Berlin, 1985. Beim Landeanflug auf die geteilte Stadt fällt der Flüchtlingsjunge Ismael aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs und überlebt. Auf den Zeitungsballen einer Altpapierhalde im Westen findet ihn Paul Mahlow, Judokämpfer, Frauenheld, Langzeitstudent und Wachmann. Während er den Jungen in ein Krankenhaus fährt, wird Mahlows bester Freund Alp Tazafhadi bei einer Demonstration bewusstlos geschlagen - und wacht nicht wieder auf. Die bis dahin überschaubare Welt der beiden gerät aus den Fugen. Aus dem Koma heraus, gleichsam über allem schwebend und nicht nur allgegenwärtig, sondern auch alles erinnernd, erzählt Alp die Geschichte ihrer Freundschaft, die Geschichte Ismaels und die manchmal tieftraurige, dann wieder haarsträubend komische Geschichte seiner Familie, in der ein geheimnisvoller Großvater eine teuflische Rolle spielt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie ein "um Jahrzehnte verspäteter Thesenroman" zum Thema Metafiktion wirkte dieser zweite Roman von Norbert Zähringer auf Rezensent Richard Kämmerlings. Zwar lobt er den Autor als"begabten Geschichtenerzähler". Als solcher kann er den Rezensenten allerdings nur in einigen wenigen Episoden seines Romans überzeugen. Dabei ist Känmmerlings der komplizierten Figurenkonstellation anfangs noch mit Spannung und Vergnügen gefolgt. Irgendwann drängte sich ihm aber der Eindruck auf, dass die Geschichte um die Verwandtschaft eines deutschen "Langzeitstudenten" und seines iranischen Mitbewohners viel zu beliebig ist, weshalb ihn auch die mitunter durchaus bedrückenden Schicksale einiger Figuren letztlich kalt gelassen haben, bis sich ihm gar die Frage aufdrängt: "Wozu der Aufwand?"
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2006Das Leben, ein Koma
Irre Welt: Norbert Zähringer läßt den Zufall regieren
Wie wahrscheinlich ist es, daß ein Schimpanse beim Herumklappern auf einer Computertastatur eine Zeichenkombination auf den Bildschirm zaubert, die der Zahl Pi bis auf die sechzehnte Stelle nach dem Komma entspricht? Auch wenn es sich bei dem Affen um einen ausrangierten Testpiloten der amerikanischen Luftwaffe handelt? Auch, wenn der Held außer Dienst danach Jahrzehnte in einer streng geheimen Forschungseinrichtung in der Wüste von New Mexico verbrachte und sich dabei das ein oder andere von seinem Besitzer, einem vom KZ- zum US-Army-Arzt gewendeten Menschenschinder, abgeschaut hat?
Ungefähr genauso wahrscheinlich wie die affenscharfe Kopfrechenkunst ist das gesamte Erzählgerüst des zweiten Romans von Norbert Zähringer, der aus einer West-Berliner Wohngemeinschaft der achtziger Jahre Handlungsfäden über vier Kontinente und ein halbes Jahrhundert spinnt: Dem als Wachmann jobbenden Langzeitstudenten und Womanizer Paul Mahlow fällt eines Tages im Frühjahr 1985 beim Routinegang durch eine Altpapierfirma ein Junge buchstäblich vor die Füße - der aus einem afrikanischen Bürgerkrieg im Radkasten einer amerikanischen Regierungsmaschine geflohene Kindersoldat hat den Flug in eisiger, luftarmer Höhe wundersamerweise ebenso überlebt wie den Sturz. Seine schwachen Lebenszeichen setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die nicht minder mirakulös ist wie die Lazarus-Geschichte an ihrem Anfang: In der Notaufnahme trifft der Retter Mahlow nämlich auf seinen iranischstämmigen Mitbewohner und Freund Alp Tazafhadi, der zur gleichen Zeit als Unbeteiligter bei einer Demo zwischen die Fronten geriet und mit einer schweren Kopfverletzung ins Wachkoma gefallen ist. Eine Demonstration übrigens, die gegen den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten gerichtet war, der mit ebenjener Maschine gerade aus einem afrikanischen Chaos-Staat anreiste, in der, nun ja, man kann es sich denken . . .
Nicht unbedingt denken kann man sich dagegen, daß dieser nun komatöse Tazafhadi der leibliche, bei dessen abenteuerlicher Flucht aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Rand der Karakum nebenbei gezeugte Enkel des skrupellosen Naziarztes ist, der nun nach Berlin reist, um den afrikanischen Jungen zu finsteren Menschenversuchszwecken in sein amerikanisches Mengele-Labor zu locken. Und hier stößt man auf das Problem dieses Romans, dessen verwickelte, verschachtelte und dramaturgisch geschickt geschnittene Figurenkonstellation man anfangs mit Spannung und Vergnügen auseinanderklamüsert: Die verwandtschaftliche Verbindung zwischen dem diabolisch-genialen Herrenmännchen und dem Bummelstudenten ist nämlich für die übrige Handlung völlig schnuppe. Was im einzelnen reiner Selbstzweck ist, fügt sich auf höherer Ebene zu der These, daß in der Welt jedes Detail alle anderen beeinflussen kann - also zu dem berühmten Schmetterling der Chaostheorie, dessen Flügelschlag den Lauf der Weltgeschichte ändert.
Da es sich allerdings nur um die künstliche Welt eines Romans handelt, ist das keine Erkenntnis, denn Ziel ist ja gerade die Konstruktion eines in sich geschlossenen Kosmos, in dem alles mit allem zusammenhängt. In der Berliner WG hängt das Schild: "Die Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale." Daß so viele Zufälle haarsträubend unwahrscheinlich sind, ist da kein Einwand: Wahrscheinlichkeit ist nicht das Prinzip des Romans, sondern sein Gegenstand. Zähringer bezieht sich auf kosmologische und quantenphysikalische Theorien, denen zufolge es unendlich viele Paralleluniversen gibt. So unwahrscheinlich es ist - in einem davon würde auch dem Affen die Zahl Pi gelingen.
Schon an anderen bei diesem Thema einschlägigen Werken, wie den Romanen Paul Austers oder den Filmen Krysztof Kiesloswkis stieß auf, daß die darin so tiefsinnig zergrübelten Zufälle ja durch den Autor konstruierte Schicksale sind - Konsequenz ist dann entweder die Gottähnlichkeit des Schriftstellers oder die Schriftstellerähnlichkeit Gottes, was beides gleich trivial ist. Diesen in der postmodernen Literatur zur Genüge durchgespielten Paradoxien entkommt auch Zähringer nicht, dessen bis zu den sprechenden Namen Pynchon kopierendes Buch wie um Jahrzehnte verspäteter Thesenroman zum Thema Metafiktion wirkt: Erzählt wird das Buch - so erklärt sich der Titel - in allwissender Ich-Perspektive von dem im Wachkoma liegenden Alp, der darüber nachsinnt, ob nicht vielleicht das ganze Leben nur ein Traum (oder eben ein Roman) ist.
Wo nichts zufällig ist, wird umgekehrt alles beliebig. Genau betrachtet, folgt die Handlung überhaupt keiner inneren Notwendigkeit mehr und kann in immer neuen Volten weitergedreht werden: Doch bis zum Ende ist längst egal geworden, wer wem wo ein weiteres Mal über den verschlungenen Lebensweg läuft. Keine Frage, Zähringer ist ein begabter Geschichtenerzähler; einzelne Episoden - das eindringlich geschilderte Schicksal des Kindersoldaten, das grausame Wüten des KZ-Arztes - überzeugen auch hier. Doch mit diesem Roman verhält es sich wie mit einer aus Streichhölzern gebastelten Kathedrale - man anerkennt die unendliche Mühe und fragt sich doch: Wozu der Aufwand?
Norbert Zähringer: "Als ich schlief". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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Irre Welt: Norbert Zähringer läßt den Zufall regieren
Wie wahrscheinlich ist es, daß ein Schimpanse beim Herumklappern auf einer Computertastatur eine Zeichenkombination auf den Bildschirm zaubert, die der Zahl Pi bis auf die sechzehnte Stelle nach dem Komma entspricht? Auch wenn es sich bei dem Affen um einen ausrangierten Testpiloten der amerikanischen Luftwaffe handelt? Auch, wenn der Held außer Dienst danach Jahrzehnte in einer streng geheimen Forschungseinrichtung in der Wüste von New Mexico verbrachte und sich dabei das ein oder andere von seinem Besitzer, einem vom KZ- zum US-Army-Arzt gewendeten Menschenschinder, abgeschaut hat?
Ungefähr genauso wahrscheinlich wie die affenscharfe Kopfrechenkunst ist das gesamte Erzählgerüst des zweiten Romans von Norbert Zähringer, der aus einer West-Berliner Wohngemeinschaft der achtziger Jahre Handlungsfäden über vier Kontinente und ein halbes Jahrhundert spinnt: Dem als Wachmann jobbenden Langzeitstudenten und Womanizer Paul Mahlow fällt eines Tages im Frühjahr 1985 beim Routinegang durch eine Altpapierfirma ein Junge buchstäblich vor die Füße - der aus einem afrikanischen Bürgerkrieg im Radkasten einer amerikanischen Regierungsmaschine geflohene Kindersoldat hat den Flug in eisiger, luftarmer Höhe wundersamerweise ebenso überlebt wie den Sturz. Seine schwachen Lebenszeichen setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die nicht minder mirakulös ist wie die Lazarus-Geschichte an ihrem Anfang: In der Notaufnahme trifft der Retter Mahlow nämlich auf seinen iranischstämmigen Mitbewohner und Freund Alp Tazafhadi, der zur gleichen Zeit als Unbeteiligter bei einer Demo zwischen die Fronten geriet und mit einer schweren Kopfverletzung ins Wachkoma gefallen ist. Eine Demonstration übrigens, die gegen den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten gerichtet war, der mit ebenjener Maschine gerade aus einem afrikanischen Chaos-Staat anreiste, in der, nun ja, man kann es sich denken . . .
Nicht unbedingt denken kann man sich dagegen, daß dieser nun komatöse Tazafhadi der leibliche, bei dessen abenteuerlicher Flucht aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Rand der Karakum nebenbei gezeugte Enkel des skrupellosen Naziarztes ist, der nun nach Berlin reist, um den afrikanischen Jungen zu finsteren Menschenversuchszwecken in sein amerikanisches Mengele-Labor zu locken. Und hier stößt man auf das Problem dieses Romans, dessen verwickelte, verschachtelte und dramaturgisch geschickt geschnittene Figurenkonstellation man anfangs mit Spannung und Vergnügen auseinanderklamüsert: Die verwandtschaftliche Verbindung zwischen dem diabolisch-genialen Herrenmännchen und dem Bummelstudenten ist nämlich für die übrige Handlung völlig schnuppe. Was im einzelnen reiner Selbstzweck ist, fügt sich auf höherer Ebene zu der These, daß in der Welt jedes Detail alle anderen beeinflussen kann - also zu dem berühmten Schmetterling der Chaostheorie, dessen Flügelschlag den Lauf der Weltgeschichte ändert.
Da es sich allerdings nur um die künstliche Welt eines Romans handelt, ist das keine Erkenntnis, denn Ziel ist ja gerade die Konstruktion eines in sich geschlossenen Kosmos, in dem alles mit allem zusammenhängt. In der Berliner WG hängt das Schild: "Die Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale." Daß so viele Zufälle haarsträubend unwahrscheinlich sind, ist da kein Einwand: Wahrscheinlichkeit ist nicht das Prinzip des Romans, sondern sein Gegenstand. Zähringer bezieht sich auf kosmologische und quantenphysikalische Theorien, denen zufolge es unendlich viele Paralleluniversen gibt. So unwahrscheinlich es ist - in einem davon würde auch dem Affen die Zahl Pi gelingen.
Schon an anderen bei diesem Thema einschlägigen Werken, wie den Romanen Paul Austers oder den Filmen Krysztof Kiesloswkis stieß auf, daß die darin so tiefsinnig zergrübelten Zufälle ja durch den Autor konstruierte Schicksale sind - Konsequenz ist dann entweder die Gottähnlichkeit des Schriftstellers oder die Schriftstellerähnlichkeit Gottes, was beides gleich trivial ist. Diesen in der postmodernen Literatur zur Genüge durchgespielten Paradoxien entkommt auch Zähringer nicht, dessen bis zu den sprechenden Namen Pynchon kopierendes Buch wie um Jahrzehnte verspäteter Thesenroman zum Thema Metafiktion wirkt: Erzählt wird das Buch - so erklärt sich der Titel - in allwissender Ich-Perspektive von dem im Wachkoma liegenden Alp, der darüber nachsinnt, ob nicht vielleicht das ganze Leben nur ein Traum (oder eben ein Roman) ist.
Wo nichts zufällig ist, wird umgekehrt alles beliebig. Genau betrachtet, folgt die Handlung überhaupt keiner inneren Notwendigkeit mehr und kann in immer neuen Volten weitergedreht werden: Doch bis zum Ende ist längst egal geworden, wer wem wo ein weiteres Mal über den verschlungenen Lebensweg läuft. Keine Frage, Zähringer ist ein begabter Geschichtenerzähler; einzelne Episoden - das eindringlich geschilderte Schicksal des Kindersoldaten, das grausame Wüten des KZ-Arztes - überzeugen auch hier. Doch mit diesem Roman verhält es sich wie mit einer aus Streichhölzern gebastelten Kathedrale - man anerkennt die unendliche Mühe und fragt sich doch: Wozu der Aufwand?
Norbert Zähringer: "Als ich schlief". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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Aberwitzig ist vermutlich das einzig richtige Wort für dieses großartige Buch. Bücher-Magazin