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Stockholm 1993: Eine junge Lehrerin aus Bosnien, Asylantin in Schweden, hat gerade ein Kind zur Welt gebracht. Das Neugeborene hat keinen Namen und statt eines Vaters sehr viele: die gesichtslose Masse der Soldaten, die die junge Frau in einem serbischen Konzentrationslager immer und immer wieder vergewaltigt haben. Die Autorin setzt dort an, wo jede Kriegsberichterstattung kapitulieren muss, beim stummen Leid der Opfer.

Produktbeschreibung
Stockholm 1993: Eine junge Lehrerin aus Bosnien, Asylantin in Schweden, hat gerade ein Kind zur Welt gebracht. Das Neugeborene hat keinen Namen und statt eines Vaters sehr viele: die gesichtslose Masse der Soldaten, die die junge Frau in einem serbischen Konzentrationslager immer und immer wieder vergewaltigt haben. Die Autorin setzt dort an, wo jede Kriegsberichterstattung kapitulieren muss, beim stummen Leid der Opfer.
Autorenporträt
Slavenka Drakulic, geboren 1949 in Kroatien, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihres Landes. Ihre Bücher erscheinen in vielen Sprachen. Sie lebt in Kroatien, Stockholm und Wien. 2005 erhielt sie den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Mit Widerhaken in der aufgerauten Seele
Slavenka Drakulic versucht dem Grauen auf dem Balkan eine Geschichte zu geben / Von Kristina Maidt-Zinke

Wo die Nachrichten aufhörten, ließ Slavenka Drakulic ihr essayistisch-dokumentarisches Werk über das "Sterben in Kroatien" beginnen, das vor sieben Jahren erschien. Auch ihr neues Buch setzt dort ein, wo die Schreckensmeldungen aus jenem Krieg sich in der Grauzone vager Vermutungen verlieren. Aber die kroatische Schriftstellerin und Journalistin ist diesmal ein höheres Risiko eingegangen, weil sie mit den Mitteln der Fiktion ergänzt hat, was die befragten Opfer nicht zur Sprache bringen konnten. Als sie seinerzeit von den planvollen Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen durch serbische Militärs erfuhr, reagierte die Autorin zunächst mit ungläubigem Entsetzen; als sie versuchte, auch diese Seite des Krieges zu dokumentieren, stieß sie bei den Betroffenen an eine Grenze des Mitteilungsvermögens, die sie nur mit dem Instrumentarium der Literatur überwinden konnte. In dem Roman "Als gäbe es mich nicht" sind nüchterne Reportage, psychologische Einfühlung und sprachliche Sensibilität auf eine Weise gekoppelt, die Verstörung erzeugt, die aber auch ermutigt, weil sie vor Augen führt, dass durch die Kraft des Wortes neu zusammengefügt werden kann, was gewaltsam zerbrochen schien.

Im Sommer 1992 wird die junge Lehrerin S. aus einem Dorf in Bosnien abgeholt, wo sie eine Vertretungsstelle angenommen hat, und in ein serbisches Frauenkonzentrationslager gebracht. Sie stammt aus Sarajevo, ihre Mutter ist Serbin, ihr Vater Muslim, so dass sie in den Augen der Aggressoren der "falschen" Volksgruppe angehört. S. hat erfahren, dass ihre Eltern und ihre Schwester mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden sind, aber sie belügt sich selbst, verschließt sich vor der Wirklichkeit, bis der Krieg leibhaftig über ihre Schwelle tritt, in Gestalt eines jungen Soldaten in Turnschuhen, dem sie Kaffee anbietet und der ihr Zeit lässt, das Notwendigste zusammenzupacken. Die letzten Ausläufer der Zivilisation reichen bis in die Hölle, fließend wie im Albtraum ist der Übergang von der trügerischen Normalität zum Ausnahmezustand.

Was S. bei ihrem mehrmonatigen Aufenthalt im Lager erlebt, vor und nach ihrer Selektion für den "Frauenraum", dessen Insassinnen den sexuellen Bedürfnissen und Brutalitäten einer anonymen Gruppe von Kriegsverbrechern ausgeliefert sind, schildert Slavenka Drakulic mit einer Diskretion und Distanz, die durch ihre Kühle um so schonungsloser wirkt und mit Widerhaken im Gedächtnis haftet. Jeder Versuch, etwas davon wiederzugeben, müsste grob erscheinen im Vergleich zu dem, was in diesem Buch gelungen ist. Der Begriff des Gelingens setzt ein Vorhaben, ein Ziel voraus, und die Autorin lässt keinen Zweifel daran, worum es ihr bei der zurückhaltenden und präzisen Darstellung von Tätern und Opfern, Gewalt und Erleiden geht: Nicht Hass soll am Ende stehen, sondern die Bereitschaft, den Krieg und seine Konsequenzen auf der Ebene der Reflexion zu besiegen.

Eine Figur wie die gebildete, privilegiert lebende und differenziert denkende S. kann für die angeblich rund sechzigtausend bosnischen Frauen, die im Balkan-Krieg vergewaltigt wurden, kaum repräsentativ sein, aber es sind ihre Wahrnehmungen und Gedanken, die Slavenka Drakulic benötigt, um den vielen eine Stimme zu geben. Bei allen Erniedrigungen vermag S. zu sehen, dass die Passivität und Verdrängung der Opfer am Krieg ebenso Anteil hat wie die Bestialität der Angreifer, die sich auf ihre Art unterwürfig verhalten: "Für S. war klar, auch jene sind Gefangene, ohne Individualität, ohne Gesicht. Ihre Körper, ihr Wille gehören ebenfalls nicht ihnen, sondern der Armee, dem Anführer, der Nation." S. erkennt den Rest von Menschlichkeit im Gesicht eines schlafenden Soldaten, sie beobachtet sich bei dem verzweifelten Versuch, mit Koketterie und Schminke die Feinde in Verführte, in "normale" Männer ohne Mordlust zu verwandeln, und als der Lagerkommandant sie zu seiner Gespielin macht, wird sie sich bewusst, dass ihr Überlebensdrang stärker ist als die Solidarität mit ihren Leidensgenossinnen und der Ekel vor den Untaten, die ihr Gönner zu verantworten hat: "Auf der Couch aneinandergekuschelt, schauen sie sich gemeinsam in der Stille einen alten Hollywoodfilm an. Das Dunkel um sie schluckt die Lagerwirklichkeit." Später, in einem Flüchtlingslager bei Zagreb, muss S. mit ansehen, wie eine Frau ein Neugeborenes umbringt, das seine Existenz einer Vergewaltigung verdankt: "Der Krieg, der Krieg hat sie dazu gezwungen. Doch diese gleiche Ausrede haben auch jene, die den Krieg begonnen und die Frau dazu gebracht haben, das Kind zu töten. Wenn alle die gleiche Ausrede haben, sie wären gezwungen zu töten, weil Krieg ist . . . Hat der Mensch im Krieg tatsächlich keine Wahl?"

Slavenka Drakulic scheut sich nicht, das Dilemma auf die Spitze zu treiben, indem sie S. unter jene einreiht, die im Internierungslager schwanger wurden. Sie erinnert an die Berichte, nach denen die Vergewaltigungen von Musliminnen auch einem perversen Plan "ethnischer Säuberung" dienen sollten. S. bringt im schwedischen Exil einen Jungen zur Welt, ein im Voraus verabscheutes Geschöpf, das nur deshalb geboren werden darf, weil es für eine Abtreibung zu spät ist, als die Schwangerschaft entdeckt wird. Dass am Ende die Mutter ihren Sohn annimmt, weil sie ihm zeigen will, "dass der Haß, in dem er gezeugt wurde, in Liebe verwandelt werden kann", könnte allzu idyllisch, pathetisch anmuten, hätte die Autorin nicht diesen Gefühlsumschwung aus dem Leidensweg ihrer Hauptfigur logisch entwickelt. An die Stelle der Verstummten, die ihr Schicksal ohnmächtig trägt, tritt die Sprechende, die sich für ihren persönlichen "Sieg über die Schrecken des Krieges" entscheidet. Die Rechnung der Peiniger, die ihre überlebenden Opfer seelisch vernichten wollten, ist nicht aufgegangen. Das Buch, das vom Inferno erzählt, lässt sich als ein Plädoyer für Hoffnung und Versöhnung lesen.

Slavenka Drakulic: "Als gäbe es mich nicht". Roman. Aus dem Kroatischen übersetzt von Astrid Philipsen. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 207 S., geb., 29,80 DM.

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