgar Parts ist eine Hauptfigur im Roman "Als die Tauben verschwanden" der 1977 geborenen finnisch-estnischen Starautorin Sofi Oksanen. Mit ihrer Hinwendung zur Geschichte und besonders zur Frage, wie eigentlich deren kanonische Darstellung entsteht, steht Oksanen nicht allein in der finnischen Gegenwartsliteratur. Eine ganze Reihe von Romanen, die in den letzten Jahren in Finnland publiziert worden sind und große Resonanz fanden, verfahren so, etwa Markus Nummis Roman "Am Anfang ein Garten", der, ausgehend von einem plötzlichen Erinnerungsschub des alten finnischen Generals und Politikers Carl Mannerheim im Jahr 1950, bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert und bis nach Zentralasien ausgreift. In Kjell Westös "Das Trugbild" wiederum wird dargestellt, welche Auswirkungen das erstarkende "Dritte Reich" auf die Überzeugungen der finnischen Gesellschaft hatte.
In Juha Itkonens meisterlichem Roman "Ein flüchtiges Leuchten" wird die Nachkriegsgeschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs Finnlands ebenso erzählt wie die des Elektrohändlers Esko, aber auch von der Rezession ist die Rede, unter der vor allem Eskos Kinder zu leiden haben. Auch hier verschränken sich die verschiedenen Perspektiven, auch hier geht es um die Frage, wie das Erlebte erinnert und diese Erinnerungen verwaltet werden. Während sich Eskos kindliche Begeisterung über die Möglichkeiten moderner Speichermedien auf seine Kunden überträgt, sagt sein skeptischer Sohn Esa: "Wir wollen uns an alles erinnern und erinnern uns genau deshalb an gar nichts mehr." Und während Esko nach vorn blickt, weil der wirtschaftliche Niedergang Finnlands ihm im fernen Amerika nichts anhaben kann, verliert Esa erst den Grund unter den Füßen und dann sich selbst im Kaleidoskop seiner Erinnerungen, die zu ordnen ihm nicht ohne weiteres gelingt.
Es macht den enormen Reiz von Itkonens Roman aus, dass auch nach der Synthese dieser Positionen gefragt wird. Esa findet sie schließlich für sich, indem er für seine eigene Tochter zum Autor der Familiengeschichte wird.
"In Finnland", schreibt der moderne Klassiker Henrik Tikkanen 1975 in seinem autobiographischen Roman "Brändovägen 8 Brändo. Tel. 35", der jetzt auf Deutsch erscheint, "ist die Geschichte wie ein Wintertag. Kurz und dunkel, und es ist schwer, die zu erkennen, die ein wenig weiter weg sind." Tatsächlich ist die Geschichte des finnischen Nationalstaats jung. Bis 1809 gehörte Finnland zu Schweden, daher rührt die jahrhundertelange Dominanz des Schwedischen als Sprache der Oberschicht und des kulturellen Austauschs - bis heute gibt es eine reiche finnlandschwedische Literatur, deren prominenteste Vertreterin die vor hundert Jahren geborene "Mumin"-Autorin Tove Jansson war. Nach 1809 fiel das Land als Großfürstentum an Russland, und die Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins im neunzehnten Jahrhundert geht einher mit der Publikation des "Kalevala", eines aus mündlich tradierten Versen geschaffenen Epos, das auch im Ausland als Monument einer versunkenen finnischen Kultur gelesen wurde.
Auch dieses Werk feiert die Erinnerung: Wer die Welt beherrschen will, so seine Botschaft, muss den Ursprung der Dinge kennen - Wasser, Eisen, Feuer, Himmel und Erde -, dann kann er sie mit einem Spruch für seine Zwecke einsetzen. Und es ist der unbedingte Glaube an die Macht des Wortes, der im "Kalevala" auf jeder Seite aufscheint, der das Werk als Fanal des Aufbruchs seiner Sprache erscheinen lässt.
Das "Kalevala" erschien 1835 in seiner ersten Fassung. Es dauerte aber bis 1870, ehe der erste finnisch geschriebene Roman erschien: "Sieben Brüder" von Aleksis Kivi, stilistisch zwischen auktorialer Erzählung und reiner Dialogform gehalten. Sein Schauplatz ist die Wildnis, die es zu erobern gilt, und auch in der Folge sind viele in der Stadt gelesene finnische Romane auf dem Land angesiedelt, etwa Werke von Juhani Aho oder Frans Emil Sillanpää, der 1939 als bislang einziger Finne mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Roman "Frommes Elend" von 1919, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, hebt sich dabei deutlich ab von all den europäischen Bauernromanen jener Zeit, indem er seinen Helden in ein ländliches Leben hineinstößt, dem alle Romantik fehlt, in dem die Armut, der Hunger und die Lebensgefahr allgegenwärtig sind, Solidarität unter den Ärmsten aber nicht zu finden ist.
Noch immer spielt das Land mit seinen Sommerhäusern, den Wäldern, Inseln und Seen als Rückzugs- oder Sehnsuchtsort eine gehörige Rolle in der finnischen Gegenwartsliteratur, etwa in der Novelle "Der Mond flieht" des 1954 geborenen Künstlers Rax Rinnekangas. Es ist ein Erinnerungsbuch an einen Sommer in Finnlands Norden, seit jeher eine Region, die mit Magie assoziiert wird, und der Erzähler berichtet von seiner Liebe zu seiner Cousine Sonja, vom jähen Tod des Mädchens und davon, wie alte Verwerfungen zwischen den Familienmitgliedern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hingenommen werden, ohne dass irgendjemand eine Klärung versucht. Deshalb sieht Lauri, der Erzähler, der damals dreizehn Jahre alt war, in der Rückschau den Moment, in dem er den Unterschied zwischen Glauben und Wissen für sich entdeckte, als den Beginn seines erwachsenen Lebens an. Es ist der Moment, in dem er sich der Formbarkeit von Erinnerung bewusst wird.
Was aber, wenn die Wahrnehmung von vornherein dadurch limitiert ist, dass man sich in einem Ausnahmezustand befindet? Die Frage stellt sich bei dem aus verschiedenen Perspektiven erzählten Roman "Wildauge" von Katja Kettu. Die Autorin, geboren 1978, lässt in ihrem Buch, das nach Kettus Aussage auf Dokumente ihrer eigenen Großmutter zurückgeht, während der letzten Kriegsmonate, als Finnland mit der Sowjetunion einen Separatfrieden geschlossen hatte und deshalb zum Feind des früheren deutschen Verbündeten geworden war, in Lappland eine leidenschaftliche Hebamme auf einen deutschen SS-Mann mit finnischen Wurzeln prallen. In ihrer absoluten Fixiertheit auf jenen Johann Angelhurst, der schwer traumatisiert aus der Ukraine zurückkommt, begibt sich die Hebamme in ein Gefangenenlager am Eismeer und führt dort an den Häftlingen medizinische Versuche durch. In einer teils derben, teils mit Chiffren aus dem Fundus religiöser Verzückung gespeisten Sprache hält sie für den abwesenden Geliebten das Erlebte sehr selektiv fest, was im Roman durch einordnende Passagen anderer Protagonisten und Angelhursts eigenen Bericht gespiegelt wird.
Bezeichnend ist dabei eine Entscheidung, die der Hebamme abverlangt wird, als sich die deutsche Niederlage abzeichnet und sie die Möglichkeit erhält, mit den anderen Frauen zusammen den Ort des Grauens zu verlassen, um in etwa dort weiterzumachen, wo man vor dem Krieg war. Aber würde man sie lassen? "Ich würde mit Flecken der verflossenen Waffenbrüder auf dem Rocksaum in das verbrannte Lappland zurückkehren", sagt die Hebamme.
Gut möglich, dass der Roman um dieser Szene willen geschrieben wurde. Weitermachen, als sei nichts geschehen, ist in den Augen der Hebamme wie der Autorin keine Option. In anderen Augen schon, zumal wenn sich die Erzählung der Vergangenheit in einer Weise formen lässt, die eine folgerichtige berufliche Perspektive eröffnen. Fälschen, umschreiben, denunzieren: Bei Sofi Oksanens Edgar führt die fortgesetzte Anwendung dieser Fertigkeiten geradewegs in die Existenz eines systemkonformen, gutdotierten Schriftstellers in der estnischen Sowjetrepublik.
Und so wurzelt Oksanens böse Pointe darin, dass derjenigen, die die Wahrheit sagt, nicht geglaubt wird: Während Edgar Parts mit seiner dreisten Geschichtsklitterung durchkommt, landet seine Frau Juudit, die ihre Erinnerungen an das, was Edgar wirklich im Krieg getan hat, auch in noch so viel Alkohol nicht ertränken konnte, wegen "Wahnvorstellungen" in der Psychiatrie. Auch dagegen, so kann man sich das deuten, werden zurzeit in Finnland Bücher geschrieben, die ihresgleichen suchen. Als Gastgeschenk haben sie gerade den deutschen Lesern viel zu sagen.
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»Eine großartig geschriebene Geschichte über drei Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen.« Cornelia Camen BuchMarkt 20140701