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Ein vergessenes Meisterwerk, das es zu entdecken gilt, ein einmaliges Zeitzeugnis: »Als die Zeit stillstand«, das bewegende Tagebuch des großen Schriftstellers und Journalisten Léon Werth aus dem besetzten Frankreich zur Zeit des Vichy-Regimes der Jahre 1940 bis 1944. Im Sommer 1940 besetzen die Deutschen Paris. Der französische Publizist und Kritiker Léon Werth, jüdischer Herkunft, Pazifist und Antikolonialist, flieht und versteckt sich in einem Dorf im Jura. Flüchtlinge und Dorfbewohner leben hier zusammen, begierig auf Nachrichten, abgekapselt und doch ganz nah am Geschehen. Frankreich ist…mehr

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Produktbeschreibung
Ein vergessenes Meisterwerk, das es zu entdecken gilt, ein einmaliges Zeitzeugnis: »Als die Zeit stillstand«, das bewegende Tagebuch des großen Schriftstellers und Journalisten Léon Werth aus dem besetzten Frankreich zur Zeit des Vichy-Regimes der Jahre 1940 bis 1944.
Im Sommer 1940 besetzen die Deutschen Paris. Der französische Publizist und Kritiker Léon Werth, jüdischer Herkunft, Pazifist und Antikolonialist, flieht und versteckt sich in einem Dorf im Jura. Flüchtlinge und Dorfbewohner leben hier zusammen, begierig auf Nachrichten, abgekapselt und doch ganz nah am Geschehen.
Frankreich ist im Innersten gespalten, Republik und Demokratie sind bedroht, Nationalisten begrüßen den deutschen Sieg. Léon Werth schildert diesen Kosmos in seinem einzigartigen Tagebuch. Eine Welt zwischen Angst und Hoffnung, in der die Menschen ihren Weg suchen, sich aufgeben, kollaborieren oder an einer Zivilisation festhalten, die zutiefst bedroht ist.
Werths zeitlose Einsichten in menschliches Denken und Handeln in einer verstörenden Zeit sind ein Meisterwerk der Literatur und ein visionäres Vermächtnis.
Mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt, der herausstreicht, wie aktuell Léon Werths Gedanken immer noch sind: Denn wie damals stellt sich auch heute wieder die Frage, wie man sich als Mensch in einem Land verhalten kann, in dem Freiheit und Demokratie gefährdet sind.

»Ein bewundernswertes historisches Dokument. Ich kenne keines, das wertvoller wäre.«
Lucien Febvre
Autorenporträt
Léon Werth (1878-1955) war ein französischer Schriftsteller und Kunstkritiker. Er war Pazifist, Linker, Kritiker Stalins und Antikolonialist. Sein Roman ¿Das weiße Zimmer¿ wurde 1913 für den Prix Goncourt vorgeschlagen. 1914 zog er als Soldat in den Ersten Weltkrieg. Seine Erlebnisse fasste er in der kriegskritischen Erzählung ¿Clavel Soldat¿ zusammen, die einen Skandal auslöste. 1931 machte er die Bekanntschaft von Antoine de Saint-Exupéry, woraus sich eine große Freundschaft entwickelte. Saint-Exupéry widmete ihm sein bekanntestes Werk, ¿Der Kleine Prinz¿. Das Manuskript zu seiner Erzählung '33 Tage', die 2016 bei S. Fischer erstmals auf Deutsch erschien, war bis 1992 verschollen. Sein Tagebuch 'Als die Zeit stillstand', 2017 endlich ins Deutsche übersetzt, ist sein literarisches Vermächtnis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017

Ihre Demütigung ist meine Demütigung

Beobachtungen eines Unbestechlichen: Léon Werths Tagebuch aus dem Alltag unter deutscher Besatzung zeigt, wie Frankreich in schwerer Zeit lebte.

Von Helmut Mayer

Am 13. Juni 1940 erreichen deutsche Soldaten Paris. Erst einen Tag zuvor war die Metropole zur freien, also kampflos dem Gegner überlassenen Stadt erklärt worden. Viel zu spät, um der Massenflucht aus der Hauptstadt zuvorzukommen. Unter den Flüchtenden, die auf den verstopften Straßen bald kaum mehr weiterkommen, ist auch der Schriftsteller und Kunstkritiker Léon Werth, damals bereits über sechzig Jahre alt, mit seiner Frau Suzanne. Über einen Monat wird das Ehepaar brauchen, um sein Landhaus im französischen Jura zu erreichen.

Dort angekommen, schreibt Léon Werth zuerst nieder, was ihm während dieser Tage des "Exodus" begegnete. Ein Bericht, dessen deutsche Übersetzung 1996 zum ersten Mal auf Deutsch erschien und voriges Jahr, ergänzt um ein in der Zwischenzeit aufgetauchtes Vorwort, das Werths enger Freund Antoine de Saint-Exupéry für eine ins Auge gefasste amerikanische Ausgabe verfasst hatte, neu aufgelegt wurde (F.A.Z. vom 5. Juli 2016).

Aber dieser Bericht der "33 Tage" ist nur der schmale Auftakt für ein weit größeres Unterfangen. Denn Léon Werth schrieb weiter, während dreieinhalb Jahren im Jura - im Landhaus bei Saint-Amour und im nicht weit entfernten Bourg-en-Bresse, der Hauptstadt des Departements -, bevor er Anfang 1944, als die Niederlage Hitlerdeutschlands sich bereits abzeichnet, nach Paris zurückkehrte. Von Ende Juli 1940 bis zum 26. August 1944, als Charles de Gaulle im befreiten Paris die Champs-Elysées hinabschreitet, reichen schließlich seine Aufzeichnungen.

Als sie 1946 unter dem Titel "Déposition" - also in etwa "Zeugenaussage" - erschienen, blieben sie weitgehend unbeachtet. Man war wenig geneigt, sich mit Zeugnissen zu beschäftigen, die den Rückblick auf das Vichy-Frankreich weder mit leicht erkennbaren politischen Aussichten verknüpften noch der von de Gaulle abgesegneten nationalen Erzählung vom wahren, im Kern widerständigen Frankreich zuarbeiteten. Tatsächlich brauchte es dann mehr als vier Jahrzehnte, bis eine neue französische Ausgabe der Aufzeichnungen erschien, Anstoß auch für Neuauflagen einiger anderer Bücher des wiederentdeckten Autors Léon Werth.

Und nun liegt tatsächlich eine deutsche Ausgabe dieser in mancher Hinsicht unter den Zeugnissen der "dunklen Jahre" hervorstechenden Betrachtungen vor. Für die Publikation waren sie wohl von Anfang an bestimmt, doch glaubt man diesem Autor, dass er die vielen hundert Seiten für die Drucklegung nicht überarbeitete, sondern so abgab, wie sie Woche für Woche entstanden waren.

Der Intellektuelle Werth, der die Bezeichung "Intellektueller" verabscheute - und nicht ohne Stolz vermerkte, wie ein Bauer der Bresse reden zu können -, stand links, ohne allerdings in Gefahr zu kommen, sich in Parteidoktrinen samt Anhimmelung Stalins zu verheddern. Die "nationale Revolution" unter Marschall Pétain war ihm von Anfang an Gegenstand des Spotts, eine Annäherung an Kollaborations-Kreise, welchen Grades auch immer, kam für ihn nicht in Frage, und de Gaulles Mission verfolgte er mit Bewunderung, doch ohne darüber mit Blick auf das Nachkriegsfrankreich zum Gaullisten zu werden.

Aber das sind nur die groben und abstrakten politischen Koordinaten. Der Reiz von Werths Schilderungen und Betrachtungen ist gerade, abstrakte Zuordnungen hinter sich zu lassen und erst einmal zu beschreiben: was Werth sieht und hört, was die Leute - ob nun die Bauern der umliegenden Gehöfte, Händler, Groß- und Kleinbürger - ihm erzählen, wie "man" sich die neuesten Nachrichten und kursierenden Gerüchte zurechtlegt, was im Radio ("Feindsender" eingeschlossen) berichtet wird und was in den Zeitungen zu lesen steht.

Es schreibt da ein im Beobachten geschulter Autor. Und ein Autor, der sich selbst sehr genau in den Blick nimmt und sein Schreibpensum in der ungewohnten, oft lastenden Einsamkeit als Selbstbefragung versteht: Welches Frankreich ist es nun, das er verteidigen möchte? An welchen Traditionen und Üblichkeiten hängt sein von der katastrophalen Niederlage getroffener Patriotismus? Und glaubt er wirklich (noch) an ein "Volk", das sich mit ihm verknüpfen lässt? Der direkte Weg zu großen Gesten wäre da leicht zu finden. Aber ihn schlägt Werth durchaus nicht ein. Keine Spur davon, Vichys "Abituraufsatzplattitüden" und "Pastoralidyllen" rund um "Vaterland, Arbeit, Familie", emphatische Beschwörungen der Republik oder Nation entgegenzuhalten, deren Kolonialgeschichte in Indochina er aus eigener Anschauung kennt.

Bescheidener und gleichzeitig näher am Alltag setzt er an: "Mir liegt an der Zivilisation, an Frankreich. Ich habe nichts anderes, um mich anzuziehen. Ich kann nicht nackt ausgehen." Und wenn er doch in die Geschichte zurückgeht, klingt das einmal so: "Um dieses Frankreich zu schaffen, an dem ich so hänge, mussten an den bretonischen Landstraßen jene Gehenkten baumeln, von denen Madame de Sevigné schrieb." Um gleich darauf seinen historischen Ausflug ironisch zu kommentieren: "Endlich ein wenig Weisheit, ein wenig Dahingleiten. Über die Gipfel, über die Zeiten."

Doch um die Niederungen des Alltags geht es, der zäh gemachten Geschichte, in der die Arbeit der Bauern und das Leben in einem Provinzstädtchen überlagert werden von den Nachrichten in den Blättern, die Werth zitiert, kommentiert, mit einer knappen Sentenz aufspießt. Was sich da herausbildet aus einer unübersichtlichen politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, das ist lange Zeit nicht klar, könnte vielleicht auf eine Form "komfortabler Bestialität" unter deutscher Oberherrschaft hinauslaufen. Wofür ihm jene, die explizit auf die deutsche Karte setzen, mit oder ohne Vichy, der Beleg sind, insbesondere die "Bourgeoises", die einem Europa unter Hitler noch den Vorzug geben vor der "bolschewistischen" Gefahr von links. Das waren freilich nicht nur "bourgeoise" Franzosen.

Und immer wieder scharf umrissene Evokationen der Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, von Tieren auch. Gleich darauf kann eine Collage von im Städtchen Gehörten folgen; oder eine Passage aus Stendhal, den er wie andere Autoren, die er aus der Klassikerbibliothek zieht, zwanglos auf die Gegenwart anwendet; oder deutliche Worte von katholischen Zeitgenossen wie Maritain und Mauriac, die dem religiös Unbewegten Achtung abnötigen (Bernanos ohnehin); oder Gespräche mit dem Annales-Historiker Lucien Febvre, Nachbar Werths in Saint-Amour; oder eine Reflexion darüber, warum aus den Kategorien der Rechten und der Linken in Frankreich einfach nicht auszubrechen ist.

Gelegentlich stößt man auf eine der "Grübeleien", wie er sie selbst nennt. Etwa darüber, was es denn mit Gefühlen gegenüber den berichteten Hinrichtungen von Geiseln und den (spärlich) berichteten Untaten im Warschauer Getto auf sich habe. Empörung, schreibt er, sei doch beinahe noch ein Pharisäergefühl, das es erlaube, sich von aller Mitschuld reinzuwaschen: Ihm sei nur der lieb, der angesichts von Verbrechen "ein Gefühl der Scham, ein Gefühl der Schuld empfindet. Es genügt ihm nicht, dass das Verbrechen bestraft wird. Er muss sich von seiner Scham befreien. Und das führt dazu, dass er die Welt verändern will, in der das Verbrechen möglich ist."

Von dieser Passage aus dem Mai 1943 lässt sich ein Bogen zu den letzten Seiten schlagen, geschrieben im gerade befreiten Paris. Werth ist überwältigt, aber berauscht ist er nicht. Er sieht die Kolonnen der gefangenen Deutschen, "diese Karyatiden in verblichenen Uniformen, in der Haltung Verdammter". Die Demütigung dieser Männer sei "notwendig, ja sie entspricht der Gerechtigkeit. Ich billige sie, sie befriedigt mich, sie erleichtert mich, aber ich kann mich nicht darüber freuen."

Ob er denn vergessen habe, was diese Männer taten, hätten ihn alle gefragt, denen er dieses Gefühl gestand. Nein, er vergesse nichts, aber "wenn ein Mensch gedemütigt wird, ist seine Demütigung in mir". Und im ganz knappen letzten Eintrag vom 26. August 1944 steht dann eine Beobachtung der begonnenen "Säuberungen" und Racheaktionen: "Die kahlen Schädel dieser Frauen (...). Eine von ihnen hatte das fahle Gesicht und die geweiteten Augen, die ich bei einem zum Tode Verurteilten gesehen habe, der zum Schafott geführt wurde." Dann erst geht Charles de Gaulle, während sich die Rufe aus der Menge zu einer einzigen Woge vereinen, die Champs-Elysées hinab.

Léon Werth: "Als die Zeit stillstand". Tagebuch 1940-1944.

Vorwort Georges-Arthur Goldschmidt. Aus dem Französischen von B. Heber-Schärer und T. Scheffel.

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 944 S., geb., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017

Was tun mit dem Hass?
Zwei eindrückliche Flüchtlingsaufzeichnungen aus dem besetzten Frankreich: Der Österreicher Moriz Scheyer
und der Franzose Léon Werth teilen eine Erfahrung, kommen aber zu sehr verschiedenen Ergebnissen
JOSEPH HANIMANN
Unter den vom Hitlerregime verfolgten jüdischen Flüchtlingen gab es in Frankreich einen entscheidenden Unterschied: den der Staatsangehörigkeit. Wohl gerieten auch französische Juden ins Inferno der Deportation. Ihre Zahl blieb aber beschränkt: kaum ein Fünftel. Schwerer hatten es die Ausländer mit ihrer permanenten Angst vor Denunzianten und Häschern bei der Flucht von Versteck zu Versteck durch ein ihnen weitgehend fremdes Land. Zwei Lebenszeugnisse führen diesen Erfahrungsunterschied des Flüchtlingsdaseins eindrücklich vor Augen. Beide Texte sind zwischen 1940 und 1945 entstanden. Man sollte sie parallel lesen.
Moriz Scheyer ist eine heute praktisch vergessene Figur. Der 1886 in Rumänien geborene und in Wien aufgewachsene Journalist hatte an der Wiener Oper noch „Fidelio“ unter Gustav Mahler gehört, verkehrte mit Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Joseph Roth. In den frühen Zwanzigerjahren schrieb er als Kulturkorrespondent aus Paris für das Neue Wiener Tagblatt, dessen Feuilletonchef er dann wurde. 1938 floh er über die Schweiz nach Frankreich, sein Lieblingsland. „In Österreich war ich zu Hause, aber in Frankreich fühlte ich mich daheim“, schreibt er. Entscheidend ist die Imperfektform des zweiten Halbsatzes: Das war einmal. Die Herzlichkeit der Leute änderte sich, als er statt als Journalist als Flüchtling kam. „Pas d’histoires!“ war die häufigste Reaktion, wenn er mit der Bitte um Arbeitsvermittlung oder dergleichen an die Türen klopfte. Man blieb freundlich, aber ausweichend und wollte keine Scherereien.
Von den französischen Behörden nach Kriegsausbruch als „Untertan Hitlers“ zunächst verhaftet, dann wieder freigelassen, erlebte er Paris unter der deutschen Besatzung als schiere Hässlichkeit aus Hakenkreuzen, hölzernen Wegweisern zu Amtsstellen, aus „teutonischen Wulstnacken und Mammutgesäßen“ sowie permanenten Stechschrittaufmärschen über die Boulevards, „als wollte das Herrenvolk selbst der Luft noch bei jedem Stechschritt einen Fußtritt versetzen“. Zusammen mit seiner Frau irrte er dann auf der Flucht vor den Deutschen durch die „Freie Zone“ Frankreichs. Bei Grenoble wurden die beiden von den Gendarmen Vichys gefasst, entgingen aber der Deportation und fanden ab 1942 Unterschlupf in einem Frauenkloster der Dordogne. Dort hatte Scheyer Muße, seine Erlebnisse niederzuschreiben. Interessant ist daran, dass da ein Feuilletonist am Werk ist mit Detailblick, Sprachgefühl, Hintergrundwissen, spitzer Feder und Situationsgespür.
Die surrealen Szenen des großen Exodus aus Paris im Frühsommer 1940, das Verhaltensspektrum französischer Kollaborateure, Lakaien, Schergen, Schlepper und Schieber „auf dem schwarzen Markt der Niedertracht“ oder den Todesmut der Résistance-Kämpfer schildert er mit sarkastischem Schliff. Im Beispiel der „Weiber der Kollaboration“ etwa, die nicht von, sondern für die Prostitution lebten, um die Gunst der neuen Herren wetteiferten und „nach der Invasion Frankreichs ihrerseits die Eindringlinge in einer ‚pénétration pacifique‘ zu erobern“ versuchten.
Überschattet werden diese pointierten Schilderungen jedoch von einer Neigung zur Klage und Anklage. Nach Scheyers Tod 1949 warf dessen in England lebender Stiefsohn das unveröffentlichte Manuskript weg. „Von Selbstmitleid triefend“, fand er. Dessen Sohn Peter N. Singer wiederum fand unlängst auf dem Dachboden aber einen Kohledurchschlag davon. Er veröffentlichte es zunächst in englischer Übersetzung. Hier liegt zum ersten Mal die deutsche Originalversion vor mit einem ausführlichen Editionsbericht. Singer berichtet darin auch von seinen Auseinandersetzungen mit seinem Vater über die exzessive Pauschalverurteilung der Deutschen im Text. Die ist tatsächlich massiv. Der schlimmste Satz fällt im Zusammenhang der Verhaftung des Ehepaars Scheyer im Spätsommer 1942 bei Grenoble, bei der ein französischer Arzt die beiden vor der Auslieferung an die Deutschen bewahrte. „Dieser Arzt war ein Mensch“, schreibt der Autor, „er war kein Deutscher“.
Ganz anders ist der Ton und die Situation im Fall des Schriftstellers Léon Werth. Dieser 1878 geborene überzeugte Pazifist, Autor zweier berühmter Antikriegsromane nach dem Ersten Weltkrieg, enger Freund Antoine de Saint-Exupérys, der ihm den „Kleinen Prinzen“ widmete, musste als Jude im Juni 1940 ebenfalls Paris verlassen. Die endlose Irrfahrt mit seiner Frau bis zu deren Landhaus im französischen Jura hat er im Buch „33 Tage“ geschildert. In diesem Haus hielt er sich dann die folgenden vier Jahre versteckt, ging allerdings am Ort ziemlich frei herum, sprach mit den Leuten, wagte sogar Abstecher bis nach Lyon. Seine Hauptkumpanin war dennoch die Einsamkeit, „ich habe Einsamkeit in mir, wie man einen schlechten Geschmack im Mund hat“. Außer Lesen und Tagebuchschreiben gab es kaum etwas zu tun. Das macht aus diesen in Frankreich 1946 erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen ein einzigartiges Zeugnis der Besatzungsjahre, das den Ereignissen von Tag zu Tag folgt.
Mit seinem scharfen politischen Gespür, seiner Sensibilität, seiner Selbstironie und seiner enormen Belesenheit registriert der Schriftsteller aufgrund der spärlichen Informationen aus Zeitungen, Rundfunk und Kneipengesprächen, wie man das Geschehen erlebte. Er beobachtet, wie die Bauern die Niederlage 1940 hinnahmen wie einen Unwetterschaden, wie sie an der Propaganda von Vichy aber einfach vorbeilebten, dennoch lange am Mythos festhielten, Pétain treibe mit Hitler ein Doppelspiel zum Wohle Frankreichs, und wie sie dann immer stärker auf einen Sieg Englands und der Alliierten setzten. Frankreich wartet ab und „hält die Daumen“, notiert der Autor und protokolliert immer wieder Gesprächsfetzen. „Der Marschall Pétain konnte nichts anderes tun“, sagt einer zu ihm. „Doch“, antwortet er, „sein Schwert über dem Knie zerbrechen, einen historischen Satz sagen, erklären, dass er akzeptiert habe, Verwalter der Niederlage, nicht aber, Komplize des Feindes zu sein“.
Léon Werth war zu alt, um in die Résistance zu gehen. Was de Gaulle in England genau vorhatte, beschäftigte ihn aber seit dem September 1940, vor dem Hintergrund der bangen Frage, ob ein womöglich für Jahrhunderte germanisiertes Frankreich wiederzuerwecken sein würde. Sofort folgt indessen die Selbstzurechtweisung – „werde auch ich nun Frankreich anheulen wie Hunde den Mond?“. Klagen über Einsamkeit, Entbehrung, Enttäuschung kommen in diesem Tagebuch so gut wie nicht vor. Und noch erstaunlicher: Auch unmittelbare Überlebensangst schien der Autor kaum zu haben. Zwei Tage nach der Besetzung der Südzone liest Werth Eckermanns „Gespräche mit Goethe“. Bei der Ankunft der Deutschen in seinem Städtchen ist er zunächst nur empfänglich für den „Zirkus-Charme“ ihres Auftritts und beim Anblick eines einsam durch die Straßen irrenden deutschen Soldaten wundert er sich über seine widersprüchlichen Gefühle ihm gegenüber: Mitleid und Todeswunsch. In seiner Tristesse sagt er sich zwar, dass auch ihm Schlimmes passieren könnte wie Konzentrationslager, doch schon ein paar Zeilen weiter zitiert er in seiner Entbehrung sehnsüchtig Flauberts Bemerkung in den Briefen: „Ich rauche Pfeife um Pfeife“.
Dahinter steht nicht Gefühllosigkeit, sondern Größe. Die Brutalität des Hitlerregimes und die Not der Opfer nimmt der Tagebuchautor genau wahr. Er stellt die Frage nach „dem Teil Verantwortung jedes einzelnen Deutschen“. Man könne nicht anders als sie hassen, gibt er zu – „doch was tun mit diesem Hass?“. Für eine neue Welt nach dem Krieg tauge er wenig. Der missglückte Friede nach dem Ersten Weltkrieg war für Léon Werth Anlasss zu dauerndem Kummer. Vor seinem Tod 1955 hatte er immerhin noch Zeit, Hoffnung auf einen besseren Frieden zu schöpfen.
„Ich habe Einsamkeit in mir,
wie man einen schlechten
Geschmack im Mund hat.“
Moriz Scheyer: Selbst das Heimweh war heimatlos. Bericht eines jüdischen Emigranten 1938 – 1945. Rowohlt-Verlag, Reinbek
bei Hamburg, 2017.
384 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Léon Werth: Als die
Zeit stillstand. Tagebuch 1940 – 1944. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Tobias Scheffel. Vorwort: Georges-Arthur Goldschmidt. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2017. 944 Seiten, 36 Euro. E-Book 29,99 Euro.
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Was für ein faszinierendes Buch! Das Tagebuch von Léon Werth [...] gehört zu den großartigen Entdeckungen in diesem Bücherherbst. Wolf Scheller Saarbrücker Zeitung 20171212