Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Ein Engel, der auch schrecklich sein kann
Erich Hackl erzählt nach dem Leben / Von Rose-Maria Gropp
Das ist der erste Satz: "Ich wollte, die Geschichte endete wie im Märchen." Der Erzähler tritt in diese Geschichte mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular ein - eine dramatische Stellungnahme. Das Ende des Märchens hieße: "Da ging die Tür auf, und die Tochter trat ein mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme. Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küsste sie: Es war nicht anders, sie mussten alle vor Freude weinen."
Gisela Tenenbaums Verschwinden datiert von einem Karfreitag, dem 8. April 1977. Sie war ein Mitglied der linksgerichteten "Monteneros" in Argentinien. Schon seit zwei Jahren lebte sie im Untergrund, damals mit zwei Freunden in einer kleinen Wohnung in Mendoza. Die Militärs spürten sie dort auf. Ana María Moral wird auf der Flucht an der Schwelle einer Kirche von einem Schuss in den Rücken getroffen; der Pfarrer schließt nicht das Tor, sondern überlässt sie ihren Verfolgern. Sie wird abtransportiert und stirbt noch am selben Tag. José Galamba kann zunächst entkommen; er wird aber 1978 verschleppt und taucht nie wieder auf. Gisela Tenenbaums Schicksal ist bis heute ungeklärt. Sie ist jener Engel in dieser jüngsten Erzählung Erich Hackls. Ihre Wurzeln gründen tief in Europa.
Im Juni 1930 wurde Helga Markstein in Wien geboren. Die Marksteins sind Juden; Helgas Vater Rudolf ist Sozialist und arbeitet in einer Buchhandlung. Dank eines Verwandten in Buenos Aires kann die Familie 1939 aus dem Deutschen Reich nach La Paz in Bolivien ausreisen. Helga beginnt dort mit zwölf Jahren eine Lehre als Hutmacherin, besucht abends Kurse in Buchhaltung. Willi Tenenbaum lebte schon seit 1938 in Buenos Aires. Er ist in Wiens 16. Bezirk Ottakring ohne Vater aufgewachsen und hat mit seiner Mutter fliehen können. Willi, der Bautechniker ist, und Helga lernen sich in Buenos Aires kennen; sie heiraten 1951.
Zutiefst geprägt von pazifistischem, liberalem Denken und beseelt von dem Wunsch zu helfen, arbeiten sie sich hoch, bis sie 1958 zum Medizinstudium zugelassen werden. Schon im Juni 1953 war ihre erste Tochter Heidi zur Welt gekommen, benannt nach Johanna Spyris Romanfigur. Im Dezember 1954 legen die jungen Eltern ihre ersten Prüfungen ab; am 4. Februar 1955 wird Gisela geboren, im Juni 1960 dann Mónica, die jüngste Tochter. Helga und Willi werden gute Ärzte. Ihre Töchter wachsen in einer Atmosphäre auf, die, so lehrt es uns Hackls "Erzählung nach dem Leben", vom Geist der Anerkennung, der Freiheit und ihrer Spielregeln und von grundlegendem Vertrauen geprägt ist.
Am Ostersonntag 1977 wartet Helga vergeblich auf ihre Tochter, für eines jener gefährlichen heimlichen Treffen, seit "Gisi" abgetaucht ist mit den Monteneros. "Heute", schreibt Hackl, "ist Helga davon überzeugt, dass Gisi den Militärs schon am 8. April, beim Treffen ihrer Gruppe, spätestens Anfang Mai in die Hände gefallen ist. Damals aber lebte in ihr und in Willi die Hoffnung auf ein Wiedersehen."
Wer aber war Gisi? Oder wer ist Gisi, falls sie, heute eine Frau von zweiundfünfzig Jahren, doch noch irgendwo lebt, vielleicht in Kuba, vielleicht in Europa? Um sie kristallisiert sich Hackls Methode der vielstimmigen Annäherung, die schon seine früheren Bücher kennzeichnet. Wieder hat er eine dieser in jedem Sinne unerhörten Geschichten aufgespürt, für deren Niederschrift er bekannt geworden ist. Noch unglaublicher ist vielleicht, dass sie sich immer diesem einen Autor öffnen. Mag sein, dass ihm inzwischen solche Biographien vertrauensvoll in die Hände gelegt werden; denn er wird nicht leichthändig damit verfahren, er wird ihre sorgsame Erforschung mit seiner eigenen Lebenszeit aufwiegen.
Mit der Suche nach Gisi hat Hackls Kunst der Rekonstruktion, die im Dokumentieren verankert ist, eine höhere literarische Stufe erklommen. Wie er in diesem Buch aus dem Gewirr der Stimmen die Silhouette zunächst des kleinen Mädchens, dann der Heranwachsenden herausschält und schließlich der jungen Frau, die weiß, was sie tut, und die unterlässt, was sie zu ihrer eigenen Rettung tun könnte, oder wenigstens mit Rücksicht auf die, von denen sie geliebt wird; einer Frau, die ihre Hochbegabung einem sinn- und aussichtslos gewordenen Kampf opfert - das alles ist hohe Erzählkunst.
Es ließe sich hier ein Raster dieser Recherche wiedergeben: Gisi, die früh Verantwortungsbereite, die Selbstlose, die Kompromisslose, Liebende, Radikale. Eben die Gisi, wie sie ersteht aus den Schilderungen derer, mit denen Erich Hackl gesprochen hat: der Eltern; der Schwestern Heidi, einer vom Glanz der Jüngeren beschädigte durchschnittliche Frau, und Mónica, die ihre ältere Schwester stets im Herzen trägt; der Freunde, denen nur verehrende Erinnerung an Gisi übrigbleibt. Aber lieber soll der Leser sich sein Bild selbst machen, verstehen aus diesem heißherzigen Buch, warum eine kluge hübsche Frau sich von der Guerrilla auch nicht lossagt, als ihre Zellen und Ziele auseinandergefallen sind. Denn Gisela Tenenbaum war frei in ihren Entscheidungen. Erich Hackl weiß und respektiert das. Gisi ist keine reine Opferfigur mehr; sie handelt, nicht selten auch rücksichtslos, ein Engel, der auch schrecklich sein kann.
Kurz vor dem Ende nimmt sich der Erzähler seiner Heldin gegenüber das "Du" heraus, macht sich zum Zeugen der beinahe letzten Begegnung von Gisi mit ihrer kleinen Schwester Mónica: "Ihr seid lang herumgestreunt, Seite an Seite. Aber du hast ihr nichts mehr mitgeteilt. Nichts Persönliches, nichts, das nur ihr gegolten hätte. Da hast du schon den Soldaten in dir getragen, behauptet sie. Schlimmer, du hattest dich in einen verwandelt. Du warst nicht mehr Gisela Tenenbaum." Was heißt das, fast am Ende?
Seit Jahren schreibt Hackl in einer Form der zweiten Zukunft, einem lapidaren Ton des Es-wird-gewesen-sein. Er überspringt eine Gegenwart, deren Ausdehnung unmessbar ist und in der ein Mensch verschwunden ist, den er nicht aufgeben will. Deshalb füllt er das Loch dieser Gegenwart mit Erinnerungen und Tatsachen, mit Erwägungen und Wünschen. Sein Erzählen ist, im Kern, filmisch: Schnitt und Gegenschnitt, Zeitsprung, Perspektivenwechsel. Er erzählt gegen die Angst in der Dunkelheit, ohne arrogante Deutungshoheit.
Erich Hackls Insistieren hat also viel mit Demut zu tun, aber auch mit der Aufsässigkeit desjenigen, der sich nicht dreinschickt. Vielleicht ist es ein leises Zeichen der Resignation, dass er dieses jüngste Buch unter das Vorzeichen des Märchens stellt. Am Schluss jedoch bleibt wieder nur die Wirklichkeit. "Und immer wieder sag' ich mir, das war ihr Weg. Das ist kein Trost, aber." Es ist nicht sicher, wer hier spricht: die Mutter oder der Erzähler.
"Als ob ein Engel" ist Erich Hackls schwierigstes, sein schönstes, vielleicht sein bestes Buch.
Erich Hackl: "Als ob ein Engel". Erzählung nach dem Leben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erich Hackl erzählt nach dem Leben / Von Rose-Maria Gropp
Das ist der erste Satz: "Ich wollte, die Geschichte endete wie im Märchen." Der Erzähler tritt in diese Geschichte mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular ein - eine dramatische Stellungnahme. Das Ende des Märchens hieße: "Da ging die Tür auf, und die Tochter trat ein mit ihren goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel käme. Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küsste sie: Es war nicht anders, sie mussten alle vor Freude weinen."
Gisela Tenenbaums Verschwinden datiert von einem Karfreitag, dem 8. April 1977. Sie war ein Mitglied der linksgerichteten "Monteneros" in Argentinien. Schon seit zwei Jahren lebte sie im Untergrund, damals mit zwei Freunden in einer kleinen Wohnung in Mendoza. Die Militärs spürten sie dort auf. Ana María Moral wird auf der Flucht an der Schwelle einer Kirche von einem Schuss in den Rücken getroffen; der Pfarrer schließt nicht das Tor, sondern überlässt sie ihren Verfolgern. Sie wird abtransportiert und stirbt noch am selben Tag. José Galamba kann zunächst entkommen; er wird aber 1978 verschleppt und taucht nie wieder auf. Gisela Tenenbaums Schicksal ist bis heute ungeklärt. Sie ist jener Engel in dieser jüngsten Erzählung Erich Hackls. Ihre Wurzeln gründen tief in Europa.
Im Juni 1930 wurde Helga Markstein in Wien geboren. Die Marksteins sind Juden; Helgas Vater Rudolf ist Sozialist und arbeitet in einer Buchhandlung. Dank eines Verwandten in Buenos Aires kann die Familie 1939 aus dem Deutschen Reich nach La Paz in Bolivien ausreisen. Helga beginnt dort mit zwölf Jahren eine Lehre als Hutmacherin, besucht abends Kurse in Buchhaltung. Willi Tenenbaum lebte schon seit 1938 in Buenos Aires. Er ist in Wiens 16. Bezirk Ottakring ohne Vater aufgewachsen und hat mit seiner Mutter fliehen können. Willi, der Bautechniker ist, und Helga lernen sich in Buenos Aires kennen; sie heiraten 1951.
Zutiefst geprägt von pazifistischem, liberalem Denken und beseelt von dem Wunsch zu helfen, arbeiten sie sich hoch, bis sie 1958 zum Medizinstudium zugelassen werden. Schon im Juni 1953 war ihre erste Tochter Heidi zur Welt gekommen, benannt nach Johanna Spyris Romanfigur. Im Dezember 1954 legen die jungen Eltern ihre ersten Prüfungen ab; am 4. Februar 1955 wird Gisela geboren, im Juni 1960 dann Mónica, die jüngste Tochter. Helga und Willi werden gute Ärzte. Ihre Töchter wachsen in einer Atmosphäre auf, die, so lehrt es uns Hackls "Erzählung nach dem Leben", vom Geist der Anerkennung, der Freiheit und ihrer Spielregeln und von grundlegendem Vertrauen geprägt ist.
Am Ostersonntag 1977 wartet Helga vergeblich auf ihre Tochter, für eines jener gefährlichen heimlichen Treffen, seit "Gisi" abgetaucht ist mit den Monteneros. "Heute", schreibt Hackl, "ist Helga davon überzeugt, dass Gisi den Militärs schon am 8. April, beim Treffen ihrer Gruppe, spätestens Anfang Mai in die Hände gefallen ist. Damals aber lebte in ihr und in Willi die Hoffnung auf ein Wiedersehen."
Wer aber war Gisi? Oder wer ist Gisi, falls sie, heute eine Frau von zweiundfünfzig Jahren, doch noch irgendwo lebt, vielleicht in Kuba, vielleicht in Europa? Um sie kristallisiert sich Hackls Methode der vielstimmigen Annäherung, die schon seine früheren Bücher kennzeichnet. Wieder hat er eine dieser in jedem Sinne unerhörten Geschichten aufgespürt, für deren Niederschrift er bekannt geworden ist. Noch unglaublicher ist vielleicht, dass sie sich immer diesem einen Autor öffnen. Mag sein, dass ihm inzwischen solche Biographien vertrauensvoll in die Hände gelegt werden; denn er wird nicht leichthändig damit verfahren, er wird ihre sorgsame Erforschung mit seiner eigenen Lebenszeit aufwiegen.
Mit der Suche nach Gisi hat Hackls Kunst der Rekonstruktion, die im Dokumentieren verankert ist, eine höhere literarische Stufe erklommen. Wie er in diesem Buch aus dem Gewirr der Stimmen die Silhouette zunächst des kleinen Mädchens, dann der Heranwachsenden herausschält und schließlich der jungen Frau, die weiß, was sie tut, und die unterlässt, was sie zu ihrer eigenen Rettung tun könnte, oder wenigstens mit Rücksicht auf die, von denen sie geliebt wird; einer Frau, die ihre Hochbegabung einem sinn- und aussichtslos gewordenen Kampf opfert - das alles ist hohe Erzählkunst.
Es ließe sich hier ein Raster dieser Recherche wiedergeben: Gisi, die früh Verantwortungsbereite, die Selbstlose, die Kompromisslose, Liebende, Radikale. Eben die Gisi, wie sie ersteht aus den Schilderungen derer, mit denen Erich Hackl gesprochen hat: der Eltern; der Schwestern Heidi, einer vom Glanz der Jüngeren beschädigte durchschnittliche Frau, und Mónica, die ihre ältere Schwester stets im Herzen trägt; der Freunde, denen nur verehrende Erinnerung an Gisi übrigbleibt. Aber lieber soll der Leser sich sein Bild selbst machen, verstehen aus diesem heißherzigen Buch, warum eine kluge hübsche Frau sich von der Guerrilla auch nicht lossagt, als ihre Zellen und Ziele auseinandergefallen sind. Denn Gisela Tenenbaum war frei in ihren Entscheidungen. Erich Hackl weiß und respektiert das. Gisi ist keine reine Opferfigur mehr; sie handelt, nicht selten auch rücksichtslos, ein Engel, der auch schrecklich sein kann.
Kurz vor dem Ende nimmt sich der Erzähler seiner Heldin gegenüber das "Du" heraus, macht sich zum Zeugen der beinahe letzten Begegnung von Gisi mit ihrer kleinen Schwester Mónica: "Ihr seid lang herumgestreunt, Seite an Seite. Aber du hast ihr nichts mehr mitgeteilt. Nichts Persönliches, nichts, das nur ihr gegolten hätte. Da hast du schon den Soldaten in dir getragen, behauptet sie. Schlimmer, du hattest dich in einen verwandelt. Du warst nicht mehr Gisela Tenenbaum." Was heißt das, fast am Ende?
Seit Jahren schreibt Hackl in einer Form der zweiten Zukunft, einem lapidaren Ton des Es-wird-gewesen-sein. Er überspringt eine Gegenwart, deren Ausdehnung unmessbar ist und in der ein Mensch verschwunden ist, den er nicht aufgeben will. Deshalb füllt er das Loch dieser Gegenwart mit Erinnerungen und Tatsachen, mit Erwägungen und Wünschen. Sein Erzählen ist, im Kern, filmisch: Schnitt und Gegenschnitt, Zeitsprung, Perspektivenwechsel. Er erzählt gegen die Angst in der Dunkelheit, ohne arrogante Deutungshoheit.
Erich Hackls Insistieren hat also viel mit Demut zu tun, aber auch mit der Aufsässigkeit desjenigen, der sich nicht dreinschickt. Vielleicht ist es ein leises Zeichen der Resignation, dass er dieses jüngste Buch unter das Vorzeichen des Märchens stellt. Am Schluss jedoch bleibt wieder nur die Wirklichkeit. "Und immer wieder sag' ich mir, das war ihr Weg. Das ist kein Trost, aber." Es ist nicht sicher, wer hier spricht: die Mutter oder der Erzähler.
"Als ob ein Engel" ist Erich Hackls schwierigstes, sein schönstes, vielleicht sein bestes Buch.
Erich Hackl: "Als ob ein Engel". Erzählung nach dem Leben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Meike Fessmann ist Erich Hackl einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, der ohne in platte Meinungsliteratur zu verfallen, schon durch seine Erzählweise eine politische Haltung einnimmt. Hackl erzählt die Biografie der argentinischen Oppositionellen Gisela Tenenbaum, die wie zehntausende andere Menschen während der Militärdiktatur spurlos verschwand, in Romanform, auf Grundlage seiner Gespräche mit Familienmitgliedern, Freunden und Mitgliedern der Montaneros, der Widerstandsgruppe, der sich Tenenbaum als Studentin angeschlossen hatte, erklärt die Rezensentin. Daraus ergebe sich das Bild einer klugen, leidenschaftlich für Gerechtigkeit kämpfenden Frau, deren Schicksal erschüttere, ohne dass Hackl sentimental werde, wie Fessmann lobt. Und dass am Ende Fragen offen bleiben, macht die beunruhigende Nachwirkung der Lektüre aus, stellt die Rezensentin eingenommen fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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