Vom Leben mit der Schuld und dem Ende der Zeitzeugenschaft
Gretel Fernsby lebt seit Jahrzehnten in ihrer Londoner Wohnung. Sie führt ein ruhiges Leben, trotz ihrer dunklen Vergangenheit. Über ihre Flucht aus Deutschland vor über siebzig Jahren spricht sie nicht. Vor allem aber verliert sie kein Wort über ihren Vater, der Kommandant in einem Konzentrationslager war. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, weckt der neunjährige Henry Erinnerungen, die sie lieber vergessen würde. Eines Nachts wird sie Zeugin eines Streits zwischen Henrys Mutter und dem jähzornigen Vater. Ein Streit, der Gretels hart erkämpfte, zurückgezogene Existenz bedroht. Sie bekommt die Chance, ihre Schuld zu sühnen und den Jungen zu retten. Doch dazu muss sie offenbaren, was sie ein Leben lang verschwiegen hat ...
»Der Roman, in dem mosaiksteinhaft ein Leben bilanziert wird, wandelt sich am Ende noch rasant zum Krimi.« rbb Kultur, Der Morgen
Gretel Fernsby lebt seit Jahrzehnten in ihrer Londoner Wohnung. Sie führt ein ruhiges Leben, trotz ihrer dunklen Vergangenheit. Über ihre Flucht aus Deutschland vor über siebzig Jahren spricht sie nicht. Vor allem aber verliert sie kein Wort über ihren Vater, der Kommandant in einem Konzentrationslager war. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, weckt der neunjährige Henry Erinnerungen, die sie lieber vergessen würde. Eines Nachts wird sie Zeugin eines Streits zwischen Henrys Mutter und dem jähzornigen Vater. Ein Streit, der Gretels hart erkämpfte, zurückgezogene Existenz bedroht. Sie bekommt die Chance, ihre Schuld zu sühnen und den Jungen zu retten. Doch dazu muss sie offenbaren, was sie ein Leben lang verschwiegen hat ...
»Der Roman, in dem mosaiksteinhaft ein Leben bilanziert wird, wandelt sich am Ende noch rasant zum Krimi.« rbb Kultur, Der Morgen
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
John Boyne hätte besser auf dieses Sequel zu seinem Erfolgsroman "Der Junge im gestreiften Pyjama" verzichtet, meint Rezensent Sascha Feuchert. Zum einen handelt es sich laut Feuchert einfach um ein schlechtes Buch. Schlimmer noch ist es für den Kritiker allerdings, dass Boyne dem Vorgängerroman durch diese Fortsetzung so etwas wie ein historische Grundlage verpasst - und so haben wir es nun mit zwei "erschütternd trivialisierenden" Romanen zum Holocaust zu tun, stöhnt der Rezensent. Erzählt wird die Geschichte von Brunos überlebender Schwester Gretel, die nach dem Krieg und der Hinrichtung des Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter von ehemaligen Résistance-Kämpfern brutal misshandelt wird, Vergangenheit und Schuldgefühle als Kind eines Täters in Australien hinter sich lassen will, dort aber auf einen ehemaligen SS-Mann trifft. Der führt ihr noch einmal die Gräueltaten des Vaters vor Augen, setzt ihr außerdem die von ihm entwendete Brille Hitlers auf die Nase, worauf Gretel gleichermaßen "verzückt" und "entsetzt" stöhnt. Im Laufe des Romans trifft sie auf verschiedene Opfer des Holocaust - Begegnungen, die von Boyne oft in "schiefen Tönen" geschildert werden, wie der Kritiker bemerkt. Und wenn Gretel schließlich im hohen Alter noch einen Nachbarn, der seine Familie drangsaliert, tötet - und die Haftstrafe als Sühne der vermeintlichen Mitschuld an den Taten des Vaters auf sich nimmt, kommt Feuchert zu dem Schluss: In diesem Roman, der sich einfühlend und historisch geben will, stimmt wirklich nichts.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2023Durch Hitlers Brille
Diese Fortsetzung schädigt auch den großen Erfolg: John Boynes Roman über die Schuld der Täterkinder
Die große Lust am Weitererzählen dominiert nicht nur die Welt von Netflix und Co, schon lange sind "Prequels" und "Sequels" auch in der gedruckten Literatur vertraute Begriffe und Phänomene. Was uns Rezipienten an Serien unterschiedlichster Provenienz zu fesseln scheint, ist nicht nur unsere schiere Neugier, zu erfahren, wie eine Geschichte weitergeht oder was ihr vorausging, es ist auch das Wissen darum, dass jeder neue Teil das bereits Gelesene oder Gesehene im Nachhinein verändern wird: Im besten Falle ergibt sich aus dieser hermeneutischen Dauerschleife ein ästhetischer Mehrwert.
John Boynes Welterfolg "Der Junge im gestreiften Pyjama" gehört auf den ersten Blick nicht zu den Romanen, die nach einer Fortsetzung verlangen, denn die Geschichte scheint eigentlich auserzählt: Immerhin stirbt ihr Protagonist, der neunjährige Bruno, gemeinsam mit seinem jüdischen Freund Schmuel am Ende der Erzählung den grausamen Tod in der Gaskammer eines Konzentrationslagers, das sein Vater befehligt. Die vielen Leerstellen, die bleiben, müssen von den Lesern gefüllt werden - und machen für die meisten wohl den Charme des Romans aus. Freilich gab es auch harte Kritik, denn einigen Rezensenten erschien das Werk als eine verkitschte, völlig unplausible Trivialisierung des Holocausts. Wohlwollende Besprechungen wiesen dagegen darauf hin, dass Boyne einiges dafür getan habe, dass seine Erzählung eben nicht historisch gelesen werde, sondern "nur" als Gleichnis beziehungsweise "Fabel".
Jetzt hat der irische Autor dennoch ein "Sequel" vorgelegt und erzählt in "Als die Welt zerbrach" die Geschichte von Brunos Schwester Gretel weiter, die anders als ihr drei Jahre jüngerer Bruder den Krieg überlebt und danach gemeinsam mit der Mutter mit gefälschten Identitäten untertauchen kann. Der Vater wird - wie sein historisches Vorbild Rudolf Höss - hingerichtet. Vieles an diesem Roman ist anders als bei seinem Vorgänger: Gretel berichtet aus der Ich-Perspektive, die Erzählung gibt sich historisch einigermaßen kontrolliert und will offenbar - so informiert Boyne im Nachwort zur englischen Ausgabe, das bemerkenswerterweise nicht in die deutsche übernommen wurde - eruieren, wie schuldig ein junges Mädchen unter diesen Umständen werden kann und ob es ihm jemals gelingt, sich von den fürchterlichen Taten, die geliebte Menschen begangen haben, zu befreien.
Die Antworten, die der Roman anbietet, sind erschütternd - allerdings in einem anderen Sinne, als John Boyne es wohl geplant hat. Der Leser erlebt auf unterschiedlichen Zeitebenen eine Frau, die sich durch Flucht ihrer Verantwortung entzieht, immer getrieben von der Angst, für die Verbrechen ihres Vaters im Gefängnis zu landen. Dabei war sie erst zwölf, als sie mit ihrer Familie 1943 nach Auschwitz - den Namen nimmt sie auch im hohen Alter nie in den Mund - zog, und damit im juristischen Sinne nicht verantwortlich für das, was dort unter dem Befehl ihres Vaters geschah, auch wenn sie sich am Tod ihres Bruders mitschuldig fühlt. Nach dem Krieg wird sie jedoch zusammen mit ihrer Mutter von ehemalige Kämpfern der französischen Résistance enttarnt und brutal misshandelt. Fortan ist Gretel traumatisiert und tut alles, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, was ihr jedoch nur schwer gelingt, auch weil (wenig glaubwürdige) Zufälle es verhindern.
In Australien etwa, wo sie ein neues Leben beginnen will, begegnet ihr ausgerechnet der ehemalige Oberleutnant Kurt Kotler, für den sie als junges Mädchen heftig schwärmte, obwohl er vor ihren Augen einen jüdischen Häftling brutal erschlagen hatte. Kotler ist sich im Wesentlichen treu geblieben: Als Gretel von ihm verlangt, sich selbst zu enttarnen, reagiert der ehemalige SS-Mann gelassen - und das obwohl Gretel seinen Sohn in ihrer Gewalt hat, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Gretels Vater, so Kotler, sei schließlich das "Monster" gewesen, er nur ein Gehilfe und deshalb nicht verantwortlich. Aus seiner anhaltenden Faszination für Hitler macht Kotler kein Hehl; noch immer trägt er die Brille des "Führers" bei sich, die er dem Diktator am Ende des Kriegs unfreiwillig entwendete.
Was Boyne seine beiden Figuren dann tun lässt, muss den Leser nachdrücklich irritieren: Kotler fordert Gretel auf, die Brille aufzusetzen, um sozusagen - wie er es formuliert - "die Welt durch seine Augen" zu sehen. Die junge Frau gerät daraufhin in eine wilde Mixtur an Gefühlen: "Ich fühlte Übelkeit in mir aufsteigen. Ich fühlte Erregung. Ich fühlte Ohnmacht. Ich fühlte Macht." Und als die Brille auf der Nase sitzt, entfährt ihr "ein kehliges Geräusch - ein verzückter Seufzer oder ein entsetztes Stöhnen", so ganz sicher ist sie sich nicht. Eingeordnet wird dieser verstörende Anfall von Fetischismus im Roman nicht; man erfährt später allerdings, dass die Ich-Erzählerin Kotler weitgehend vom Haken lässt, weil sie fürchtet, selbst enttarnt zu werden.
Gretel flieht weiter nach London, wo sie schließlich sesshaft wird. Hier begegnen ihr gleich mehrfach Holocaust- Opfer, und die schiefen Töne des Romans nehmen weiter zu: Als sie etwa bei einer Kollegin eine Auschwitz-Tätowierung am Arm sieht, empfindet sie dies "als Zeichen Gottes", das sie an ihren "Anteil am Grauen" erinnern solle: "Meine Schuld war so tief in meine Seele eingebrannt wie die Nummer auf Miss Aaronsons Arm." Mit einem jungen Mann, der sich als Überlebender von Treblinka entpuppt, geht sie eine Beziehung ein und enthüllt ihm, wer sie wirklich ist - woraufhin dieser sie beschimpft und verlässt. Eine erste Erlösung erfährt sie dann durch eine Ehe: Ihr Mann Edgar, ehemals bester Freund des Treblinka-Überlebenden, wird ein bedeutender Weltkriegshistoriker und scheint bis zu seinem Tod gut mit Gretels Vergangenheit leben zu können.
Ein endgültiger Befreiungsschlag gelingt ihr ausgerechnet mit einem Mord: Sie tötet in hochbetagtem Alter kaltblütig ihren Nachbarn, der seine eigene Familie (zu der - natürlich - ein neunjähriger Sohn gehört, der Gretel beständig an ihren verstorbenen Bruder erinnert) brutal terrorisierte. Damit scheint ein Doppeltes erreicht: Zum einen hat sie endlich einmal gehandelt und sich gegen das Böse zur Wehr gesetzt, zum anderen kann die aus dem Mord resultierende Gefängnisstrafe als späte Sühne für Gretels (vermeintliche) Beteiligung an den KZ-Gräueln und am Tod ihres Bruders verstanden werden. Man ahnt, dass hier die Moral der Geschichte liegen soll - und ist befremdet ob dieser Form poetischer Gerechtigkeit.
Boynes gesamte Fabel scheitert, weil sie falsche Einfühlung bemüht, falsche Vergleiche zieht und geschichtlich viel zu unplausibel ist, obwohl sie sich durch viele Referenzen als historischer Roman auszuweisen versucht. Schlimmer noch: Diese inszenierte Teilhistorizität wirkt auch auf seinen "Jungen im gestreiften Pyjama" zurück, weil dessen Geschichte hier weitererzählt und damit auch der Vorgängerroman implizit als im Kern doch historisch beziehungsweise realistisch markiert wird - allen Strategien der Enthistorisierung in der Ausgangserzählung zum Trotz. Das heißt, dass wir es nun gleich mit zwei erschütternd trivialisierenden Romanen zum Holocaust zu tun haben. SASCHA FEUCHERT
John Boyne: "Als die Welt zerbrach". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Schickenberg und Nicolai von Schweder-Schreiner. Piper Verlag, München 2022. 416 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Fortsetzung schädigt auch den großen Erfolg: John Boynes Roman über die Schuld der Täterkinder
Die große Lust am Weitererzählen dominiert nicht nur die Welt von Netflix und Co, schon lange sind "Prequels" und "Sequels" auch in der gedruckten Literatur vertraute Begriffe und Phänomene. Was uns Rezipienten an Serien unterschiedlichster Provenienz zu fesseln scheint, ist nicht nur unsere schiere Neugier, zu erfahren, wie eine Geschichte weitergeht oder was ihr vorausging, es ist auch das Wissen darum, dass jeder neue Teil das bereits Gelesene oder Gesehene im Nachhinein verändern wird: Im besten Falle ergibt sich aus dieser hermeneutischen Dauerschleife ein ästhetischer Mehrwert.
John Boynes Welterfolg "Der Junge im gestreiften Pyjama" gehört auf den ersten Blick nicht zu den Romanen, die nach einer Fortsetzung verlangen, denn die Geschichte scheint eigentlich auserzählt: Immerhin stirbt ihr Protagonist, der neunjährige Bruno, gemeinsam mit seinem jüdischen Freund Schmuel am Ende der Erzählung den grausamen Tod in der Gaskammer eines Konzentrationslagers, das sein Vater befehligt. Die vielen Leerstellen, die bleiben, müssen von den Lesern gefüllt werden - und machen für die meisten wohl den Charme des Romans aus. Freilich gab es auch harte Kritik, denn einigen Rezensenten erschien das Werk als eine verkitschte, völlig unplausible Trivialisierung des Holocausts. Wohlwollende Besprechungen wiesen dagegen darauf hin, dass Boyne einiges dafür getan habe, dass seine Erzählung eben nicht historisch gelesen werde, sondern "nur" als Gleichnis beziehungsweise "Fabel".
Jetzt hat der irische Autor dennoch ein "Sequel" vorgelegt und erzählt in "Als die Welt zerbrach" die Geschichte von Brunos Schwester Gretel weiter, die anders als ihr drei Jahre jüngerer Bruder den Krieg überlebt und danach gemeinsam mit der Mutter mit gefälschten Identitäten untertauchen kann. Der Vater wird - wie sein historisches Vorbild Rudolf Höss - hingerichtet. Vieles an diesem Roman ist anders als bei seinem Vorgänger: Gretel berichtet aus der Ich-Perspektive, die Erzählung gibt sich historisch einigermaßen kontrolliert und will offenbar - so informiert Boyne im Nachwort zur englischen Ausgabe, das bemerkenswerterweise nicht in die deutsche übernommen wurde - eruieren, wie schuldig ein junges Mädchen unter diesen Umständen werden kann und ob es ihm jemals gelingt, sich von den fürchterlichen Taten, die geliebte Menschen begangen haben, zu befreien.
Die Antworten, die der Roman anbietet, sind erschütternd - allerdings in einem anderen Sinne, als John Boyne es wohl geplant hat. Der Leser erlebt auf unterschiedlichen Zeitebenen eine Frau, die sich durch Flucht ihrer Verantwortung entzieht, immer getrieben von der Angst, für die Verbrechen ihres Vaters im Gefängnis zu landen. Dabei war sie erst zwölf, als sie mit ihrer Familie 1943 nach Auschwitz - den Namen nimmt sie auch im hohen Alter nie in den Mund - zog, und damit im juristischen Sinne nicht verantwortlich für das, was dort unter dem Befehl ihres Vaters geschah, auch wenn sie sich am Tod ihres Bruders mitschuldig fühlt. Nach dem Krieg wird sie jedoch zusammen mit ihrer Mutter von ehemalige Kämpfern der französischen Résistance enttarnt und brutal misshandelt. Fortan ist Gretel traumatisiert und tut alles, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, was ihr jedoch nur schwer gelingt, auch weil (wenig glaubwürdige) Zufälle es verhindern.
In Australien etwa, wo sie ein neues Leben beginnen will, begegnet ihr ausgerechnet der ehemalige Oberleutnant Kurt Kotler, für den sie als junges Mädchen heftig schwärmte, obwohl er vor ihren Augen einen jüdischen Häftling brutal erschlagen hatte. Kotler ist sich im Wesentlichen treu geblieben: Als Gretel von ihm verlangt, sich selbst zu enttarnen, reagiert der ehemalige SS-Mann gelassen - und das obwohl Gretel seinen Sohn in ihrer Gewalt hat, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Gretels Vater, so Kotler, sei schließlich das "Monster" gewesen, er nur ein Gehilfe und deshalb nicht verantwortlich. Aus seiner anhaltenden Faszination für Hitler macht Kotler kein Hehl; noch immer trägt er die Brille des "Führers" bei sich, die er dem Diktator am Ende des Kriegs unfreiwillig entwendete.
Was Boyne seine beiden Figuren dann tun lässt, muss den Leser nachdrücklich irritieren: Kotler fordert Gretel auf, die Brille aufzusetzen, um sozusagen - wie er es formuliert - "die Welt durch seine Augen" zu sehen. Die junge Frau gerät daraufhin in eine wilde Mixtur an Gefühlen: "Ich fühlte Übelkeit in mir aufsteigen. Ich fühlte Erregung. Ich fühlte Ohnmacht. Ich fühlte Macht." Und als die Brille auf der Nase sitzt, entfährt ihr "ein kehliges Geräusch - ein verzückter Seufzer oder ein entsetztes Stöhnen", so ganz sicher ist sie sich nicht. Eingeordnet wird dieser verstörende Anfall von Fetischismus im Roman nicht; man erfährt später allerdings, dass die Ich-Erzählerin Kotler weitgehend vom Haken lässt, weil sie fürchtet, selbst enttarnt zu werden.
Gretel flieht weiter nach London, wo sie schließlich sesshaft wird. Hier begegnen ihr gleich mehrfach Holocaust- Opfer, und die schiefen Töne des Romans nehmen weiter zu: Als sie etwa bei einer Kollegin eine Auschwitz-Tätowierung am Arm sieht, empfindet sie dies "als Zeichen Gottes", das sie an ihren "Anteil am Grauen" erinnern solle: "Meine Schuld war so tief in meine Seele eingebrannt wie die Nummer auf Miss Aaronsons Arm." Mit einem jungen Mann, der sich als Überlebender von Treblinka entpuppt, geht sie eine Beziehung ein und enthüllt ihm, wer sie wirklich ist - woraufhin dieser sie beschimpft und verlässt. Eine erste Erlösung erfährt sie dann durch eine Ehe: Ihr Mann Edgar, ehemals bester Freund des Treblinka-Überlebenden, wird ein bedeutender Weltkriegshistoriker und scheint bis zu seinem Tod gut mit Gretels Vergangenheit leben zu können.
Ein endgültiger Befreiungsschlag gelingt ihr ausgerechnet mit einem Mord: Sie tötet in hochbetagtem Alter kaltblütig ihren Nachbarn, der seine eigene Familie (zu der - natürlich - ein neunjähriger Sohn gehört, der Gretel beständig an ihren verstorbenen Bruder erinnert) brutal terrorisierte. Damit scheint ein Doppeltes erreicht: Zum einen hat sie endlich einmal gehandelt und sich gegen das Böse zur Wehr gesetzt, zum anderen kann die aus dem Mord resultierende Gefängnisstrafe als späte Sühne für Gretels (vermeintliche) Beteiligung an den KZ-Gräueln und am Tod ihres Bruders verstanden werden. Man ahnt, dass hier die Moral der Geschichte liegen soll - und ist befremdet ob dieser Form poetischer Gerechtigkeit.
Boynes gesamte Fabel scheitert, weil sie falsche Einfühlung bemüht, falsche Vergleiche zieht und geschichtlich viel zu unplausibel ist, obwohl sie sich durch viele Referenzen als historischer Roman auszuweisen versucht. Schlimmer noch: Diese inszenierte Teilhistorizität wirkt auch auf seinen "Jungen im gestreiften Pyjama" zurück, weil dessen Geschichte hier weitererzählt und damit auch der Vorgängerroman implizit als im Kern doch historisch beziehungsweise realistisch markiert wird - allen Strategien der Enthistorisierung in der Ausgangserzählung zum Trotz. Das heißt, dass wir es nun gleich mit zwei erschütternd trivialisierenden Romanen zum Holocaust zu tun haben. SASCHA FEUCHERT
John Boyne: "Als die Welt zerbrach". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Schickenberg und Nicolai von Schweder-Schreiner. Piper Verlag, München 2022. 416 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Boynes Buch ist sowohl Geschichtsstunde als auch die fesselnde Biografie einer Frau, die exemplarisch für so viele Menschen einer Generation in Deutschland steht, die es bald nicht mehr gibt.« Madame 20221103