In Auseinandersetzung mit Marx und Lenin profiliert Althusser die zentralen Kategorien seiner Theorie wie Ideologie, Konjunktur und Praxis und bahnt auf diese Weise den Weg für das Verständnis seines späten Konzepts eines "aleatorischen Materialismus".In den 1970er-Jahren diagnostiziert Althusser dem Marxismus eine Krise und distanziert sich in der Folge von der Kommunistischen Partei Frankreichs. Im vorliegenden Band geht er den weitreichenden Konsequenzen dieser Entscheidung für seine kompromisslose, anti-philosophische Denk- und Wirkweise nach. In Form kurzer Texte, die jeweils eine konkrete philosophische Frage umkreisen, zeigt Althusser, wie man sich als Marxist in der Philosophie bewegt, ohne dabei zum marxistischen Philosophen zu werden. Es geht ihm um eine Widerlegung der "idealistischen Philosophie", die nicht selbst zur bloßen Philosophie verkommt. Dabei erinnert Althusser den Marxismus an seine Aufgabe, "zur Freisetzung und freien Ausübung der gesellschaftlichen Praktiken und menschlichen Ideen beizutragen".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2018Ein Würfelwurf niemals tilgt die Ökonomie
Marxismus mit Struktur und Glücksspielanteil: Zwei neue Bände von und über Louis Althusser
Die Philosophen sah Louis Althusser mit skeptischem Blick, denn sie seien, überlegte er, "dafür bekannt, abstrakte Begriffe zu erfinden und zu verwenden, die außerhalb der Philosophie keinerlei Anwendung finden". Er selbst fand, das, was so gedacht und geschrieben werde, sei "in letzter Instanz" immer "von der Ökonomie" abhängig, auch wenn sich, wie der Althusser-Kritiker Cornelius Castoriadis konsterniert feststellen musste, in Althussers gesamtem Werk dann merkwürdigerweise keine einzige überprüfbare Aussage über Zeug wie den Weltmarkt, die Arbeitslosigkeit, Krisen und dergleichen Handfestes findet.
Die zitierte Bemerkung über die Unanwendbarkeit des Philosophischen steht in dem von G. M. Goshgarian zusammengestellten Band "Als Marxist in der Philosophie", einer Auswahl von Notizen, Anmerkungen, Zetteln und Schnurrpfeifereien, die an ihren Urheber erinnern sollen, den französischen Strukturalisten und Marxisten, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. "Strukturalist" bedeutet dabei: Althusser hat sich für gesellschaftliche Dinge, Sachverhalte und Handlungen nur insoweit interessiert, als sie Muster ergaben, also Gelegenheiten für Unterscheidungen und Vergleiche - Anwendung hin, Anwendung her.
Das Kaleidoskop sozialer Korrespondenzen und Differenzen, das er beschrieb, hat ihm erlaubt, für Marx zu tun, was der strukturalistische Psychoanalytiker Jacques Lacan für Sigmund Freud getan hat: Das Zeug wurde lehrstuhlreif, nämlich vornehm abstrakt. So ist bei Lacan "das Unbewusste strukturiert wie eine Sprache" (statt, wie bei Freud, wie ein Saustall). Althusser lehrt, eine wahrhaft materialistische Betrachtung des Gemeinwesens und der Geschichte erkenne vor allem "Prozesse ohne Subjekt" (statt, wie Marx, Enteigner der Arbeit anderer, die man ihrerseits enteignen sollte).
"Marxist" war Althusser somit vor allem in dem Sinn, dass er es erst mit der französischen Kommunistischen Partei gehalten hat und dann, als diese Partei bei den Studierenden aus der maoistischen Mode kam und in Godard-Filmen verspottet wurde, von ihr abfiel, um sie mittels Vokabular zu kritisieren, das er aus ihrem Lehrgebäude brach und neu kombinierte. Sein wunderbares Wort vom "aleatorischen Marxismus" ist eine Kriegserklärung: Lasst die Begriffe fallen, wohin sie wollen, der Kühnste beim Gücksspiel des Denkens gewinnt!
Wie so ein aleatorischer Salatmaterialismus aussieht, zeigen anregend und aufschlussreich sowohl der Goshgarian-Band wie ein anderer, ebenfalls beim Passagen Verlag erschienener mit dem Titel "Althusser und wir". Das erstgenannte Buch gefällt eher mit Allotria und Aleatorika aus Althussers Kopf: "Es kann sogar passieren, dass die Umstände verhindern, dass sich irgendwer zwischen der Richtigkeit und der Gerechtigkeit zurechtfindet", geistreicher ist der Wirrsinn selten gelobt wurden. Das zweite Buch, herausgegeben von Aliocha Wald Lasowski, artikuliert auf beredte und anrührende Weise die Dankbarkeit einiger Gelehrter und Mediengestalten, denen Althussers Einfälle Beschäftigung, Prominenz und Einkommen verschafften.
Wenn etwa Yves Douroux sagt: "Das ist der Punkt oder Knoten, der beachtet werden muss, nämlich dass es stimmt, dass Althusser den philosophischen Kreis zwar an eine Wissenschaft anlehnt, aber diese nicht praktiziert", dann hört man aus dem Klumpen von Punkt, Knoten und Kreis gleich die Freude an gegenstandsloser Exaktheit heraus, die den strukturalistischen und poststrukturalistischen Sound aus Paris zum weltweiten Uni-Party-Hit gemacht hat. Und wenn Antonio Negri Althusser "etwas Heldenhaftes" zuschreibt - denn "dieser Mann hatte neue Dinge verstanden, und trotz persönlicher Dramen und der schrecklichen Geschichte, die das Ende seines Lebens prägte, den Mut zum Denken gehabt" -, dann hätte das den Gepriesenen sicher gefreut, der zwar seine Frau getötet hat ("schreckliche Geschichte", weiß Gott), danach aber öffentlich darüber sinnierte, ob die Idee, ein straffällig gewordener Mensch müsse eine Schuld begleichen, nicht "eine Ideologie" sei, und zwar eine besonders tückische, weil so ein Übeltäter nach Verbüßen der Strafe ja wieder auf die Gesellschaft losgelassen werde. Ihm selbst, Althusser, ist das nicht widerfahren; man sperrte ihn in die Psychiatrie, und zwar, wie er den Verantwortlichen vorwarf, "auf unbestimmte Zeit".
Seine großen Leistungen hat das nicht ungeschehen machen können, unter denen eine der wichtigsten wohl auch sein bemerkenswerter Umgang mit dem Wort "Ideologie" sein dürfte: Anders als bei den berühmten Ideengebern Marx und Engels war er nicht mehr an den Nachweis geknüpft, dass ein Gedanke falsch sei, um dann zu erforschen, warum er gedacht wurde. Nein, bei Althusser war alles Ideologie, das Selbstgedachte wie die Gedanken aller andern. Die Würfel sind gefallen, das Spiel ist längst nicht aus.
DIETMAR DATH.
Louis Althusser: "Als Marxist in der Philosophie". Hrsg. von G. M. Goshgarian. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Passagen Verlag, Wien 2018. 336 S., br., 45,20 [Euro].
"Althusser und wir". Gespräche. Hrsg. von Aliocha Wald Lasowski. Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Passagen Verlag, Wien 2018. 168 S., br., 22,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marxismus mit Struktur und Glücksspielanteil: Zwei neue Bände von und über Louis Althusser
Die Philosophen sah Louis Althusser mit skeptischem Blick, denn sie seien, überlegte er, "dafür bekannt, abstrakte Begriffe zu erfinden und zu verwenden, die außerhalb der Philosophie keinerlei Anwendung finden". Er selbst fand, das, was so gedacht und geschrieben werde, sei "in letzter Instanz" immer "von der Ökonomie" abhängig, auch wenn sich, wie der Althusser-Kritiker Cornelius Castoriadis konsterniert feststellen musste, in Althussers gesamtem Werk dann merkwürdigerweise keine einzige überprüfbare Aussage über Zeug wie den Weltmarkt, die Arbeitslosigkeit, Krisen und dergleichen Handfestes findet.
Die zitierte Bemerkung über die Unanwendbarkeit des Philosophischen steht in dem von G. M. Goshgarian zusammengestellten Band "Als Marxist in der Philosophie", einer Auswahl von Notizen, Anmerkungen, Zetteln und Schnurrpfeifereien, die an ihren Urheber erinnern sollen, den französischen Strukturalisten und Marxisten, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. "Strukturalist" bedeutet dabei: Althusser hat sich für gesellschaftliche Dinge, Sachverhalte und Handlungen nur insoweit interessiert, als sie Muster ergaben, also Gelegenheiten für Unterscheidungen und Vergleiche - Anwendung hin, Anwendung her.
Das Kaleidoskop sozialer Korrespondenzen und Differenzen, das er beschrieb, hat ihm erlaubt, für Marx zu tun, was der strukturalistische Psychoanalytiker Jacques Lacan für Sigmund Freud getan hat: Das Zeug wurde lehrstuhlreif, nämlich vornehm abstrakt. So ist bei Lacan "das Unbewusste strukturiert wie eine Sprache" (statt, wie bei Freud, wie ein Saustall). Althusser lehrt, eine wahrhaft materialistische Betrachtung des Gemeinwesens und der Geschichte erkenne vor allem "Prozesse ohne Subjekt" (statt, wie Marx, Enteigner der Arbeit anderer, die man ihrerseits enteignen sollte).
"Marxist" war Althusser somit vor allem in dem Sinn, dass er es erst mit der französischen Kommunistischen Partei gehalten hat und dann, als diese Partei bei den Studierenden aus der maoistischen Mode kam und in Godard-Filmen verspottet wurde, von ihr abfiel, um sie mittels Vokabular zu kritisieren, das er aus ihrem Lehrgebäude brach und neu kombinierte. Sein wunderbares Wort vom "aleatorischen Marxismus" ist eine Kriegserklärung: Lasst die Begriffe fallen, wohin sie wollen, der Kühnste beim Gücksspiel des Denkens gewinnt!
Wie so ein aleatorischer Salatmaterialismus aussieht, zeigen anregend und aufschlussreich sowohl der Goshgarian-Band wie ein anderer, ebenfalls beim Passagen Verlag erschienener mit dem Titel "Althusser und wir". Das erstgenannte Buch gefällt eher mit Allotria und Aleatorika aus Althussers Kopf: "Es kann sogar passieren, dass die Umstände verhindern, dass sich irgendwer zwischen der Richtigkeit und der Gerechtigkeit zurechtfindet", geistreicher ist der Wirrsinn selten gelobt wurden. Das zweite Buch, herausgegeben von Aliocha Wald Lasowski, artikuliert auf beredte und anrührende Weise die Dankbarkeit einiger Gelehrter und Mediengestalten, denen Althussers Einfälle Beschäftigung, Prominenz und Einkommen verschafften.
Wenn etwa Yves Douroux sagt: "Das ist der Punkt oder Knoten, der beachtet werden muss, nämlich dass es stimmt, dass Althusser den philosophischen Kreis zwar an eine Wissenschaft anlehnt, aber diese nicht praktiziert", dann hört man aus dem Klumpen von Punkt, Knoten und Kreis gleich die Freude an gegenstandsloser Exaktheit heraus, die den strukturalistischen und poststrukturalistischen Sound aus Paris zum weltweiten Uni-Party-Hit gemacht hat. Und wenn Antonio Negri Althusser "etwas Heldenhaftes" zuschreibt - denn "dieser Mann hatte neue Dinge verstanden, und trotz persönlicher Dramen und der schrecklichen Geschichte, die das Ende seines Lebens prägte, den Mut zum Denken gehabt" -, dann hätte das den Gepriesenen sicher gefreut, der zwar seine Frau getötet hat ("schreckliche Geschichte", weiß Gott), danach aber öffentlich darüber sinnierte, ob die Idee, ein straffällig gewordener Mensch müsse eine Schuld begleichen, nicht "eine Ideologie" sei, und zwar eine besonders tückische, weil so ein Übeltäter nach Verbüßen der Strafe ja wieder auf die Gesellschaft losgelassen werde. Ihm selbst, Althusser, ist das nicht widerfahren; man sperrte ihn in die Psychiatrie, und zwar, wie er den Verantwortlichen vorwarf, "auf unbestimmte Zeit".
Seine großen Leistungen hat das nicht ungeschehen machen können, unter denen eine der wichtigsten wohl auch sein bemerkenswerter Umgang mit dem Wort "Ideologie" sein dürfte: Anders als bei den berühmten Ideengebern Marx und Engels war er nicht mehr an den Nachweis geknüpft, dass ein Gedanke falsch sei, um dann zu erforschen, warum er gedacht wurde. Nein, bei Althusser war alles Ideologie, das Selbstgedachte wie die Gedanken aller andern. Die Würfel sind gefallen, das Spiel ist längst nicht aus.
DIETMAR DATH.
Louis Althusser: "Als Marxist in der Philosophie". Hrsg. von G. M. Goshgarian. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Passagen Verlag, Wien 2018. 336 S., br., 45,20 [Euro].
"Althusser und wir". Gespräche. Hrsg. von Aliocha Wald Lasowski. Übersetzt von Richard Steurer-Boulard. Passagen Verlag, Wien 2018. 168 S., br., 22,50 [Euro].
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