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Mendoza, eine beschauliche argentinische Provinzstadt am Fuße der Anden. Der 8. April 1977 ist der letzte Tag, den Gisela Tenenbaum, 22, mit Sicherheit noch erlebt hat. Ihr weiteres Schicksal ist ungewiss.

Produktbeschreibung
Mendoza, eine beschauliche argentinische Provinzstadt am Fuße der Anden. Der 8. April 1977 ist der letzte Tag, den Gisela Tenenbaum, 22, mit Sicherheit noch erlebt hat. Ihr weiteres Schicksal ist ungewiss.
Autorenporträt
Erich Hackl wurde 1954 in Steyr (Oberösterreich) geboren. Er studierte in Salzburg und Málaga Germanistik und Hispanistik und war drei Jahre Lektor an der Universidad Complutense in Madrid. Zurück in Österreich, war er Spanischlehrer an einer Mittelschule und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seit 1983 arbeitet Hackl als Übersetzer, Herausgeber und freier Schriftsteller. 2004 erhielt er den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels "für Toleranz im Denken und Handeln" und 2007 wurde ihm der Donauland-Sachbuchpreis verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007

Ein Engel, der auch schrecklich sein kann
Erich Hackl erzählt nach dem Leben / Von Rose-Maria Gropp

Das ist der erste Satz: "Ich wollte, die Geschichte endete wie im Märchen." Der Erzähler tritt in diese Geschichte mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular ein - eine dramatische Stellungnahme. Das Ende des Märchens hieße: "Da ging die Tür auf, und die Tochter trat ein mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme. Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küsste sie: Es war nicht anders, sie mussten alle vor Freude weinen."

Gisela Tenenbaums Verschwinden datiert von einem Karfreitag, dem 8. April 1977. Sie war ein Mitglied der linksgerichteten "Monteneros" in Argentinien. Schon seit zwei Jahren lebte sie im Untergrund, damals mit zwei Freunden in einer kleinen Wohnung in Mendoza. Die Militärs spürten sie dort auf. Ana María Moral wird auf der Flucht an der Schwelle einer Kirche von einem Schuss in den Rücken getroffen; der Pfarrer schließt nicht das Tor, sondern überlässt sie ihren Verfolgern. Sie wird abtransportiert und stirbt noch am selben Tag. José Galamba kann zunächst entkommen; er wird aber 1978 verschleppt und taucht nie wieder auf. Gisela Tenenbaums Schicksal ist bis heute ungeklärt. Sie ist jener Engel in dieser jüngsten Erzählung Erich Hackls. Ihre Wurzeln gründen tief in Europa.

Im Juni 1930 wurde Helga Markstein in Wien geboren. Die Marksteins sind Juden; Helgas Vater Rudolf ist Sozialist und arbeitet in einer Buchhandlung. Dank eines Verwandten in Buenos Aires kann die Familie 1939 aus dem Deutschen Reich nach La Paz in Bolivien ausreisen. Helga beginnt dort mit zwölf Jahren eine Lehre als Hutmacherin, besucht abends Kurse in Buchhaltung. Willi Tenenbaum lebte schon seit 1938 in Buenos Aires. Er ist in Wiens 16. Bezirk Ottakring ohne Vater aufgewachsen und hat mit seiner Mutter fliehen können. Willi, der Bautechniker ist, und Helga lernen sich in Buenos Aires kennen; sie heiraten 1951.

Zutiefst geprägt von pazifistischem, liberalem Denken und beseelt von dem Wunsch zu helfen, arbeiten sie sich hoch, bis sie 1958 zum Medizinstudium zugelassen werden. Schon im Juni 1953 war ihre erste Tochter Heidi zur Welt gekommen, benannt nach Johanna Spyris Romanfigur. Im Dezember 1954 legen die jungen Eltern ihre ersten Prüfungen ab; am 4. Februar 1955 wird Gisela geboren, im Juni 1960 dann Mónica, die jüngste Tochter. Helga und Willi werden gute Ärzte. Ihre Töchter wachsen in einer Atmosphäre auf, die, so lehrt es uns Hackls "Erzählung nach dem Leben", vom Geist der Anerkennung, der Freiheit und ihrer Spielregeln und von grundlegendem Vertrauen geprägt ist.

Am Ostersonntag 1977 wartet Helga vergeblich auf ihre Tochter, für eines jener gefährlichen heimlichen Treffen, seit "Gisi" abgetaucht ist mit den Monteneros. "Heute", schreibt Hackl, "ist Helga davon überzeugt, dass Gisi den Militärs schon am 8. April, beim Treffen ihrer Gruppe, spätestens Anfang Mai in die Hände gefallen ist. Damals aber lebte in ihr und in Willi die Hoffnung auf ein Wiedersehen."

Wer aber war Gisi? Oder wer ist Gisi, falls sie, heute eine Frau von zweiundfünfzig Jahren, doch noch irgendwo lebt, vielleicht in Kuba, vielleicht in Europa? Um sie kristallisiert sich Hackls Methode der vielstimmigen Annäherung, die schon seine früheren Bücher kennzeichnet. Wieder hat er eine dieser in jedem Sinne unerhörten Geschichten aufgespürt, für deren Niederschrift er bekannt geworden ist. Noch unglaublicher ist vielleicht, dass sie sich immer diesem einen Autor öffnen. Mag sein, dass ihm inzwischen solche Biographien vertrauensvoll in die Hände gelegt werden; denn er wird nicht leichthändig damit verfahren, er wird ihre sorgsame Erforschung mit seiner eigenen Lebenszeit aufwiegen.

Mit der Suche nach Gisi hat Hackls Kunst der Rekonstruktion, die im Dokumentieren verankert ist, eine höhere literarische Stufe erklommen. Wie er in diesem Buch aus dem Gewirr der Stimmen die Silhouette zunächst des kleinen Mädchens, dann der Heranwachsenden herausschält und schließlich der jungen Frau, die weiß, was sie tut, und die unterlässt, was sie zu ihrer eigenen Rettung tun könnte, oder wenigstens mit Rücksicht auf die, von denen sie geliebt wird; einer Frau, die ihre Hochbegabung einem sinn- und aussichtslos gewordenen Kampf opfert - das alles ist hohe Erzählkunst.

Es ließe sich hier ein Raster dieser Recherche wiedergeben: Gisi, die früh Verantwortungsbereite, die Selbstlose, die Kompromisslose, Liebende, Radikale. Eben die Gisi, wie sie ersteht aus den Schilderungen derer, mit denen Erich Hackl gesprochen hat: der Eltern; der Schwestern Heidi, einer vom Glanz der Jüngeren beschädigte durchschnittliche Frau, und Mónica, die ihre ältere Schwester stets im Herzen trägt; der Freunde, denen nur verehrende Erinnerung an Gisi übrigbleibt. Aber lieber soll der Leser sich sein Bild selbst machen, verstehen aus diesem heißherzigen Buch, warum eine kluge hübsche Frau sich von der Guerrilla auch nicht lossagt, als ihre Zellen und Ziele auseinandergefallen sind. Denn Gisela Tenenbaum war frei in ihren Entscheidungen. Erich Hackl weiß und respektiert das. Gisi ist keine reine Opferfigur mehr; sie handelt, nicht selten auch rücksichtslos, ein Engel, der auch schrecklich sein kann.

Kurz vor dem Ende nimmt sich der Erzähler seiner Heldin gegenüber das "Du" heraus, macht sich zum Zeugen der beinahe letzten Begegnung von Gisi mit ihrer kleinen Schwester Mónica: "Ihr seid lang herumgestreunt, Seite an Seite. Aber du hast ihr nichts mehr mitgeteilt. Nichts Persönliches, nichts, das nur ihr gegolten hätte. Da hast du schon den Soldaten in dir getragen, behauptet sie. Schlimmer, du hattest dich in einen verwandelt. Du warst nicht mehr Gisela Tenenbaum." Was heißt das, fast am Ende?

Seit Jahren schreibt Hackl in einer Form der zweiten Zukunft, einem lapidaren Ton des Es-wird-gewesen-sein. Er überspringt eine Gegenwart, deren Ausdehnung unmessbar ist und in der ein Mensch verschwunden ist, den er nicht aufgeben will. Deshalb füllt er das Loch dieser Gegenwart mit Erinnerungen und Tatsachen, mit Erwägungen und Wünschen. Sein Erzählen ist, im Kern, filmisch: Schnitt und Gegenschnitt, Zeitsprung, Perspektivenwechsel. Er erzählt gegen die Angst in der Dunkelheit, ohne arrogante Deutungshoheit.

Erich Hackls Insistieren hat also viel mit Demut zu tun, aber auch mit der Aufsässigkeit desjenigen, der sich nicht dreinschickt. Vielleicht ist es ein leises Zeichen der Resignation, dass er dieses jüngste Buch unter das Vorzeichen des Märchens stellt. Am Schluss jedoch bleibt wieder nur die Wirklichkeit. "Und immer wieder sag' ich mir, das war ihr Weg. Das ist kein Trost, aber." Es ist nicht sicher, wer hier spricht: die Mutter oder der Erzähler.

"Als ob ein Engel" ist Erich Hackls schwierigstes, sein schönstes, vielleicht sein bestes Buch.

Erich Hackl: "Als ob ein Engel". Erzählung nach dem Leben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 160 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2008

Im politischen Kampf ist das Leben kein Fragment
„Als ob ein Engel”: Erich Hackl rekonstruiert in seiner „Erzählung nach dem Leben” das Schicksal einer argentinischen Untergrundkämpferin
Am 10. Februar 1976, es ist der fünfundzwanzigste Hochzeitstag ihrer Eltern, kommt Gisela Tenenbaum für einen kurzen Besuch in ihr Elternhaus zurück. Sie sagt kaum mehr als einen Satz: „Mami, es ist soweit, ich muss untertauchen.” Unendlich langsam habe sich die Mutter die Hände an der Schürze abgewischt, erinnert sich ihre ältere Schwester Heidi, dann seien alle drei ein paar Sekunden dagestanden wie erstarrt. Heute Abend sei doch die Feier, habe die Mutter noch gesagt, worauf Gisela lächelnd um Verständnis gebeten habe: „der Befehl lautet: sofort”. Die geplante Familienfeier fiel aus. Lange Zeit durfte man die Eltern nicht auf ihren Hochzeitstag ansprechen.
Erich Hackl erzählt die Lebensgeschichte von Gisela Tenenbaum, die am 4. Februar 1955 geboren wurde und am 8. April 1977 verschwand. Sie ist eine von mehreren zehntausend Menschen, die während der Militärdiktatur in Argentinien spurlos verschwunden sind. „Desaparecidos” nennt man sie. Das klingt euphemistisch. Aber wie sonst sollte man diejenigen bezeichnen, von denen man nicht weiß, ob sie leben oder tot sind, auch wenn man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von letzterem ausgehen muss?
Gisela Tenenbaum muss eine außergewöhnliche junge Frau gewesen sein. Erich Hackl hat mit Freunden und Angehörigen Gespräche geführt, die er in einem unprätentiösen Parlando zu einer vielstimmigen Erzählung zusammenführt. So facettenreich das dabei entstehende Bild ist, sind es doch immer wieder ähnliche Attribute, die der groß gewachsenen, zugleich kräftig und sanft wirkenden blonden Frau zugeschrieben werden. Alle betonen die eigentümliche Mischung von hoher Intelligenz und ausgeprägter Empathie. Sie muss überaus kameradschaftlich und bescheiden gewesen sein, zugleich aber auch strebsam und diszipliniert. Wenn die Eltern ihre drei Töchter abends alleine lassen mussten, war es die Mittlere, die ihre beiden Schwestern tröstete. Schon immer habe sie „diese fixe Vorstellung” gehabt, „die andern zu retten”, sagt Heidi, die Psychologin geworden ist.
Heidi und ihr Mann, ein Autohändler, der redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, sind die einzigen, die manchmal ungehalten werden. Es gehört zu der unauffälligen Raffinesse der semi-dokumentarischen Erzählweise von Erich Hackl, dass die Sprechweise der Interviewten stets mitschwingt. Die Gesprächspartner charakterisieren nicht nur Gisela Tenenbaum, sondern auch sich selbst. Während Heidi einen psychologischen Begriff verwendet, um das Verhalten ihrer Schwester zu erläutern, „Erlösersyndrom”, spricht Mónica, das Nesthäkchen, von der „Wonne”, die für sie die liebevolle Zuwendung der fünf Jahre Älteren bedeutet habe. „Gisi war, sagt sie, vieles in einem: Gefährtin, Freundin, Ratgeber, Vorbild.”
Haltung statt Meinung
Alle Freunde und die wenigen politischen Weggefährten, die der „Triple A”, der Todesschwadron des Regimes, entkommen sind, berichten, welchen Eindruck die Familie Tenenbaum auf sie gemacht habe. Die Tenenbaums waren das Inbild einer harmonischen Familie, in der nicht gestritten wurde. Gisela Tenenbaum studierte seit 1974 Elektrotechnik an der Universidad Tecnológica, wo alles mit einem politischen Lektürezirkel begann. Es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, berichten Studiengenossen, geprägt von Freundschaft, Kreativität und politischen Diskussionen: „la vida no fragmentada”, das noch nicht in Bruchstücke zerschlagene Leben. Im August 1975 schloss sie sich den Montoneros an, der peronistischen Guerillabewegung, die, während sich die Gesellschaft weiter militarisierte, gleichfalls ihre Skrupel vor dem Einsatz von Gewalt verlor. Gisela selbst war wohl nie aktiv an gewalttätigen Aktionen beteiligt, aber ihr Lebensgefährte fuhr das Auto bei einem tödlichen Attentat. Alfredo Escámez wurde geschnappt und ermordet. Über ein Jahr lebte sie im Untergrund, zuletzt in einer konspirativen Wohnung, die am 8. April 1977 gestürmt wird. Ihre beiden Wohnungsgenossen werden getötet, von ihr fehlt jede Spur.
Der 1954 in Steyr geborene Österreicher Erich Hackl ist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die man mit Fug und Recht als politische Schriftsteller bezeichnen kann. Er verkündet keine Meinungen und wertet nicht, aber er zeigt Haltung: in der Art, wie er seinen Stoff und das historische Material arrangiert. Unangestrengt und doch pointiert erzählt er Einzelschicksale, die in ihrer Besonderheit gewürdigt werden und doch auch über sich selbst hinausweisen. „Als ob ein Engel” ist auf intelligente Weise berührend, ohne rührselig zu sein. Die „Erzählung nach dem Leben” wirft Fragen auf, die den Leser beunruhigen, gerade weil sie sich nicht beantworten lassen. Hätten Gisela Tenenbaums Eltern sie davon abhalten sollen, zu den Montoneros zu gehen? Aber wie hätten sie das tun sollen, wo sie doch an die gleichen Ideale glaubten und den Gerechtigkeitssinn ihrer Tochter ebenso schätzten wie ihr Mitgefühl? Wie bleibt man menschlich sensibel und politisch empfänglich, ohne militant zu werden?
In der Familie Tenenbaum war nach dem Verschwinden Giselas nichts mehr wie zuvor, „immer hat wer gefehlt, immer ist die Freude gedämpft”. Der Titel des Buches zielt nicht nur auf das Wesen der Porträtierten, sondern auch auf den prekären Seinsstatus von Verschwundenen. „Als wäre sie weder tot noch lebendig, sondern würde, eine Art Engel, zwischen Himmel und Erde herumflattern.”MEIKE FESSMANN
ERICH HACKL: Als ob ein Engel. Erzählung nach dem Leben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 170 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Meike Fessmann ist Erich Hackl einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, der ohne in platte Meinungsliteratur zu verfallen, schon durch seine Erzählweise eine politische Haltung einnimmt. Hackl erzählt die Biografie der argentinischen Oppositionellen Gisela Tenenbaum, die wie zehntausende andere Menschen während der Militärdiktatur spurlos verschwand, in Romanform, auf Grundlage seiner Gespräche mit Familienmitgliedern, Freunden und Mitgliedern der Montaneros, der Widerstandsgruppe, der sich Tenenbaum als Studentin angeschlossen hatte, erklärt die Rezensentin. Daraus ergebe sich das Bild einer klugen, leidenschaftlich für Gerechtigkeit kämpfenden Frau, deren Schicksal erschüttere, ohne dass Hackl sentimental werde, wie Fessmann lobt. Und dass am Ende Fragen offen bleiben, macht die beunruhigende Nachwirkung der Lektüre aus, stellt die Rezensentin eingenommen fest.

© Perlentaucher Medien GmbH