Michel Leiris und Claude Lévi-Strauss haben mit Phantom Afrika (orig. 1934) und Traurige Tropen (orig. 1955) als Erste die Herausforderungen an Ethnologen und Reisende thematisiert, die sich für längere Zeit bei einem ihnen fremden Volk aufhalten: Menschen aufsuchen, ihre Sprache und Gewohnheiten, ihr Denken, ihre Gesellschaft und Glaubenssysteme studieren, ohne dazu eingeladen worden zu sein. Was ist das Fremde? Wie geht man als Forscher damit um? Wer ist man, wenn man dem fremden Stoff - als Ethnologe im Feld meist auf sich allein gestellt - begegnet?
Der US-amerikanische Anthropologe Paul Rabinow, geboren 1944, setzt diese illustre Denk- und Forschertradition auf Augenhöhe fort. Er ist im deutschen Raum bislang nur mit anspruchsvollen Arbeiten zu Fragen von Identität, Rationalität, Aufklärung, Moderne, Fremde und Vernunft bekannt. Doch seine Erstlingsarbeit ist ein frischer, hoch anregender und sehr plastisch geschriebener Bericht über seine ethnologische Feldforschung als junger Mann im Marokko der späten 1960er Jahre. Sie blieb bisher unübersetzt, obwohl sie sich würdig neben die oben genannten Arbeiten stellt. Rabinows Essay verbindet enorme Klugheit der Reflexion mit einfacher, schöner Sprache. Höchste Ansprüche an Wahrhaftigkeit in der Beurteilung des eigenen Tuns gehen einher mit einer Transparenz der Darstellung, die - wie bei Leiris und Lévi-Strauss - auch ihre unbeabsichtigten poetischen Momente kennt.
"Dieser studentische Ennui und mein Hang zu Intellektualität hatten mich zur Anthropologie geführt. Sie schien die einzige akademische Disziplin zu sein, in der man per definitionem eines Tages die akademischen Elfenbeintürme und Bibliotheken verlassen, sich von den Mit-Akademikern verabschieden musste. Ihr Forschungsbereich war vermessen riesig, von Lemurenfüßen bis Schattenspiele schloss er alles ein. Ein Professor sagte, Anthropologie sei die perfekte 'Disziplin des Dilettanten'."
Paul Rabinow
"Wie ethnografisch! Da war ich erst ein paar Tage in Marokko, hatte mich in einem Hotel eingerichtet, einem Relikt aus Kolonialzeiten, trank im Garten Kaffee und hatte nichts anderes zu tun, als mit 'meiner' Feldforschung zu beginnen. Mir war nicht ganz klar, was das eigentlich hieß, außer dass ich annahm, ich würde ein wenig in Sefrou herumschlendern. Schließlich war ja alles Feldstudium, nun, da ich draußen im Feld war."
Paul Rabinow
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Der US-amerikanische Anthropologe Paul Rabinow, geboren 1944, setzt diese illustre Denk- und Forschertradition auf Augenhöhe fort. Er ist im deutschen Raum bislang nur mit anspruchsvollen Arbeiten zu Fragen von Identität, Rationalität, Aufklärung, Moderne, Fremde und Vernunft bekannt. Doch seine Erstlingsarbeit ist ein frischer, hoch anregender und sehr plastisch geschriebener Bericht über seine ethnologische Feldforschung als junger Mann im Marokko der späten 1960er Jahre. Sie blieb bisher unübersetzt, obwohl sie sich würdig neben die oben genannten Arbeiten stellt. Rabinows Essay verbindet enorme Klugheit der Reflexion mit einfacher, schöner Sprache. Höchste Ansprüche an Wahrhaftigkeit in der Beurteilung des eigenen Tuns gehen einher mit einer Transparenz der Darstellung, die - wie bei Leiris und Lévi-Strauss - auch ihre unbeabsichtigten poetischen Momente kennt.
"Dieser studentische Ennui und mein Hang zu Intellektualität hatten mich zur Anthropologie geführt. Sie schien die einzige akademische Disziplin zu sein, in der man per definitionem eines Tages die akademischen Elfenbeintürme und Bibliotheken verlassen, sich von den Mit-Akademikern verabschieden musste. Ihr Forschungsbereich war vermessen riesig, von Lemurenfüßen bis Schattenspiele schloss er alles ein. Ein Professor sagte, Anthropologie sei die perfekte 'Disziplin des Dilettanten'."
Paul Rabinow
"Wie ethnografisch! Da war ich erst ein paar Tage in Marokko, hatte mich in einem Hotel eingerichtet, einem Relikt aus Kolonialzeiten, trank im Garten Kaffee und hatte nichts anderes zu tun, als mit 'meiner' Feldforschung zu beginnen. Mir war nicht ganz klar, was das eigentlich hieß, außer dass ich annahm, ich würde ein wenig in Sefrou herumschlendern. Schließlich war ja alles Feldstudium, nun, da ich draußen im Feld war."
Paul Rabinow
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2020Auf die Informanten kommt es an
Probestück einer Feldforschung in Philosophie: Paul Rabinow schaute sich in den siebziger Jahren in Marokko über die eigene Schulter
Die Feldforschung ist der mythenumrankte Initiationsritus der Ethnologie. Ohne ihn durchlaufen zu haben, bleiben die höheren Weihen der Wissenschaft zumeist aus. Man ist dann einfach, so will es die Zunft bis heute, kein echter Ethnologe. Wie viele solcher rites de passage ist auch die Feldforschung umgeben von besonderen Imperativen. Man erwartet, dass sich angesichts der Begegnung mit einer fremden Kultur, mit dem Anderen, auch das eigene Denken und Wahrnehmen verändern; man erhofft, dass man selbst ein anderer wird und anders denkt.
Paul Rabinows Essay, der in der Originalfassung bereits 1977 erschienen ist, arbeitet sich ebenso raffiniert wie folgenreich an derlei Vorgaben ab, indem er die "Feldforschungsmystik", so seine polemische Formel, nachhaltig entmystifiziert und am Ende als ethische Erfahrung neu zu bestimmen sucht. Rabinows elegante Studie liest sich wie ein Stück hochreflexive Literatur, die in jeder Beschreibung immer mitdenkt, was sie gerade tut. Das macht sie auch heute noch ungemein lesenswert, selbst wenn viele ihrer Erkenntnisse und Thesen sich längst durchgesetzt haben - und ihr Autor keineswegs mit diesem Buch seine Karriere verspielt hat, wie es ihm sein Doktorvater Clifford Geertz prophezeite.
Eigentlich ist der Essay das Pendant zu Rabinows noch ganz klassischer Studie "Symbolic Domination. Cultural Form and Historical Change in Morocco", die zwei Jahre zuvor als Buch erschienen war und nun mit einer pointierten Methodendiskussion versehen wurde. Seine wissenschaftshistorische Bedeutung zeigt sich schon daran, dass er mittlerweile eingebettet ist in eine Fülle von Paratexten. Rabinow hat der Ausgabe von 2006 ein umfangreiches Vorwort vorangestellt, das die theoretischen Karten aufdeckt und zugleich den Bogen zu seinen späteren Arbeiten schlägt, die ihn auch hierzulande bekannt gemacht haben. Zusammen mit dem Philosophen Hubert Dreyfus verfasste er 1983 mit "Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik" die seinerzeit wohl beste Einführung in das Denken des französischen Theoretikers. Später untersuchte er die Biotechnologie als zentrales Element einer von ihm programmatisch gefassten Anthropologie des Zeitgenössischen.
Davon ist im Essay von 1977 noch recht wenig zu erahnen, auch wenn die beiden weiteren Paratexte bereits aus der Feder von Soziologen stammen. Robert N. Bellah hat für die Erstausgabe ein recht emphatisches Vorwort beigesteuert, Pierre Bourdieu hingegen für die französische Ausgabe einen konzisen Text, in dem er, so Rabinow, schrieb, wie er "das Buch hätte schreiben müssen". Bourdieus Feldtheorie fand jedenfalls hier einen theoretischen Text auf Augenhöhe und seine Vision einer "Feldforschung in Philosophie" ein Probestück.
Rabinow beginnt seine Feldforschung direkt nach dem Pariser Mai 68, und er verbindet ihre Praxis mit dem Nachdenken über ihre Bedingungen und Einsätze. Er ist Feldforscher und zugleich Beobachter seines eigenen Tuns, das macht den Reiz dieses Essays aus, der höchst anschaulich und elegant über die Erfahrungen seines Autors in Marokko berichtet und diese gleichzeitig kommentiert, ohne dabei in wissenschaftlichen Jargon zu verfallen. Die Zusammenfassung am Ende besteht folgerichtig aus einer erläuternden Auflistung seiner Informanten. Ein jeder von ihnen steht für eine bestimmte Perspektive, zusammen machen sie deutlich, dass Kultur notwendig Interpretation ist.
Das Spektrum reicht dabei von einem neokolonialen Franzosen über einen Stadtbewohner, der gleichzeitig Mitglied einer Sufi-Bruderschaft und Zuhälter ist, bis hin zu einem Dorfbewohner, der zwar die religiös-spirituelle Geschichte seines Orts zu seiner Sache gemacht hatte, aber erst mit dem Zusammentragen einschlägiger Dokumente beginnt, als der Feldforscher dazu Fragen stellt. Man beging noch die religiösen Zeremonien und Feiern, hatte aber den spirituellen Bezug zur Tradition bereits verloren.
Rabinow durchläuft alle die oft beschriebenen Stadien der Frustration des Forschers: das mühsame Erlernen der Sprache, die er auch zuletzt nur unzulänglich spricht, den kulturellen "Abgrund", der zwischen ihm und seinen Informanten klafft, und manche Kommunikationskrisen. Er macht sie zum eigentlichen Gegenstand seiner Reflexion. Die "Andersheit des Anderen" ist für ihn die Grundlage einer Befragung der kulturellen Konstruktion des Selbst, die auch seine Informanten miteinschließt. Im Zuge seiner Bestandsaufnahme des ökonomischen Besitzes muss sich etwa sein wichtigster Informant der Tatsache stellen, dass er keineswegs als arm zu gelten hat, obwohl er sich so beschreibt - und es nach der Irritation durch die Datenerhebung auch wieder tun wird, weil seine Kategorien eben andere sind. Das schwankende Selbst und das produktive Netz von Beziehungen, das alle einspinnt, sind kulturelle Elemente, die der Feldforscher am Ende auch als solche seiner eigenen Kultur erkennt. Sie öffneten ihm den Weg zu einer Anthropologie der Zeitgenossenschaft.
BERND STIEGLER
Paul Rabinow:
"Als Ethnologe in Marokko". Überlegungen zu einer
Feldforschung.
Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Piet Meyer Verlag Bern/Wien 2020.
344 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Probestück einer Feldforschung in Philosophie: Paul Rabinow schaute sich in den siebziger Jahren in Marokko über die eigene Schulter
Die Feldforschung ist der mythenumrankte Initiationsritus der Ethnologie. Ohne ihn durchlaufen zu haben, bleiben die höheren Weihen der Wissenschaft zumeist aus. Man ist dann einfach, so will es die Zunft bis heute, kein echter Ethnologe. Wie viele solcher rites de passage ist auch die Feldforschung umgeben von besonderen Imperativen. Man erwartet, dass sich angesichts der Begegnung mit einer fremden Kultur, mit dem Anderen, auch das eigene Denken und Wahrnehmen verändern; man erhofft, dass man selbst ein anderer wird und anders denkt.
Paul Rabinows Essay, der in der Originalfassung bereits 1977 erschienen ist, arbeitet sich ebenso raffiniert wie folgenreich an derlei Vorgaben ab, indem er die "Feldforschungsmystik", so seine polemische Formel, nachhaltig entmystifiziert und am Ende als ethische Erfahrung neu zu bestimmen sucht. Rabinows elegante Studie liest sich wie ein Stück hochreflexive Literatur, die in jeder Beschreibung immer mitdenkt, was sie gerade tut. Das macht sie auch heute noch ungemein lesenswert, selbst wenn viele ihrer Erkenntnisse und Thesen sich längst durchgesetzt haben - und ihr Autor keineswegs mit diesem Buch seine Karriere verspielt hat, wie es ihm sein Doktorvater Clifford Geertz prophezeite.
Eigentlich ist der Essay das Pendant zu Rabinows noch ganz klassischer Studie "Symbolic Domination. Cultural Form and Historical Change in Morocco", die zwei Jahre zuvor als Buch erschienen war und nun mit einer pointierten Methodendiskussion versehen wurde. Seine wissenschaftshistorische Bedeutung zeigt sich schon daran, dass er mittlerweile eingebettet ist in eine Fülle von Paratexten. Rabinow hat der Ausgabe von 2006 ein umfangreiches Vorwort vorangestellt, das die theoretischen Karten aufdeckt und zugleich den Bogen zu seinen späteren Arbeiten schlägt, die ihn auch hierzulande bekannt gemacht haben. Zusammen mit dem Philosophen Hubert Dreyfus verfasste er 1983 mit "Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik" die seinerzeit wohl beste Einführung in das Denken des französischen Theoretikers. Später untersuchte er die Biotechnologie als zentrales Element einer von ihm programmatisch gefassten Anthropologie des Zeitgenössischen.
Davon ist im Essay von 1977 noch recht wenig zu erahnen, auch wenn die beiden weiteren Paratexte bereits aus der Feder von Soziologen stammen. Robert N. Bellah hat für die Erstausgabe ein recht emphatisches Vorwort beigesteuert, Pierre Bourdieu hingegen für die französische Ausgabe einen konzisen Text, in dem er, so Rabinow, schrieb, wie er "das Buch hätte schreiben müssen". Bourdieus Feldtheorie fand jedenfalls hier einen theoretischen Text auf Augenhöhe und seine Vision einer "Feldforschung in Philosophie" ein Probestück.
Rabinow beginnt seine Feldforschung direkt nach dem Pariser Mai 68, und er verbindet ihre Praxis mit dem Nachdenken über ihre Bedingungen und Einsätze. Er ist Feldforscher und zugleich Beobachter seines eigenen Tuns, das macht den Reiz dieses Essays aus, der höchst anschaulich und elegant über die Erfahrungen seines Autors in Marokko berichtet und diese gleichzeitig kommentiert, ohne dabei in wissenschaftlichen Jargon zu verfallen. Die Zusammenfassung am Ende besteht folgerichtig aus einer erläuternden Auflistung seiner Informanten. Ein jeder von ihnen steht für eine bestimmte Perspektive, zusammen machen sie deutlich, dass Kultur notwendig Interpretation ist.
Das Spektrum reicht dabei von einem neokolonialen Franzosen über einen Stadtbewohner, der gleichzeitig Mitglied einer Sufi-Bruderschaft und Zuhälter ist, bis hin zu einem Dorfbewohner, der zwar die religiös-spirituelle Geschichte seines Orts zu seiner Sache gemacht hatte, aber erst mit dem Zusammentragen einschlägiger Dokumente beginnt, als der Feldforscher dazu Fragen stellt. Man beging noch die religiösen Zeremonien und Feiern, hatte aber den spirituellen Bezug zur Tradition bereits verloren.
Rabinow durchläuft alle die oft beschriebenen Stadien der Frustration des Forschers: das mühsame Erlernen der Sprache, die er auch zuletzt nur unzulänglich spricht, den kulturellen "Abgrund", der zwischen ihm und seinen Informanten klafft, und manche Kommunikationskrisen. Er macht sie zum eigentlichen Gegenstand seiner Reflexion. Die "Andersheit des Anderen" ist für ihn die Grundlage einer Befragung der kulturellen Konstruktion des Selbst, die auch seine Informanten miteinschließt. Im Zuge seiner Bestandsaufnahme des ökonomischen Besitzes muss sich etwa sein wichtigster Informant der Tatsache stellen, dass er keineswegs als arm zu gelten hat, obwohl er sich so beschreibt - und es nach der Irritation durch die Datenerhebung auch wieder tun wird, weil seine Kategorien eben andere sind. Das schwankende Selbst und das produktive Netz von Beziehungen, das alle einspinnt, sind kulturelle Elemente, die der Feldforscher am Ende auch als solche seiner eigenen Kultur erkennt. Sie öffneten ihm den Weg zu einer Anthropologie der Zeitgenossenschaft.
BERND STIEGLER
Paul Rabinow:
"Als Ethnologe in Marokko". Überlegungen zu einer
Feldforschung.
Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Piet Meyer Verlag Bern/Wien 2020.
344 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Bernd Stiegler liest Paul Rabinows Essay von 1977 als Türöffner zu einer "Anthropologie der Zeitgenossenschaft". Dass Kultur Interpretation ist, macht ihm der Autor auf elegante, hochreflexive Art sichtbar. Rabinows Feldforschungen ab Mai '68 in Marokko bestechen laut Stiegler durch ihr selbstreflexives Niveau, die den Autor zum Forscher und zugleich zum Beobachter und ohne wissenschaftlichen Jargon auskommenden Kommentator seiner selbst macht. Das Handwerk des Anthropologen mit all seinen Frustrationen, vom Erlernen der fremden Sprache bis zur Erkenntnis, dass zwischen Forscher und Informant ein Abgrund klafft, vermag der Autor Stiegler besser verständlich zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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