Im Sommer 1993, als Molly dreizehn wird, überfällt ihr Vater elf Banken. Er wird geschnappt und sitzt jahrelang in Amerika im Gefängnis. Nach seiner Entlassung verhält er sich eine Weile ruhig, dann zieht er wieder los. Dazwischen ist Joseph Brodak für seine Familie da, mit einem Job bei GM, einem Haus mit Garten, einer Ferienreise nach Peru. Als Kind ahnte Molly eine unbekannte Seite; heimlich hatte er schon einmal eine Familie gehabt. Er bleibt tagelang verschwunden, als Geschenk für die Schwester steht plötzlich ein Sportwagen vor der Tür, und er ist ein notorischer Lügner. Als er verhaftet wird, ist niemand wirklich überrascht. Molly Brodak rekonstruiert ihre Geschichte mit rückhaltloser Offenheit; aus der kühlen Präzision entsteht eine mitreißende Wirkung.
buecher-magazin.deSo viel Offenheit, wie sie die 1980 geborene US-Amerikanerin Molly Brodak an den Tag legt, kann einem entweder Abscheu oder Respekt entlocken. Schonungslos rekonstruiert sie die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend und zeichnet ein intimes Porträt ihres Vaters, den sie mit zunehmendem Alter immer mehr als notorischen Lügner, Betrüger und Opportunisten kennenlernt. Wie der Titel bereits verrät, überfiel dieser zum ersten Mal eine Bank, als Molly 13 war. Die junge Autorin erzählt keine fiktive Geschichte, die Berichte um Joseph Brodak - wegen seines Schnauzers auch "Mario Brothers Bandit" genannt - waren in den 1990er-Jahren in sämtlichen US-Medien. So gibt sie einem viel diskutierten Fall ihre eigene Note. Erst aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, dann einer jungen Frau. Nicht der Vater, sondern sie als Tochter ist wirklich interessant an der Lektüre, ihre Gefühle, ihre Wut, ihr Kampf heraus in ein eigenes Leben, frei von ihrem alles bestimmenden Vater. Es ist das Schreiben, das ihr hilft, kein Opfer der Umstände zu sein. Und Brodak, die bereits einen preisgekrönten Gedichtband veröffentlicht hat, schreibt verdammt gut, präzise und klar und oft wunderbar poetisch. Respekt!
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.05.2017Bruch, Lügen,
Kaschmir
Molly Brodak erzählt vom Leben
als Tochter eines Bankräubers
Man könnte meinen, einen Polizeibericht zu lesen. Eine akkurate Bilanz mit insgesamt elf Posten. Nur einige wenige Punkte werden kurz kommentiert. Der erste Punkt in der Aufstellung lautet: „Er überfiel die Community Choice Credit Union in der 13 Mile Road in Warren.“ Der elfte Punkt heißt: „Er überfiel die Citizen’s State Bank in der Hayes Road in Shelby Township.“ Elf Banküberfälle, alle nach dem gleichen Muster. Mit einem Zettel informiert der Bankräuber den Schalterbeamten, dass er bewaffnet ist, er kassiert das Geld und verschwindet.
Die Autorin Molly Brodak, geboren 1980, erzählt von den Banküberfällen mit einer Nüchternheit, die gerade deshalb zu Herzen geht, weil der verkleidete Täter ihr Vater ist. Was treibt diesen Mann, einen Aufschneider, Lügner und notorischen Spieler? Wie weit ist seine kriminelle Karriere entschuldbar? Wie viel Unrechtsbewusstsein steckt in ihm, den seine Frau einen Soziopathen nennt?
Diese Fragen stellt die Amerikanerin in ihrem schonungslosen Debüt. Es handelt sich nicht um einen Roman, sondern um ein Memoir, ein Stück persönlicher Lebensgeschichte. Brodak forscht ihrem Vater hinterher und damit auch sich selbst. Der Titel, „Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank“, umreißt die Eckdaten.
Wenn eine Tochter feststellt, dass ihr Vater sie anlügt, ist es, als ob ein Glas einen Sprung bekommt. Molly verliert das Vertrauen in ihren Vater, als sie elf ist. Während er davon schwadroniert, wie aufregend es in einem Aufnahmestudio zugeht, stellt sie fest, dass sich seine Augenpartie auf seltsame Weise verändert. Ihr wird klar, dass er lügt, jede Menge Details erfindet. Später ist eine Art Trübung seiner Augen für Molly das untrügliche Zeichen, dass sie belogen wird.
Im Vergleich zu der Tragweite von elf Banküberfällen erscheint diese Szene harmlos. Und doch ist sie zentral, weil die Autorin eindringlich schildert, wie Urvertrauen von einem Moment zum anderen zerbrechen kann. Molly, ein stilles Kind, das immer wieder versucht, nicht aufzufallen, sich unsichtbar zu machen, muss mit diesem Vater leben, für den die Grenzüberschreitung zur zweiten Natur geworden ist; der einerseits den engagierten Familienvater gibt und andererseits wegen seiner Spielsucht Schulden anhäuft. Obwohl seine psychisch labile Frau ihn schließlich durchschaut, kann sie sich lange Zeit nicht von ihm lösen.
Als Joe Brodak die elf Banken ausraubt, ist sein Privatleben bereits zerbrochen. Seine Frau und er sind geschieden, Molly lebt bei ihrer Mutter, ihre Schwester bei ihm, dem Vater. Er wird gefasst und muss für sieben Jahre ins Gefängnis, lebt danach sieben Jahre in Freiheit, bis er 2009 seine Bankräuberkarriere wieder aufnimmt und erneut im Gefängnis landet. Widerstrebend besucht ihn die Tochter dort.
Was lässt sich zu seiner Verteidigung sagen? Dass er 1945 in einem Lager für Displaced Persons in Kempten geboren wurde und seine Mutter, Zwangsarbeiterin für die Nazis, ihn heimlich austragen musste? Dass er Mitte der Siebziger in Vietnam war und, wie er behauptet, daraufhin eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte? Dass er unter Spielsucht und Stimmungsschwankungen litt? Molly geht davon aus, dass sich Joe Brodak eine Leidensbiografie zurechtgezimmert hat, an die er schließlich selbst glaubt.
Die Autorin studiert Briefe, betrachtet Fotos, versucht, ein Leben zu rekonstruieren, in dem ein Wesentliches – Sinn – zu fehlen scheint. Ein stimmiges Bild ihres Vaters ergibt sich nicht. Auch die Sprache scheint ihr „in Stücke zu zerfallen, wenn sie bestimmte Themen berührt“. Dass Molly Brodak nicht harmonisiert und glättet, ist ein großer Vorzug dieses nicht chronologisch erzählten Buches. Auch der Gestus des Selbstmitleids liegt ihr fern.
Am stärksten ist die Autorin, wenn sie erzählt und lakonisch kommentiert. Wenn sie hingegen über die menschliche Natur sinniert, landet sie nicht selten bei Gemeinplätzen: „In Familien lebt jeder allein. Jeder stürzt sich allein ins Handeln, in die Liebe, in die Arbeit. Manchmal ist das der Grund, weshalb wir arbeiten. Auch Krankheit erlebt jeder allein.“ Immer wieder erzählt Brodak von der großen Einsamkeit, die sie seit ihrer Kindheit begleitet. Dass dann plötzlich Freunde und sogar ein Partner wie Kai aus der Kiste auftauchen, gehört zu den gelegentlichen Ungereimtheiten dieser romanhaften Autobiografie.
Es gibt eine Reihe von Vater-Töchter-Büchern, etwa Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“, Philip Roths „Amerikanisches Idyll“ oder zuletzt Lily Kings „Vater des Regens“. Molly Brodaks Buch besticht, trotz einiger Mängel, durch seine kraftvolle, unmittelbare Sprache. Mit der gleichen Unverblümtheit, mit der sie ihre Familie schildert, berichtet sie auch über sich. Wir erfahren, dass Molly Brodak eine Zeit lang jede Menge Klamotten gestohlen hat. Immerhin war sie weniger maßlos als ihr Vater. Sie hatte nicht Banktresore, sondern vor allem teure Kaschmirpullover im Visier.
FRANZISKA WOLFFHEIM
Molly Brodak: Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Nagel & Kimche Verlag, München 2016, 288 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Selbstmitleid liegt dieser
Autorin fern, sie harmonisiert
und glättet nicht
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Kaschmir
Molly Brodak erzählt vom Leben
als Tochter eines Bankräubers
Man könnte meinen, einen Polizeibericht zu lesen. Eine akkurate Bilanz mit insgesamt elf Posten. Nur einige wenige Punkte werden kurz kommentiert. Der erste Punkt in der Aufstellung lautet: „Er überfiel die Community Choice Credit Union in der 13 Mile Road in Warren.“ Der elfte Punkt heißt: „Er überfiel die Citizen’s State Bank in der Hayes Road in Shelby Township.“ Elf Banküberfälle, alle nach dem gleichen Muster. Mit einem Zettel informiert der Bankräuber den Schalterbeamten, dass er bewaffnet ist, er kassiert das Geld und verschwindet.
Die Autorin Molly Brodak, geboren 1980, erzählt von den Banküberfällen mit einer Nüchternheit, die gerade deshalb zu Herzen geht, weil der verkleidete Täter ihr Vater ist. Was treibt diesen Mann, einen Aufschneider, Lügner und notorischen Spieler? Wie weit ist seine kriminelle Karriere entschuldbar? Wie viel Unrechtsbewusstsein steckt in ihm, den seine Frau einen Soziopathen nennt?
Diese Fragen stellt die Amerikanerin in ihrem schonungslosen Debüt. Es handelt sich nicht um einen Roman, sondern um ein Memoir, ein Stück persönlicher Lebensgeschichte. Brodak forscht ihrem Vater hinterher und damit auch sich selbst. Der Titel, „Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank“, umreißt die Eckdaten.
Wenn eine Tochter feststellt, dass ihr Vater sie anlügt, ist es, als ob ein Glas einen Sprung bekommt. Molly verliert das Vertrauen in ihren Vater, als sie elf ist. Während er davon schwadroniert, wie aufregend es in einem Aufnahmestudio zugeht, stellt sie fest, dass sich seine Augenpartie auf seltsame Weise verändert. Ihr wird klar, dass er lügt, jede Menge Details erfindet. Später ist eine Art Trübung seiner Augen für Molly das untrügliche Zeichen, dass sie belogen wird.
Im Vergleich zu der Tragweite von elf Banküberfällen erscheint diese Szene harmlos. Und doch ist sie zentral, weil die Autorin eindringlich schildert, wie Urvertrauen von einem Moment zum anderen zerbrechen kann. Molly, ein stilles Kind, das immer wieder versucht, nicht aufzufallen, sich unsichtbar zu machen, muss mit diesem Vater leben, für den die Grenzüberschreitung zur zweiten Natur geworden ist; der einerseits den engagierten Familienvater gibt und andererseits wegen seiner Spielsucht Schulden anhäuft. Obwohl seine psychisch labile Frau ihn schließlich durchschaut, kann sie sich lange Zeit nicht von ihm lösen.
Als Joe Brodak die elf Banken ausraubt, ist sein Privatleben bereits zerbrochen. Seine Frau und er sind geschieden, Molly lebt bei ihrer Mutter, ihre Schwester bei ihm, dem Vater. Er wird gefasst und muss für sieben Jahre ins Gefängnis, lebt danach sieben Jahre in Freiheit, bis er 2009 seine Bankräuberkarriere wieder aufnimmt und erneut im Gefängnis landet. Widerstrebend besucht ihn die Tochter dort.
Was lässt sich zu seiner Verteidigung sagen? Dass er 1945 in einem Lager für Displaced Persons in Kempten geboren wurde und seine Mutter, Zwangsarbeiterin für die Nazis, ihn heimlich austragen musste? Dass er Mitte der Siebziger in Vietnam war und, wie er behauptet, daraufhin eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte? Dass er unter Spielsucht und Stimmungsschwankungen litt? Molly geht davon aus, dass sich Joe Brodak eine Leidensbiografie zurechtgezimmert hat, an die er schließlich selbst glaubt.
Die Autorin studiert Briefe, betrachtet Fotos, versucht, ein Leben zu rekonstruieren, in dem ein Wesentliches – Sinn – zu fehlen scheint. Ein stimmiges Bild ihres Vaters ergibt sich nicht. Auch die Sprache scheint ihr „in Stücke zu zerfallen, wenn sie bestimmte Themen berührt“. Dass Molly Brodak nicht harmonisiert und glättet, ist ein großer Vorzug dieses nicht chronologisch erzählten Buches. Auch der Gestus des Selbstmitleids liegt ihr fern.
Am stärksten ist die Autorin, wenn sie erzählt und lakonisch kommentiert. Wenn sie hingegen über die menschliche Natur sinniert, landet sie nicht selten bei Gemeinplätzen: „In Familien lebt jeder allein. Jeder stürzt sich allein ins Handeln, in die Liebe, in die Arbeit. Manchmal ist das der Grund, weshalb wir arbeiten. Auch Krankheit erlebt jeder allein.“ Immer wieder erzählt Brodak von der großen Einsamkeit, die sie seit ihrer Kindheit begleitet. Dass dann plötzlich Freunde und sogar ein Partner wie Kai aus der Kiste auftauchen, gehört zu den gelegentlichen Ungereimtheiten dieser romanhaften Autobiografie.
Es gibt eine Reihe von Vater-Töchter-Büchern, etwa Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“, Philip Roths „Amerikanisches Idyll“ oder zuletzt Lily Kings „Vater des Regens“. Molly Brodaks Buch besticht, trotz einiger Mängel, durch seine kraftvolle, unmittelbare Sprache. Mit der gleichen Unverblümtheit, mit der sie ihre Familie schildert, berichtet sie auch über sich. Wir erfahren, dass Molly Brodak eine Zeit lang jede Menge Klamotten gestohlen hat. Immerhin war sie weniger maßlos als ihr Vater. Sie hatte nicht Banktresore, sondern vor allem teure Kaschmirpullover im Visier.
FRANZISKA WOLFFHEIM
Molly Brodak: Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Nagel & Kimche Verlag, München 2016, 288 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Selbstmitleid liegt dieser
Autorin fern, sie harmonisiert
und glättet nicht
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"Molly Brodak erzählt von den Banküberfällen mit einer Nüchternheit, die gerade deshalb zu Herzen geht, weil der verkleidete Täter ihr Vater ist. ... Ein schonungsloses Debüt." Franziska Wolffheim, Süddeutsche Zeitung, 08.05.17 "Ein spannendes Buch!" Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur "Gemischtes Doppel", 04.10.16 "Ein großartiges Memoir. Die Offenheit und Klarheit, mit der Brodak auch sprachlich Familiengeheimnisse lüftet, entwickelt eine Sogwirkung - es fällt schwer, dieses Buch aus der Hand zu legen." BRIGITTE Bücher-Extra, Oktober 2016 "Amerika und der Größenwahn - dieses Buch hilft, zu verstehen." Britta Heidemann, WAZ Kultur, 10.12.16 "Das fabelhafte Buch einer - so scheint es - bedingungslos offenen Autorin. Melancholisch, stark, eine absolut mitreißende Lektüre." Juliane Bergmann, NDR Kultur, 29.08.16 "Das Vakuum zwischen den Fakten vermag Molly Brodak nicht zu füllen, wohl aber mit kraftvoll-poetischer Sprache in Worte zu fassen." Beate Zigs, Deutschlandradio Kultur, 21.08.16 "Eine kluge, melancholische Annäherung." Timon Mikocki, ORF Ö1, 18.09.16 "Brodak schreibt verdammt gut, präzise und klar und oft wunderbar poetisch. Respekt!" Bücher Magazin, Februar/März 2017