Am Strand von Rio de Janeiro wird die kleine Anna im Getümmel von ihrer Mutter getrennt. Als das Mädchen sie nach kurzem albtraumhaften Verlorensein erleichtert am Wasser stehen sieht und sich ihr von hinten nähert, hört sie, wie die Mutter ein verzweifeltes »Sogar hier ... sogar hier!« vor sich hinmurmelt. Was diese Worte bedeuten, vor allem aber wer ihre Mutter war, die sieben Sprachen sprach, aber mit ihrem Kind in keiner einzigen reden konnte, das begreift die Fotografin Anna erst Jahrzehnte später - als sie in einer Versuchsstation in der Antarktis das Naturphänomen des »White-out« aufnimmt, das alles verschluckende Weiß. Und Zsófia Bán ist eine so raffinierte Autorin, dass ihr Text in seinem Verlauf die traumatische Wahrheit eines Lebens allererst zu Tage zu fördert, die Erinnerung sich gleichsam im Augenblick des Erzählens ereignet. Emigration, Entwurzelung, der brutale Riss, der ein Leben in ein Davor und Danach teilt - diese Erfahrungen bilden das Gravitationszentrum derfünfzehn Geschichten des Bandes.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Es sind vor allem Bilder, die zwischen den einzelnen Erzählungen und Erzählebenen in Zsófia Báns "Als nur die Tiere lebten" einen Zusammenhang herstellen, berichtet Jörg Plath, der sich hier überwiegend an symbolischen Einzelheiten entlang hangelt. Da ist zum Beispiel die Erzählung einer Frau, die im Flugzeug von einem Mann bedrängt wird. Unvermittelt wird die Geschichte eines achtjährigen Jungen eingeflochten, der sich an einem Mädchen vergehen will, aber von seinem Vater erwischt und zur Strafe mit einem Gürtel geprügelt wird - der ihm eine Wunde an ebenjener Stelle zufügt, an der der Mann im Flugzeug eine Narbe hat, so der Rezensent. Ähnliche, weniger offene Verbindungen durchziehen das ganze Buch, verrät Plath, der vermutet, dass eine gewisse Kenntnis poststrukturalistischer Theorien das Aufdecken der doppelten und dreifachen Böden erleichtert, unbedingt notwendig sind sie aber nicht, beruhigt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2014Wie erotisch ist doch das Röntgen!
Bilder, so einschneidend wie Messerklingen: Zsófia Báns "Als nur die Tiere lebten"
Zsófia Bán hat ein Buch über die entscheidenden Augenblicke des Lebens geschrieben, in fünfzehn Erzählungen. "Als nur die Tiere lebten" handelt vom Geborenwerden und vom Sterben, vom Auswandern und vom Heimkehren. Die Geschichten spielen in Ungarn und Südamerika, größtenteils im zwanzigsten Jahrhundert, soweit man das an Ereignissen am Rande, wie etwa dem Zusammenbruch des Ostblocks, festmachen kann. Sie erzählen von Zerrissenheit, ständig ist jemand unterwegs, ständig ist jemand verloren oder gar traumatisiert.
"Glaube immer dem ersten Eindruck", schreibt Bán in einer der Geschichten, "der Rest ist Schmetterlingsfett." Der erste Eindruck von ihrem Buch ist, dass es sich um eine Sammlung sonderbarer Kurzgeschichten handelt, in langen Sätzen verfasst, reich an Details (ein Beispiel: In Brasilien muss man an einer durch den ganzen Bus gespannten Plastikschnur ziehen, wenn man aussteigen will) und unverbrauchten Vergleichen ("als würde man die Toilette spülen"). Die meisten Geschichten sind durch das Bewusstsein einer Figur gefiltert, so dass der Leser sich alle zehn bis zwanzig Seiten in eine neue Perspektive einfinden muss. Irgendwann geht einem davon ein wenig die Luft aus, dann wird es schwer, die dichte Sprache entlang der feinen Linie zwischen Prosa und Poesie in ihrer ganzen Fülle aufzunehmen.
Vielleicht ist es besser, immer nur eine Geschichte zu lesen, am besten laut, und es zu genießen, wenn sich die schwarzen Buchstaben von den weißen Seiten heben und Bilder in die Luft malen. Darum geht es ja vor allem: um Bilder.
Das Buch eröffnet mit der wohl seltsamsten und erotischsten Geschichte, die jemals über die Entdeckung des Röntgenbildes geschrieben wurde. Es schließt mit einer um ihre Mutter trauernden Fotografin, die in der Antarktis ein "White-out" aufnimmt. Dazwischen erzählt Bán Momentaufnahmen der großen und kleinen Augenblicke des Lebens und jener, die zunächst klein erscheinen und erst retrospektiv an Bedeutung gewinnen. "Ein Bild ist", schreibt die Autorin in "Kurze Geschichte der Fotografie", "dass Patty Hearst mit einer Maschinenpistole in einer Hand in der Bank steht, und man sieht ihr an, dass sie auf einmal ganz verlassen ist, ... denn ein Bild ist so, dass es dich verrät. Er ersticht dich mit dem Küchenmesser, während du die Hand nach der Zwiebel ausstreckst." Auch das ist ein Bild.
Eigentlich könnte das ganze Buch "Kurze Geschichte der Fotografie" heißen oder besser noch: "Kurze Geschichte der Fotografie und des Wassers". Wasser nämlich, das "unsicherste Element", wie Zsófia Bán es nennt, rinnt durch alle Geschichten, selbst dann, wenn es um etwas ganz anderes geht, etwa um die Einreise nach Brasilien zur Zeit der Diktatur: "Bem vinda no Brasil, sagte er mit einer von ungezählt vielen Zigarren rauhen Stimme und nickte dazu militärisch mit dem Kopf, auf seinem glänzend brillantinierten Haar hätte man surfen können." Es ist das Wasser, das die disparaten Bilder verbindet.
Zum Ende hin gewinnt man den Eindruck, dass die Geschichten doch alle zusammenhängen, an seidenen, fast unsichtbaren Fäden. Terike, Margó, Marcsi - man hat das Gefühl, diese Namen schon einmal gelesen zu haben. Zsófia Bán weiß auch damit umzugehen. "Wo ist der Zusammenhang?", lässt sie eine der Figuren fragen, gerade als der Leser die fast unsichtbaren Fäden dann doch erkannt hat. "Welcher Zusammenhang, du Bekloppte?", antwortet eine andere. "So eine ungeduldige Bande! Soll ich euch die Brücke machen, damit es sofort einen Zusammenhang gibt?!" Auf die große Brücke, die sofort Verbindungen herstellt, verzichtet Bán, erst beim zweiten Hinschauen, beim genaueren Lesen bemerkt man, dass es sich bei ihren Erzählungen nicht nur um zufällige Schnappschüsse handelt, sondern um das Fotoalbum einer Familie im zwanzigsten Jahrhundert. Vielleicht ist das Schmetterlingsfett, aber es gibt dem Werk noch einmal eine neue Dimension.
"Als nur die Tiere lebten" ist ein Buch voll Leidenschaft und voll Tragik. Es ist ein Buch über das menschliche Fleisch - "am längsten erinnert sich das Fleisch", heißt es in einer Geschichte -, aber mindestens genauso sehr über die menschliche Seele, ihre Abgründe und ihre Fähigkeit, trotz der Zerrissenheit irgendwie klarzukommen mit diesem Leben.
MARIA-XENIA HARDT
Zsófia Bán: "Als nur die
Tiere lebten". Roman.
Aus dem Ungarischen von
Terézia Mora. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014. 205 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bilder, so einschneidend wie Messerklingen: Zsófia Báns "Als nur die Tiere lebten"
Zsófia Bán hat ein Buch über die entscheidenden Augenblicke des Lebens geschrieben, in fünfzehn Erzählungen. "Als nur die Tiere lebten" handelt vom Geborenwerden und vom Sterben, vom Auswandern und vom Heimkehren. Die Geschichten spielen in Ungarn und Südamerika, größtenteils im zwanzigsten Jahrhundert, soweit man das an Ereignissen am Rande, wie etwa dem Zusammenbruch des Ostblocks, festmachen kann. Sie erzählen von Zerrissenheit, ständig ist jemand unterwegs, ständig ist jemand verloren oder gar traumatisiert.
"Glaube immer dem ersten Eindruck", schreibt Bán in einer der Geschichten, "der Rest ist Schmetterlingsfett." Der erste Eindruck von ihrem Buch ist, dass es sich um eine Sammlung sonderbarer Kurzgeschichten handelt, in langen Sätzen verfasst, reich an Details (ein Beispiel: In Brasilien muss man an einer durch den ganzen Bus gespannten Plastikschnur ziehen, wenn man aussteigen will) und unverbrauchten Vergleichen ("als würde man die Toilette spülen"). Die meisten Geschichten sind durch das Bewusstsein einer Figur gefiltert, so dass der Leser sich alle zehn bis zwanzig Seiten in eine neue Perspektive einfinden muss. Irgendwann geht einem davon ein wenig die Luft aus, dann wird es schwer, die dichte Sprache entlang der feinen Linie zwischen Prosa und Poesie in ihrer ganzen Fülle aufzunehmen.
Vielleicht ist es besser, immer nur eine Geschichte zu lesen, am besten laut, und es zu genießen, wenn sich die schwarzen Buchstaben von den weißen Seiten heben und Bilder in die Luft malen. Darum geht es ja vor allem: um Bilder.
Das Buch eröffnet mit der wohl seltsamsten und erotischsten Geschichte, die jemals über die Entdeckung des Röntgenbildes geschrieben wurde. Es schließt mit einer um ihre Mutter trauernden Fotografin, die in der Antarktis ein "White-out" aufnimmt. Dazwischen erzählt Bán Momentaufnahmen der großen und kleinen Augenblicke des Lebens und jener, die zunächst klein erscheinen und erst retrospektiv an Bedeutung gewinnen. "Ein Bild ist", schreibt die Autorin in "Kurze Geschichte der Fotografie", "dass Patty Hearst mit einer Maschinenpistole in einer Hand in der Bank steht, und man sieht ihr an, dass sie auf einmal ganz verlassen ist, ... denn ein Bild ist so, dass es dich verrät. Er ersticht dich mit dem Küchenmesser, während du die Hand nach der Zwiebel ausstreckst." Auch das ist ein Bild.
Eigentlich könnte das ganze Buch "Kurze Geschichte der Fotografie" heißen oder besser noch: "Kurze Geschichte der Fotografie und des Wassers". Wasser nämlich, das "unsicherste Element", wie Zsófia Bán es nennt, rinnt durch alle Geschichten, selbst dann, wenn es um etwas ganz anderes geht, etwa um die Einreise nach Brasilien zur Zeit der Diktatur: "Bem vinda no Brasil, sagte er mit einer von ungezählt vielen Zigarren rauhen Stimme und nickte dazu militärisch mit dem Kopf, auf seinem glänzend brillantinierten Haar hätte man surfen können." Es ist das Wasser, das die disparaten Bilder verbindet.
Zum Ende hin gewinnt man den Eindruck, dass die Geschichten doch alle zusammenhängen, an seidenen, fast unsichtbaren Fäden. Terike, Margó, Marcsi - man hat das Gefühl, diese Namen schon einmal gelesen zu haben. Zsófia Bán weiß auch damit umzugehen. "Wo ist der Zusammenhang?", lässt sie eine der Figuren fragen, gerade als der Leser die fast unsichtbaren Fäden dann doch erkannt hat. "Welcher Zusammenhang, du Bekloppte?", antwortet eine andere. "So eine ungeduldige Bande! Soll ich euch die Brücke machen, damit es sofort einen Zusammenhang gibt?!" Auf die große Brücke, die sofort Verbindungen herstellt, verzichtet Bán, erst beim zweiten Hinschauen, beim genaueren Lesen bemerkt man, dass es sich bei ihren Erzählungen nicht nur um zufällige Schnappschüsse handelt, sondern um das Fotoalbum einer Familie im zwanzigsten Jahrhundert. Vielleicht ist das Schmetterlingsfett, aber es gibt dem Werk noch einmal eine neue Dimension.
"Als nur die Tiere lebten" ist ein Buch voll Leidenschaft und voll Tragik. Es ist ein Buch über das menschliche Fleisch - "am längsten erinnert sich das Fleisch", heißt es in einer Geschichte -, aber mindestens genauso sehr über die menschliche Seele, ihre Abgründe und ihre Fähigkeit, trotz der Zerrissenheit irgendwie klarzukommen mit diesem Leben.
MARIA-XENIA HARDT
Zsófia Bán: "Als nur die
Tiere lebten". Roman.
Aus dem Ungarischen von
Terézia Mora. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014. 205 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2014In der hellen Kammer
Wie man Geschichten aus Bildern entwickelt – die ungarische
Erzählerin Zsófia Bán und ihr Band „Als nur die Tiere lebten“
VON LOTHAR MÜLLER
Es ist etwas Schwereloses in diesem Buch, etwas Girlandenhaftes, leicht Geknüpftes, aber je weiter man in der Lektüre der scheinbar unverbundenen Erzählungen voranschreitet, desto deutlicher tritt hervor, wie viele Schrecksekunden es darin gibt, chokhafte Momente, in denen eine Erinnerung zuschnappt wie eine Falle, eine Hoffnung blitzschnell zerstört wird, eine Ahnung sich öffnet wie ein Abgrund. Aus einem dieser Abgründe ragt in der letzten Geschichte „Als nur die Tiere lebten“, die dem ganzen Buch den Titel gibt, ein Stück des Formprinzips an die Oberfläche, dem hier das Erzählen folgt: „die Spitze des Eisbergs, nur so viel soll zu sehen sein!“
Als die 1957 in Rio de Janeiro geborene ungarische Autorin Zsófia Bán vor zwei Jahren mit dem Buch „Abendschule. Fibel für Erwachsene“ erstmals vor das deutsche Publikum trat, war in diesem vergnüglichen, geist- und funkensprühenden Kompendium der Menschen-, Tier–, Kunst- und Geschichtsbeobachtung der Text „Eine Kiste mit Fotografien (auf die Rückseite geschrieben)“ enthalten. Von diesen Familienbildern der „Abendschule“ soll hier nicht weiter die Rede sein, wohl aber von der Bedeutung, die Fotografien, Kameras, Tafelbilder, Familienalben und alte Privatfilme für diese Autorin – und ihre Figuren – haben.
Das mag mit ihrem Beruf zusammenhängen. Zsófia Bán lehrt nicht nur Amerikanistik in Budapest, sie hat auch in Filmstudios gearbeitet. Aber das alleine kann es nicht sein, es muss ein genuin literarisches Prinzip dahinterstecken, die Idee, Bilder so anzusehen, als seien sie die Spitze eines Eisbergs. Nennen wir dieses Prinzip das „Blow-Up“-Prinzip, also das „Entwickeln“ einer Geschichte aus einem Bild heraus. Antonionis Film „Blow-Up“ beruhte auf der Erzählung „Teufelsgeifer“ (1958) von Julio Cortázar, in der sich eine Verführungsszene bei näherer Betrachtung als Entführungsszene entpuppt.
Immer wieder fällt bei Zsófia Bán der Cortázar-Blick auf Mütter- und Väterfiguren, auf nach Südamerika emigrierte Diven, auf Musikerinnen, die nach Budapest zurückkehren, auf Bilder, die aus Familienalben stammen könnten – aber das Nebeneinandergeklebte, die übersichtlich-chronologische Form des Albums kündigt dieses ausschwingende, girlandenbildende, andeutende Erzählen auf. „Die Spitze des Eisbergs, nur soviel soll zu sehen sein“ heißt auch: „so kann man natürlich keinen Großroman schreiben “, keinen die Generationenfolge episch auserzählenden Familienroman.
Und so beginnt dieses wunderliche, listige Buch mit einem ironischen Capriccio, der Verwandlung einer Fotografie aus der Wissenschaftsgeschichte in die Abbreviatur eines Eheromans. „Frau Röntgens Hand“ erzählt auf wenigen Seiten, wie Wilhelm Röntgen am 22. Dezember 1895 seiner Frau Anna Bertha „das erste mit X-Strahlen erzeugte Bild“ zeigte. Es war ihre Hand darauf zu sehen, „ohne Fleisch“, aber mit den beiden Ringen, dem Ehe- und dem Verlobungsring, die Wilhelm und Anna Bertha verbanden. Muss man hinzufügen, dass in dieser kleinen Geschichte das Wort „Fleisch“ zum Schlüsselwort wird?
Es gibt zu dieser Geschichte eine düstere historische Gegengeschichte, die ganz unscheinbar aus der Unterhaltung alter ungarischer Damen herauswächst – und aus einer Spiegel-online-Meldung von 2009. In der Geschichte muss Mathilde Jacob im Juni 1919 in der Charité ihre ehemalige Arbeitgeberin, die im Januar erschlagene Rosa Luxemburg identifizieren, deren Leiche erst im Sommer entdeckt worden war. Die Spiegel-online-Meldung wiederum überführt den Röntgen-Blick in die Welt der DNS-Analyse: im Keller des Medizinhistorischen Museums war der Torso einer Leiche aufgetaucht, die den Verdacht wachrief, „dass diese die Leiche Rosas sein könnte, und nicht jene, die man als die ihre identifiziert und begraben hatte“.
Wie Macbeth-Hexen lässt Zsófia Bán ihre drei Greisinnen um diese Meldung herumtanzen, und das ist nicht zynisch oder frivol, sondern Notwehr gegen das Jahrhundert, dem die Hexen wie die Autorin entstammen. Wer in Ungarn zum Jahrgang 1957 gehört, ist ein Jahr nach der Revolution von 1956 geboren, und wer die Kindheit in Südamerika verbracht hat, ruft die Erinnerung an die vielen Ungarn wach, die nach 1956 ins Exil gingen.
Wie die Form des Familienromans schlägt Zsófia Bán das autobiographische Erzählen aus, aber ihr „Blow-Up“-Prinzip nimmt die historisch-politischen Erfahrungen ihrer Generation in sich auf, etwa in der melancholischen Erzählung „Ein Abend ohne Erika“. Sie handelt von den Tickets für das Konzert der Rolling Stones in Prag am 18. August 1990, die im heißen Nachwende-Sommer in Budapest als großes Versprechen an einer Pinnwand hängen – aber dann ruft die Freundin an und sagt, sie kommt nicht mit. Wie ein jaulender Riff jagt während des Telefonats die Kindheitserinnerung an die 1968 nach Prag rollenden Panzer durch die heiße Wohnung. Scharf beleuchten diese Erzählungen die Spitze des Eisbergs, ihn selbst zeigen sie nicht. Einmalwird die Fotografie „Arbeitsdienstler in der Kartenschlacht“ aus den 1940er Jahren betrachtet, mit ihrem gezackten Rand kann sie auch der Leser betrachten. Sie zeigt den Vater einer namenlosen Ich-Erzählerin, die das Blow-Up-Prinzip auf ihn anwendet und kurz zuvor geschrieben hat: „Ein Bild ist, dass jemand ein ganzes Buch über Bilder schreibt, aber in Wahrheit schreibt er es über seine Mutter, über ein kleines Bild, das es von seiner Mutter gibt, als sie noch ein Mädchen war, dieses Bild aber ist im Buch nicht zu sehen, denn der Leser würde sowieso nicht das Bild sehen, was er, der Junge, der Sohn der Mutter, darauf sieht, davon handelt das Buch. Auch das ist ein Bild.“
Diese Sätze spielen auf das Buch „Die helle Kammer“ an, in dem Roland Barthes seine Auffassung der Fotografie darlegte. Dazu gehörte die strikte Scheidung von Fotografie und Film. Sie findet bei Zsófia Bán ein Echo in der Erzählung „Keep in touch“, in der ein Ich mit „weit aufgerissenen Augen“ den alten Film betrachtet, der die kaum dreißigjährige Mutter auf den Straßen von Rio de Janeiro zeigt, in Jeans, mit weißem Ridikül und roter Halskette, und vom Choc der Bewegung erfasst , dem Echtheitssiegel des Lebens, vor dem „Tausende von Standbildern aus Kisten, Alben und Dias“ verblassen.
Und der seltsame Titel des Ganzen? Er hat mit den Grätenmuster im Bikinischnitt der Mutter zu tun, „als wäre es der paläontologische Abdruck eines in Stein gemeißelten Tausendfüßlers aus einer Welt, bevor es Menschen gab, als nur die Tiere lebten, sagte die dreijährige Anna, was bei ihr einfach nur ,lange her‘ bedeutete, den gestrigen Tag mit einschloss“. In der Titelgeschichte blendet das Blow-Up-Prinzip zwei Bilder übereinander: das eine zeigt die eben gestorbene Mutter im Krankenhaus, das andere schießt die Tochter Anna mit ihrer Kamera in der Antarktis, ein „White out“-Bild, „das in der Lage war, die furchteinflößende und dennoch ruhige, alles verschluckende Weißheit jenes Augenblickes vor einem Jahr im Krankenhaus wiederzugeben“.
Dass Zsófia Bán so furios in der deutschen Prosa der Gegenwart angekommen ist, verdanken wir der makellosen Übersetzung von Terézia Mora.
Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 206 Seiten, 22,95 Euro.
„So kann man keine
Großromane schreiben“
Eine furchteinflößende und
dennoch ruhige Weißheit . . .
Die Hand der Ehefrau: Wilhelm Conrad Roentgen erstes „X-Strahlen-Bild“ aus dem Jahr 1895 .
Foto: SSPL/Getty Images
Zsófia Bán, geboren 1957 in Rio de Janeiro, lehrt Amerikanistik in Budapest. Für ihr literarisches Debüt „Abendschule“ erhielt sie 2008 den Attila-József-Preis.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie man Geschichten aus Bildern entwickelt – die ungarische
Erzählerin Zsófia Bán und ihr Band „Als nur die Tiere lebten“
VON LOTHAR MÜLLER
Es ist etwas Schwereloses in diesem Buch, etwas Girlandenhaftes, leicht Geknüpftes, aber je weiter man in der Lektüre der scheinbar unverbundenen Erzählungen voranschreitet, desto deutlicher tritt hervor, wie viele Schrecksekunden es darin gibt, chokhafte Momente, in denen eine Erinnerung zuschnappt wie eine Falle, eine Hoffnung blitzschnell zerstört wird, eine Ahnung sich öffnet wie ein Abgrund. Aus einem dieser Abgründe ragt in der letzten Geschichte „Als nur die Tiere lebten“, die dem ganzen Buch den Titel gibt, ein Stück des Formprinzips an die Oberfläche, dem hier das Erzählen folgt: „die Spitze des Eisbergs, nur so viel soll zu sehen sein!“
Als die 1957 in Rio de Janeiro geborene ungarische Autorin Zsófia Bán vor zwei Jahren mit dem Buch „Abendschule. Fibel für Erwachsene“ erstmals vor das deutsche Publikum trat, war in diesem vergnüglichen, geist- und funkensprühenden Kompendium der Menschen-, Tier–, Kunst- und Geschichtsbeobachtung der Text „Eine Kiste mit Fotografien (auf die Rückseite geschrieben)“ enthalten. Von diesen Familienbildern der „Abendschule“ soll hier nicht weiter die Rede sein, wohl aber von der Bedeutung, die Fotografien, Kameras, Tafelbilder, Familienalben und alte Privatfilme für diese Autorin – und ihre Figuren – haben.
Das mag mit ihrem Beruf zusammenhängen. Zsófia Bán lehrt nicht nur Amerikanistik in Budapest, sie hat auch in Filmstudios gearbeitet. Aber das alleine kann es nicht sein, es muss ein genuin literarisches Prinzip dahinterstecken, die Idee, Bilder so anzusehen, als seien sie die Spitze eines Eisbergs. Nennen wir dieses Prinzip das „Blow-Up“-Prinzip, also das „Entwickeln“ einer Geschichte aus einem Bild heraus. Antonionis Film „Blow-Up“ beruhte auf der Erzählung „Teufelsgeifer“ (1958) von Julio Cortázar, in der sich eine Verführungsszene bei näherer Betrachtung als Entführungsszene entpuppt.
Immer wieder fällt bei Zsófia Bán der Cortázar-Blick auf Mütter- und Väterfiguren, auf nach Südamerika emigrierte Diven, auf Musikerinnen, die nach Budapest zurückkehren, auf Bilder, die aus Familienalben stammen könnten – aber das Nebeneinandergeklebte, die übersichtlich-chronologische Form des Albums kündigt dieses ausschwingende, girlandenbildende, andeutende Erzählen auf. „Die Spitze des Eisbergs, nur soviel soll zu sehen sein“ heißt auch: „so kann man natürlich keinen Großroman schreiben “, keinen die Generationenfolge episch auserzählenden Familienroman.
Und so beginnt dieses wunderliche, listige Buch mit einem ironischen Capriccio, der Verwandlung einer Fotografie aus der Wissenschaftsgeschichte in die Abbreviatur eines Eheromans. „Frau Röntgens Hand“ erzählt auf wenigen Seiten, wie Wilhelm Röntgen am 22. Dezember 1895 seiner Frau Anna Bertha „das erste mit X-Strahlen erzeugte Bild“ zeigte. Es war ihre Hand darauf zu sehen, „ohne Fleisch“, aber mit den beiden Ringen, dem Ehe- und dem Verlobungsring, die Wilhelm und Anna Bertha verbanden. Muss man hinzufügen, dass in dieser kleinen Geschichte das Wort „Fleisch“ zum Schlüsselwort wird?
Es gibt zu dieser Geschichte eine düstere historische Gegengeschichte, die ganz unscheinbar aus der Unterhaltung alter ungarischer Damen herauswächst – und aus einer Spiegel-online-Meldung von 2009. In der Geschichte muss Mathilde Jacob im Juni 1919 in der Charité ihre ehemalige Arbeitgeberin, die im Januar erschlagene Rosa Luxemburg identifizieren, deren Leiche erst im Sommer entdeckt worden war. Die Spiegel-online-Meldung wiederum überführt den Röntgen-Blick in die Welt der DNS-Analyse: im Keller des Medizinhistorischen Museums war der Torso einer Leiche aufgetaucht, die den Verdacht wachrief, „dass diese die Leiche Rosas sein könnte, und nicht jene, die man als die ihre identifiziert und begraben hatte“.
Wie Macbeth-Hexen lässt Zsófia Bán ihre drei Greisinnen um diese Meldung herumtanzen, und das ist nicht zynisch oder frivol, sondern Notwehr gegen das Jahrhundert, dem die Hexen wie die Autorin entstammen. Wer in Ungarn zum Jahrgang 1957 gehört, ist ein Jahr nach der Revolution von 1956 geboren, und wer die Kindheit in Südamerika verbracht hat, ruft die Erinnerung an die vielen Ungarn wach, die nach 1956 ins Exil gingen.
Wie die Form des Familienromans schlägt Zsófia Bán das autobiographische Erzählen aus, aber ihr „Blow-Up“-Prinzip nimmt die historisch-politischen Erfahrungen ihrer Generation in sich auf, etwa in der melancholischen Erzählung „Ein Abend ohne Erika“. Sie handelt von den Tickets für das Konzert der Rolling Stones in Prag am 18. August 1990, die im heißen Nachwende-Sommer in Budapest als großes Versprechen an einer Pinnwand hängen – aber dann ruft die Freundin an und sagt, sie kommt nicht mit. Wie ein jaulender Riff jagt während des Telefonats die Kindheitserinnerung an die 1968 nach Prag rollenden Panzer durch die heiße Wohnung. Scharf beleuchten diese Erzählungen die Spitze des Eisbergs, ihn selbst zeigen sie nicht. Einmalwird die Fotografie „Arbeitsdienstler in der Kartenschlacht“ aus den 1940er Jahren betrachtet, mit ihrem gezackten Rand kann sie auch der Leser betrachten. Sie zeigt den Vater einer namenlosen Ich-Erzählerin, die das Blow-Up-Prinzip auf ihn anwendet und kurz zuvor geschrieben hat: „Ein Bild ist, dass jemand ein ganzes Buch über Bilder schreibt, aber in Wahrheit schreibt er es über seine Mutter, über ein kleines Bild, das es von seiner Mutter gibt, als sie noch ein Mädchen war, dieses Bild aber ist im Buch nicht zu sehen, denn der Leser würde sowieso nicht das Bild sehen, was er, der Junge, der Sohn der Mutter, darauf sieht, davon handelt das Buch. Auch das ist ein Bild.“
Diese Sätze spielen auf das Buch „Die helle Kammer“ an, in dem Roland Barthes seine Auffassung der Fotografie darlegte. Dazu gehörte die strikte Scheidung von Fotografie und Film. Sie findet bei Zsófia Bán ein Echo in der Erzählung „Keep in touch“, in der ein Ich mit „weit aufgerissenen Augen“ den alten Film betrachtet, der die kaum dreißigjährige Mutter auf den Straßen von Rio de Janeiro zeigt, in Jeans, mit weißem Ridikül und roter Halskette, und vom Choc der Bewegung erfasst , dem Echtheitssiegel des Lebens, vor dem „Tausende von Standbildern aus Kisten, Alben und Dias“ verblassen.
Und der seltsame Titel des Ganzen? Er hat mit den Grätenmuster im Bikinischnitt der Mutter zu tun, „als wäre es der paläontologische Abdruck eines in Stein gemeißelten Tausendfüßlers aus einer Welt, bevor es Menschen gab, als nur die Tiere lebten, sagte die dreijährige Anna, was bei ihr einfach nur ,lange her‘ bedeutete, den gestrigen Tag mit einschloss“. In der Titelgeschichte blendet das Blow-Up-Prinzip zwei Bilder übereinander: das eine zeigt die eben gestorbene Mutter im Krankenhaus, das andere schießt die Tochter Anna mit ihrer Kamera in der Antarktis, ein „White out“-Bild, „das in der Lage war, die furchteinflößende und dennoch ruhige, alles verschluckende Weißheit jenes Augenblickes vor einem Jahr im Krankenhaus wiederzugeben“.
Dass Zsófia Bán so furios in der deutschen Prosa der Gegenwart angekommen ist, verdanken wir der makellosen Übersetzung von Terézia Mora.
Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 206 Seiten, 22,95 Euro.
„So kann man keine
Großromane schreiben“
Eine furchteinflößende und
dennoch ruhige Weißheit . . .
Die Hand der Ehefrau: Wilhelm Conrad Roentgen erstes „X-Strahlen-Bild“ aus dem Jahr 1895 .
Foto: SSPL/Getty Images
Zsófia Bán, geboren 1957 in Rio de Janeiro, lehrt Amerikanistik in Budapest. Für ihr literarisches Debüt „Abendschule“ erhielt sie 2008 den Attila-József-Preis.
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»Es ist dieses unablässige Ringen zwischen starker Empathie und kühnem Konstruktionswillen, das Zsófia Báns Erzählen strukturiert und auf äußerst reizvolle und sehr spannende Weise Sinn schafft, in dem, staunenswert genug, auch Katastrophen Platz finden.« Jörg Plath Neue Zürcher Zeitung 20140626