Ein wunderbares Buch über die Sprache, die wie der Blutkreislauf unsere Existenz durchzieht. Goldschmidt, der gebildetste und feurigste Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, schreibt auf erstaunliche Weise über das Leben in zwei Sprachen und das Übersetzen. Leidenschaftlich und spannend öffnet er die Bedeutungsräume zwischen den beiden Sprachen, in dem Wissen, dass sich hinter dem Gesagten ungeahnte Kostbarkeiten verbergen.»Ein verblüffendes Buch über die Sprache« Peter von Matt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.1999Dein rechtes Auge ruht in meinem linken
Die deutsche und die französische Sprache, angeschaut von Georges-Arthur Goldschmidt / Von Thomas Steinfeld
Dieses Buch erzählt von einer Verzauberung. Der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Hamburg geboren und als Zehnjähriger vor den Nationalsozialisten geflohen, hat sein Leben in Frankreich verbracht und auf die Erinnerung an seine Kindheit ein literarisches Lebenswerk gegründet - und zwar zunächst weniger als Schriftsteller denn in der Auseinandersetzung mit den beiden Sprachen seines Lebens. "Die beiden Sprachen stehen einander gegenüber", lautet sein Bekenntnis, das in Deutlichkeit und Größe des Anspruchs überrascht: "Wenn ich dich ansehe, blickt dein linkes Auge in mein rechtes. So ist das Französische am anderen Ufer des Meeres." So spricht ein Liebender, mit einer Ausschließlichkeit, die jeden Willen zur Differenzierung zuschanden macht.
Georges-Arthur Goldschmidt ist in den deutschsprachigen Ländern in den achtziger Jahren als Autor einer Reihe von autobiographischen Werken berühmt geworden, in denen er von seinem Leben während des "Dritten Reiches" erzählt: von seiner Kindheit in einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie, von seiner Flucht von Hamburg über München und Florenz bis in die Berge Savoyens. Begonnen aber hat er hat als Deutschlehrer an einem Gymnasium in Paris. In Frankreich machte er sich zuerst als Übersetzer von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Nietzsche, Adalbert Stifter, Franz Kafka, Walter Benjamin einen Namen - und schließlich, in einer seltenen Symbiose mit dem Autor, als die französische Stimme von Peter Handke. Wenn dieser Mann ein Buch über die Wege vom Französischen zum Deutschen und wieder zurück schreibt, dann tut er das mit der ganzen Erfahrung des Lehrers und Übersetzers.
Er tut es auch mit der Begeisterung eines Menschen, der seinen Beruf liebt. Nur wer glüht, ist in der Lage, eine Ode auf die Vorsilben "be", "ver", "zer" und "un" zu verfassen und die schwierigsten Details einer Sprache zu ihren besten Momenten zu erklären. "Einleuchtend wird es gerade da", meint Goldschmidt, "wo sich eine Sprache dem Zugriff der anderen verweigert, wo also die Übersetzung nicht mitkommt, wo der Zwischenraum bestehen bleibt und mehr vielleicht noch als der übertragbare Wortlaut den ,Sinn' enthält, aber nicht vermittelt. Je weniger sich ein Wort oder ein ganzer Satz übersetzen lassen, desto mehr drängen sie zum Übersetztwerden, so, als ob gerade die Sprache am deutlichsten zu hören wäre, wo sie eben schweigen muß." In Frankreich sind Goldschmidts versammelte Bemerkungen zum großen Sprachpaar bereits vor mehr als zehn Jahren erschienen. Sie haben dort eine kleine Karriere als apokryphes Meisterwerk durchlaufen. Jetzt sind sie, als Echo auf die erfolgreichen autobiographischen Werke, auch auf deutsch erschienen, in einer wunderbar poetischen, fast singenden Übersetzung von Brigitte Große.
Wer eine Fremdsprache auch nur halbwegs zu beherrschen lernt, dem geht es wie einem Pianisten, der stets dieselbe Melodie auf einem Klavier mit Tasten ungleicher Breite gespielt hat und nun das Instrument wechseln muß - zu einer fremden Melodie, zu einem anderen Piano, dessen Tasten nicht weniger ungleich sind als das erste, nur daß die ehemals schmalen nun breit und die ehemals breiten jetzt schmal sind.
Die frühe Romantik hat sich von dieser Erfahrung inspirieren lassen. Auf ihr beruht Wilhelm von Humboldts Vorstellung, jede Sprache habe eine innere Form, die nur ihr zu eigen sei. Beflügelt waren diese Theorien von der Hoffnung, durch den Vergleich der Sprachen zu einer geistigen Kraft vorzudringen, die vor aller Sprache liegt. Aus dieser Theologie ohne Gott führt ein Weg in die Völkerpsychologie des späten neunzehnten Jahrhunderts. Man nimmt ihr Echo noch wahr, wenn Goldschmidt im Vorwort für die deutsche Ausgabe seines Buches erklärt, es gebe lediglich "von der Geschichte gestaltete Sprachgebräuche", aber keine "sogenannten Volksseelen".
Er muß diese Einschränkung machen, vor allem für ein deutsches Publikum. Denn Georges-Arthur Goldschmidt kehrt mit seiner Theorie über die Verschiedenheit des Deutschen und des Französischen mit aller Entschiedenheit in das frühe neunzehnte Jahrhundert zurück. Er will die Wahrheit beim Schopfe packen, als habe es die modernen Geisteswissenschaften nie gegeben. Er macht sich zum Narren auf eigene Faust.
Wenn jemand spreche, so seine Überzeugung, dann spreche die Sprache mit. Er erhebt die Nationalsprache zum offenbaren Geheimnis und die deutsche Sprache mehr als alle anderen: "Das Deutsche kommt dem unmittelbaren Verstehen anscheinend viel mehr entgegen als das Französische, welches viel verschleierter und mittelbarer, auf ganz anderen Wegen die Sachen zum Ausdruck bringt." Das Deutsche, erklärt er, sei "fast allzeit bereit und dem Denken oft voraus", ein lebendiger Organismus wie alle Sprachen, ihnen aber an Klarheit und Tiefe weit voraus und dem, der sie benutzt, hoffnungslos überlegen. Natürlich beruht solche Lehre auf einer Mystifikation: Wenn die Sprachen den Geistern ihre jeweils eigene Gestalt verleihen, wenn diese durch die Sprachen geformt werden sollen bis in ihr Innerstes - wer hat dann die Sprachen geschaffen, wer hat sie zu selbständigen, ja leiblichen Gebilden gemacht? Wieder stellt sich der Verdacht ein, hier versuche jemand, eine Theologie ohne Gott zu schreiben.
Georges-Arthur Goldschmidt hat sich indessen für seine Theorie einen Paten gewählt, der viel moderner ist als die offenbaren Geheimnisse der deutschen Romantiker. Er beruft sich auf Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse habe der Einsicht in das Wesen der deutschen Sprache den Weg gebahnt, indem er ihr die Wahrheit einfach ablauschte: "Es ist", heißt es in eine Lobrede auf die Vorsilbe "ver" und ihre Benutzung im Wort "Verdrängung", als entfalte sich hier "der analytische Gehalt der Sprache an der Oberfläche der Wörter, vor aller Augen; und dennoch gab es vor Freud keine Psychoanalyse, sah man vor Freud nicht, wie die Sprache Klartext redete". Von Sigmund Freud hat Goldschmidt gelernt, daß man Sprache nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Symptom behandeln kann. Und so, wie in der Psychoanalyse ein Versprecher etwas über verborgene Wünsche und Bedürfnisse lehren kann, so soll nun jedes Wort, jede Redewendung etwas über die innere Form des Menschen verraten.
Man nehme, schreibt Goldschmidt, nur das Wort "fallen", in dem sich die "außerordentliche Tragweite des Freudschen Denkens für die deutsche Sprache" enthüllen soll. Man denke, empfiehlt er weiter, an die "Fehlleistungen", die für die Psychoanalyse so wichtig seien: "Sie fallen auf; sie fallen ins Auge, man bemerkt sie, auch wenn es nur zufällige Zwischenfälle sind - der Zufall fällt auf; man registriert den Zufall ebenso wie das, was einem da unvermutet vor die Füße fällt - zufällt -, und das, was eigentlich nicht vorfallen sollte, was einem daher auffällt . . . Es ist, als wäre die Aufmerksamkeit Freuds gegen seinen Willen von den ,Zufällen' der Sprache angezogen worden, die über sie mehr sagen als notwendig." Im Deutschen seien die Etymologien weit mehr als im Französischen erkennbar - das Deutsche, der ideale Neurotiker und der ideale Patient.
Man wird dieser Lehre von der Verschiedenheit des Sprachbaus und ihren Folgen für deutsche und französische Seelen einige Bedenken nicht ersparen können. Der "Geist", erläutert Goldschmidt in Anlehnung an Pierre Bertaux, werde auf schwäbisch wie "Geischt" ausgesprochen, und Hölderlin sei nun einmal Schwabe gewesen: "Gischt also", spekuliert Goldschmidt weiter, "das Emporschießende, Schäumende, Sprühende, vor dem man sich mit einem Südwester schützen kann." Das ist schön, geistreich auch, aber immer ein bißchen so, als wolle man behaupten, jeder Engländer müsse ein Egoist sein, weil man "I" stets groß schreibe. Goldschmidt geht das große Risiko ein, eine frei und wild vor sich hin spekulierende Etymologie als ernste Wissenschaft zu behandeln.
"Le mer" und "la mère", das Meer und die Mutter, fügen sich zur Mutter der Sprache zueinander. Demgegenüber wird alles, was nicht hineinpaßt, ausgeschlossen - und das muß sein, sonst käme man nämlich zu bekannt unklugen Schlüssen wie den, "herrlich" sei von "Herr" abzuleiten, während "dämlich" nur von "Dame" kommen könne. Die große Kreativität, die so vielen dilettierenden Etymologen zu eigen ist, wird von der Hoffnung gespeist, mit jedem Schritt zurück näher an den Ursprung zu kommen, an die All- und Ursprache. Dieses Bedürfnis - und der dazugehörige Eifer - ist Goldschmidt nicht fremd.
Als Freud seine Lehre entwarf, war längst das Zeitalter der angewandten Naturwissenschaften angebrochen, und die Psychoanalyse trug das Experiment auf das Gebiet des Geistes. Hinter aller Angst, hinter allem Versagen sollten sich einzelne, bestimmte Erfahrungen verbergen, ein Trauma, etwas Verdrängtes, Verschobenes, aber immer Konkretes. Kam dies an die Oberfläche, sollten der Zauber gebrochen, das Leiden geheilt sein.
Mit dem technischen Selbstverständnis der Psychoanalyse und ihrer klinischen Praxis hat Goldschmidt allerdings nichts im Sinn. "Das Gefühl meiner Existenz ist auf der Höhe meines Gesichts, das man sieht, auch ich sehe es im Spiegel, aber ich sehe nicht mich. Muß ich nicht bloß die Hand auf den Spiegel legen, um mich nicht mehr zu sehen? Muß ich nicht ihn bloß ins Wasser tauchen, und es trübt und wellt sich, und jede Welle wirft dasselbe Licht zurück und denselben Schatten." Goldschmidt verachtet Martin Heidegger, den "Küstersohn aus Meßkirch, der zum Idol neunmalkluger Pariser geworden ist, die in ihrer glücklichen Einfalt nicht wissen, wovon sie reden". Tatsächlich aber hat dieses unaufhörliche Weiterfragen und Spekulieren, dieser unendliche Regreß des Hinterfragens viel mehr von jenem "Hotzenwälder Denker" als vom Schöpfer der Psychoanalyse.
Je bedeutsamer die Sprache wird, desto kleiner wird der Mensch. Am Ende bleibt ihm nicht mehr, als sich ihrer Macht zu unterwerfen. "Es ist, als wäre jede Sprache in ihrem Zusammenhang, in ihrer linguistischen Einheit selbst schon ein Zwang: ein Korridor, durch den sie gehen muß." Wenn das letzte Kapitel dieses Buches den Bereich der Sprachtheorie verläßt und sich in einem "Diskurs über die Juden" einem "Ungeheuer" widmet, "das aus der Verdrängung wiederkehrte, um auf diese Weise sein Unwesen in der Sprache zu treiben", dann hat auch das etwas mit dem theologischen Kern dieser Theorie zu tun: Gerade weil das Deutsche in engelhaftem Glanz erscheint, hat es Luzifer so leicht.
Zu allen Theorien über die Verschiedenheiten des Sprachbaus scheint ein kleiner Widerspruch zu gehören: Ungeachtet aller Differenzen zwischen linguistischen Monaden ist es offenbar möglich, sich über ebendiese Verschiedenheiten zu verständigen. Die Tasten mögen schmal oder breit sein, es findet sich eine Grifftechnik, mit der man über solche Unannehmlichkeiten hinwegkommt. Aber immer wieder sind es ausgerechnet die Übersetzer, also die Leute, die von der Überwindung aller Schwierigkeiten leben, die am überzeugendsten über die höheren Schwierigkeiten der Wanderung aus der einen Eigenwelt in die andere zu reden vermögen. Man kann mit diesem Widerspruch leben: Tatsächlich wurde selten so anschaulich und unterhaltsam über die Magie der Sprache erzählt wie in den ersten zwei Dritteln dieses Buches.
Man darf dieses kleine Buch nicht als letzte Aufklärung über das Wesen der Sprachen lesen. Denn das offenbare Geheimnis der deutschen Sprache, zu dem er in diesem Buch seine Leser führen möchte, unterscheidet sich am Ende nicht von der Führung selbst. Ob die Sprachlandschaft all jene Geheimnisse wirklich enthält, kann dahingestellt bleiben - die Schönheit des Prospekts, den der Reiseführer entwirft, wird durch linguistische Einwände nicht getrübt.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Als Freud das Meer sah". Freud und die deutsche Sprache. Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große. Ammann Verlag, Zürich 1999. 188 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die deutsche und die französische Sprache, angeschaut von Georges-Arthur Goldschmidt / Von Thomas Steinfeld
Dieses Buch erzählt von einer Verzauberung. Der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Hamburg geboren und als Zehnjähriger vor den Nationalsozialisten geflohen, hat sein Leben in Frankreich verbracht und auf die Erinnerung an seine Kindheit ein literarisches Lebenswerk gegründet - und zwar zunächst weniger als Schriftsteller denn in der Auseinandersetzung mit den beiden Sprachen seines Lebens. "Die beiden Sprachen stehen einander gegenüber", lautet sein Bekenntnis, das in Deutlichkeit und Größe des Anspruchs überrascht: "Wenn ich dich ansehe, blickt dein linkes Auge in mein rechtes. So ist das Französische am anderen Ufer des Meeres." So spricht ein Liebender, mit einer Ausschließlichkeit, die jeden Willen zur Differenzierung zuschanden macht.
Georges-Arthur Goldschmidt ist in den deutschsprachigen Ländern in den achtziger Jahren als Autor einer Reihe von autobiographischen Werken berühmt geworden, in denen er von seinem Leben während des "Dritten Reiches" erzählt: von seiner Kindheit in einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie, von seiner Flucht von Hamburg über München und Florenz bis in die Berge Savoyens. Begonnen aber hat er hat als Deutschlehrer an einem Gymnasium in Paris. In Frankreich machte er sich zuerst als Übersetzer von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Nietzsche, Adalbert Stifter, Franz Kafka, Walter Benjamin einen Namen - und schließlich, in einer seltenen Symbiose mit dem Autor, als die französische Stimme von Peter Handke. Wenn dieser Mann ein Buch über die Wege vom Französischen zum Deutschen und wieder zurück schreibt, dann tut er das mit der ganzen Erfahrung des Lehrers und Übersetzers.
Er tut es auch mit der Begeisterung eines Menschen, der seinen Beruf liebt. Nur wer glüht, ist in der Lage, eine Ode auf die Vorsilben "be", "ver", "zer" und "un" zu verfassen und die schwierigsten Details einer Sprache zu ihren besten Momenten zu erklären. "Einleuchtend wird es gerade da", meint Goldschmidt, "wo sich eine Sprache dem Zugriff der anderen verweigert, wo also die Übersetzung nicht mitkommt, wo der Zwischenraum bestehen bleibt und mehr vielleicht noch als der übertragbare Wortlaut den ,Sinn' enthält, aber nicht vermittelt. Je weniger sich ein Wort oder ein ganzer Satz übersetzen lassen, desto mehr drängen sie zum Übersetztwerden, so, als ob gerade die Sprache am deutlichsten zu hören wäre, wo sie eben schweigen muß." In Frankreich sind Goldschmidts versammelte Bemerkungen zum großen Sprachpaar bereits vor mehr als zehn Jahren erschienen. Sie haben dort eine kleine Karriere als apokryphes Meisterwerk durchlaufen. Jetzt sind sie, als Echo auf die erfolgreichen autobiographischen Werke, auch auf deutsch erschienen, in einer wunderbar poetischen, fast singenden Übersetzung von Brigitte Große.
Wer eine Fremdsprache auch nur halbwegs zu beherrschen lernt, dem geht es wie einem Pianisten, der stets dieselbe Melodie auf einem Klavier mit Tasten ungleicher Breite gespielt hat und nun das Instrument wechseln muß - zu einer fremden Melodie, zu einem anderen Piano, dessen Tasten nicht weniger ungleich sind als das erste, nur daß die ehemals schmalen nun breit und die ehemals breiten jetzt schmal sind.
Die frühe Romantik hat sich von dieser Erfahrung inspirieren lassen. Auf ihr beruht Wilhelm von Humboldts Vorstellung, jede Sprache habe eine innere Form, die nur ihr zu eigen sei. Beflügelt waren diese Theorien von der Hoffnung, durch den Vergleich der Sprachen zu einer geistigen Kraft vorzudringen, die vor aller Sprache liegt. Aus dieser Theologie ohne Gott führt ein Weg in die Völkerpsychologie des späten neunzehnten Jahrhunderts. Man nimmt ihr Echo noch wahr, wenn Goldschmidt im Vorwort für die deutsche Ausgabe seines Buches erklärt, es gebe lediglich "von der Geschichte gestaltete Sprachgebräuche", aber keine "sogenannten Volksseelen".
Er muß diese Einschränkung machen, vor allem für ein deutsches Publikum. Denn Georges-Arthur Goldschmidt kehrt mit seiner Theorie über die Verschiedenheit des Deutschen und des Französischen mit aller Entschiedenheit in das frühe neunzehnte Jahrhundert zurück. Er will die Wahrheit beim Schopfe packen, als habe es die modernen Geisteswissenschaften nie gegeben. Er macht sich zum Narren auf eigene Faust.
Wenn jemand spreche, so seine Überzeugung, dann spreche die Sprache mit. Er erhebt die Nationalsprache zum offenbaren Geheimnis und die deutsche Sprache mehr als alle anderen: "Das Deutsche kommt dem unmittelbaren Verstehen anscheinend viel mehr entgegen als das Französische, welches viel verschleierter und mittelbarer, auf ganz anderen Wegen die Sachen zum Ausdruck bringt." Das Deutsche, erklärt er, sei "fast allzeit bereit und dem Denken oft voraus", ein lebendiger Organismus wie alle Sprachen, ihnen aber an Klarheit und Tiefe weit voraus und dem, der sie benutzt, hoffnungslos überlegen. Natürlich beruht solche Lehre auf einer Mystifikation: Wenn die Sprachen den Geistern ihre jeweils eigene Gestalt verleihen, wenn diese durch die Sprachen geformt werden sollen bis in ihr Innerstes - wer hat dann die Sprachen geschaffen, wer hat sie zu selbständigen, ja leiblichen Gebilden gemacht? Wieder stellt sich der Verdacht ein, hier versuche jemand, eine Theologie ohne Gott zu schreiben.
Georges-Arthur Goldschmidt hat sich indessen für seine Theorie einen Paten gewählt, der viel moderner ist als die offenbaren Geheimnisse der deutschen Romantiker. Er beruft sich auf Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse habe der Einsicht in das Wesen der deutschen Sprache den Weg gebahnt, indem er ihr die Wahrheit einfach ablauschte: "Es ist", heißt es in eine Lobrede auf die Vorsilbe "ver" und ihre Benutzung im Wort "Verdrängung", als entfalte sich hier "der analytische Gehalt der Sprache an der Oberfläche der Wörter, vor aller Augen; und dennoch gab es vor Freud keine Psychoanalyse, sah man vor Freud nicht, wie die Sprache Klartext redete". Von Sigmund Freud hat Goldschmidt gelernt, daß man Sprache nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Symptom behandeln kann. Und so, wie in der Psychoanalyse ein Versprecher etwas über verborgene Wünsche und Bedürfnisse lehren kann, so soll nun jedes Wort, jede Redewendung etwas über die innere Form des Menschen verraten.
Man nehme, schreibt Goldschmidt, nur das Wort "fallen", in dem sich die "außerordentliche Tragweite des Freudschen Denkens für die deutsche Sprache" enthüllen soll. Man denke, empfiehlt er weiter, an die "Fehlleistungen", die für die Psychoanalyse so wichtig seien: "Sie fallen auf; sie fallen ins Auge, man bemerkt sie, auch wenn es nur zufällige Zwischenfälle sind - der Zufall fällt auf; man registriert den Zufall ebenso wie das, was einem da unvermutet vor die Füße fällt - zufällt -, und das, was eigentlich nicht vorfallen sollte, was einem daher auffällt . . . Es ist, als wäre die Aufmerksamkeit Freuds gegen seinen Willen von den ,Zufällen' der Sprache angezogen worden, die über sie mehr sagen als notwendig." Im Deutschen seien die Etymologien weit mehr als im Französischen erkennbar - das Deutsche, der ideale Neurotiker und der ideale Patient.
Man wird dieser Lehre von der Verschiedenheit des Sprachbaus und ihren Folgen für deutsche und französische Seelen einige Bedenken nicht ersparen können. Der "Geist", erläutert Goldschmidt in Anlehnung an Pierre Bertaux, werde auf schwäbisch wie "Geischt" ausgesprochen, und Hölderlin sei nun einmal Schwabe gewesen: "Gischt also", spekuliert Goldschmidt weiter, "das Emporschießende, Schäumende, Sprühende, vor dem man sich mit einem Südwester schützen kann." Das ist schön, geistreich auch, aber immer ein bißchen so, als wolle man behaupten, jeder Engländer müsse ein Egoist sein, weil man "I" stets groß schreibe. Goldschmidt geht das große Risiko ein, eine frei und wild vor sich hin spekulierende Etymologie als ernste Wissenschaft zu behandeln.
"Le mer" und "la mère", das Meer und die Mutter, fügen sich zur Mutter der Sprache zueinander. Demgegenüber wird alles, was nicht hineinpaßt, ausgeschlossen - und das muß sein, sonst käme man nämlich zu bekannt unklugen Schlüssen wie den, "herrlich" sei von "Herr" abzuleiten, während "dämlich" nur von "Dame" kommen könne. Die große Kreativität, die so vielen dilettierenden Etymologen zu eigen ist, wird von der Hoffnung gespeist, mit jedem Schritt zurück näher an den Ursprung zu kommen, an die All- und Ursprache. Dieses Bedürfnis - und der dazugehörige Eifer - ist Goldschmidt nicht fremd.
Als Freud seine Lehre entwarf, war längst das Zeitalter der angewandten Naturwissenschaften angebrochen, und die Psychoanalyse trug das Experiment auf das Gebiet des Geistes. Hinter aller Angst, hinter allem Versagen sollten sich einzelne, bestimmte Erfahrungen verbergen, ein Trauma, etwas Verdrängtes, Verschobenes, aber immer Konkretes. Kam dies an die Oberfläche, sollten der Zauber gebrochen, das Leiden geheilt sein.
Mit dem technischen Selbstverständnis der Psychoanalyse und ihrer klinischen Praxis hat Goldschmidt allerdings nichts im Sinn. "Das Gefühl meiner Existenz ist auf der Höhe meines Gesichts, das man sieht, auch ich sehe es im Spiegel, aber ich sehe nicht mich. Muß ich nicht bloß die Hand auf den Spiegel legen, um mich nicht mehr zu sehen? Muß ich nicht ihn bloß ins Wasser tauchen, und es trübt und wellt sich, und jede Welle wirft dasselbe Licht zurück und denselben Schatten." Goldschmidt verachtet Martin Heidegger, den "Küstersohn aus Meßkirch, der zum Idol neunmalkluger Pariser geworden ist, die in ihrer glücklichen Einfalt nicht wissen, wovon sie reden". Tatsächlich aber hat dieses unaufhörliche Weiterfragen und Spekulieren, dieser unendliche Regreß des Hinterfragens viel mehr von jenem "Hotzenwälder Denker" als vom Schöpfer der Psychoanalyse.
Je bedeutsamer die Sprache wird, desto kleiner wird der Mensch. Am Ende bleibt ihm nicht mehr, als sich ihrer Macht zu unterwerfen. "Es ist, als wäre jede Sprache in ihrem Zusammenhang, in ihrer linguistischen Einheit selbst schon ein Zwang: ein Korridor, durch den sie gehen muß." Wenn das letzte Kapitel dieses Buches den Bereich der Sprachtheorie verläßt und sich in einem "Diskurs über die Juden" einem "Ungeheuer" widmet, "das aus der Verdrängung wiederkehrte, um auf diese Weise sein Unwesen in der Sprache zu treiben", dann hat auch das etwas mit dem theologischen Kern dieser Theorie zu tun: Gerade weil das Deutsche in engelhaftem Glanz erscheint, hat es Luzifer so leicht.
Zu allen Theorien über die Verschiedenheiten des Sprachbaus scheint ein kleiner Widerspruch zu gehören: Ungeachtet aller Differenzen zwischen linguistischen Monaden ist es offenbar möglich, sich über ebendiese Verschiedenheiten zu verständigen. Die Tasten mögen schmal oder breit sein, es findet sich eine Grifftechnik, mit der man über solche Unannehmlichkeiten hinwegkommt. Aber immer wieder sind es ausgerechnet die Übersetzer, also die Leute, die von der Überwindung aller Schwierigkeiten leben, die am überzeugendsten über die höheren Schwierigkeiten der Wanderung aus der einen Eigenwelt in die andere zu reden vermögen. Man kann mit diesem Widerspruch leben: Tatsächlich wurde selten so anschaulich und unterhaltsam über die Magie der Sprache erzählt wie in den ersten zwei Dritteln dieses Buches.
Man darf dieses kleine Buch nicht als letzte Aufklärung über das Wesen der Sprachen lesen. Denn das offenbare Geheimnis der deutschen Sprache, zu dem er in diesem Buch seine Leser führen möchte, unterscheidet sich am Ende nicht von der Führung selbst. Ob die Sprachlandschaft all jene Geheimnisse wirklich enthält, kann dahingestellt bleiben - die Schönheit des Prospekts, den der Reiseführer entwirft, wird durch linguistische Einwände nicht getrübt.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Als Freud das Meer sah". Freud und die deutsche Sprache. Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große. Ammann Verlag, Zürich 1999. 188 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tatsächlich wurde selten so anschaulich und unterhaltsam über die Magie der Sprache erzählt. Frankfurter Allgemeine Zeitung