Bukarest, Ende der achtziger Jahre. Der unbeschwerte Sommer, den die Familie am Schwarzen Meer verbracht hat, ist vorbei. Mit dem Herbst und der Rückkehr in die Großstadt ziehen auch die Sorgen des sozialistischen Alltags wieder ein. Die junge Erzählerin berichtet von der Welt der Erwachsenen, den feinen Rissen, die sie durchziehen, und der Frage, die über allem schwebt: Gehen oder bleiben? Sollen wir die Heimat verlassen und in eine Fremde reisen,
die ein freies und unbeschwertes Leben verspricht? Die Mutter droht am nahenden Exil zu zerbrechen, und keiner ahnt, warum. Allein das Mädchen, die eigene Tochter, sieht mehr, bemerkt die kurzen, aber ungehaltenen Berührungen
einerseits und warmen Blicke andererseits, es wird zum stillen Zeugen einer Liebschaft zwischen ihrer Mutter und einem anderen Mann.
In direkter, unmittelbarer Sprache erzählt Ilinca Florian von einer Gesellschaft im Umbruch. Eine Geschichte voller heiterer Momente, dank einer kindlichen Erzählerin, die genau hinschaut, wo erwachsene Augen sich abwenden.
die ein freies und unbeschwertes Leben verspricht? Die Mutter droht am nahenden Exil zu zerbrechen, und keiner ahnt, warum. Allein das Mädchen, die eigene Tochter, sieht mehr, bemerkt die kurzen, aber ungehaltenen Berührungen
einerseits und warmen Blicke andererseits, es wird zum stillen Zeugen einer Liebschaft zwischen ihrer Mutter und einem anderen Mann.
In direkter, unmittelbarer Sprache erzählt Ilinca Florian von einer Gesellschaft im Umbruch. Eine Geschichte voller heiterer Momente, dank einer kindlichen Erzählerin, die genau hinschaut, wo erwachsene Augen sich abwenden.
buecher-magazin.deDer Debütroman von Ilinca Florian sieht von außen aus wie ein Swimmingpool. Knallblau, mit gelben und pinken Farbakzenten verspricht er Urlaub und Unbeschwertheit. Und tatsächlich beginnt die Geschichte, die aus der Perspektive eines kleinen Mädchens erzählt wird, federleicht, mit einem Familienurlaub am Schwarzen Meer, Ende der 1980er-Jahre. Mit Wassermelonen, Küken im Garten und Baden im Meer. Man taucht als Leser sofort ein in eine pralle Welt, die zwar viele Glücksmomente bereithält und dennoch alles andere, als eine Idylle ist. Das wird deutlich, als die Familie nach den Sommerferien wieder zurück nach Bukarest kommt. Ceauescus Regime beschwert den Alltag der vierköpfigen Familie. An manchen Tagen kann nicht geheizt werden, an anderen darf man nicht Autofahren. Der Vater arbeitet verbissen an einem Architekturwettbewerb, um nach Deutschland auswandern zu können, die Mutter, die sich allein gelassen fühlt, verliert sich in einer Affäre mit seinem Bruder. Das kleine Mädchen ist viel allein und führt gespielte Telefongespräche mit ihrer imaginären und erwachsenen Freundin Anca. Das Schönste an diesem Roman ist seine Hauptfigur, die wach, fantasievoll und widerspenstig sehr viel sieht. Vielleicht mehr als Erwachsenenaugen je sehen könnten.
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2018Splitterspiele
Ilinca Florians Debüt „Als wir das Lügen lernten“
In diesem Buch erzählt ein 5- oder 6-jähriges Mädchen, ohne dass es mädchenhaft klingt. Und das ist längst nicht der einzige irritierende Effekt in Ilinca Florians Romandebüt. Es geht um die letzten Monate der Regentschaft Ceaucescus im sozialistischen Rumänien. In der Perspektive des jungen Mädchens erscheinen die Geschehnisse scharf umrissen. Aber gleichzeitig wirkt alles so fremdartig und undurchschaubar, wie es wohl auch wirklich war.
Die 6-Jährige ist namenlos, wie auch die anderen zentralen Personen dieses Romans. Die Geschichte bekommt so einen Charakter, der über das bloß Private hinausweist – obwohl die Einzelheiten unverwechselbar in Großaufnahme zu sehen sind. Das Kind spricht so, als ob ihm für seine Wahrnehmung bereits die ausdifferenzierte Sprache der Erwachsenen zur Verfügung stünde. Über die Erkenntnismöglichkeiten ihres Alters geht die Ich-Erzählerin jedoch nie hinaus und bekommt so etwas Unbestechliches. Der Titel „Als wir das Lügen lernten“ erklärt erst im Rückblick, worum es hier geht.
Der Beginn des Romans, im Sommer am Schwarzen Meer zeigt die Kindheit in ihrer reinsten Form: die lustvoll-grausamen Spiele mit dem Cousin, der die Erzählerin im Wasser unter die Oberfläche drückt und mit dem sie im Maisfeld herumtollt, die einfachen Verhältnisse in ihrer Unterkunft, einem „Gutshof“ mit „türkischen Toiletten“. Der Blick des Mädchens lässt keinen Ansatz von Romantik oder Überhöhung zu: das Essen im Freien neben dem Brunnen, das Zubereiten von Fisch, von Auberginen und Kartoffeln, mit viel Knoblauch. Ab und zu tritt aber etwas Verborgenes hervor – eine männliche Stimme zum Beispiel, mit der die Mutter kurz und heftig flüstert und wovon nur die Wortfetzen „nach dem Frühstück“ hängen bleiben. Es entsteht eine ungewisse Dynamik in den Beziehungen zwischen den beiden Familien, die gemeinsam Urlaub machen, die beiden Väter sind Brüder. Die Mutter schwimmt als einzige weit hinaus und scheint erst dadurch so richtig bei sich selbst zu sein. In der Ferne auf dem Meer sieht man ein unerreichbares Schiffswrack, wie ein Zeichen, das darauf wartet, entziffert zu werden.
Das Mädchen hat eine unwillkürliche Lebenslust, es saugt neue Erfahrungen begierig auf und beobachtet alles äußerst intensiv. Es liegt eine unbestimmte Bedrohung über der Szene, ein Ausgeliefertsein an Umstände, die man nicht genau fassen kann. Nach dem Urlaub gibt es in Bukarest eine Art von Blinde-Kuh-Spiel: das Mädchen soll etwas schlucken und erkennen, um was es sich handelt. Dass es eine Christbaumkugel ist, bemerkt sie zu spät. „Splitterspiele“ heißt die Überschrift dieses wie alle anderen eher kurzen Kapitels, und diese „Splitter“ transportieren unaufdringlich etwas Metaphorisches.
Politische Spannungen zeigen sich nicht nur, wenn es im Winter wieder kein Gas für die Heizung gibt, sondern auch in den Verhaltensweisen innerhalb der Familie. Die Mutter ist nicht damit einverstanden, dass der Vater bei einem Architektur-Wettbewerb mitmacht und dabei hofft, mit der Familie nach Deutschland ausreisen zu können. Die gespenstische Alltagsatmosphäre im Haus wird einmal auch dadurch deutlich, dass das Mädchen nur den Vater einer benachbarten Freundin antrifft und dieser vermeintlich spielerisch versucht, sie ärztlich zu „untersuchen“. Nur indirekt wird klar, dass dieser schnurrbärtige Mann in Zusammenhang mit der Securitate steht, dem Unterdrückungs-Dienst des Staates. Aber auch der fanatisch in seine Skizzen vertiefte Vater der Erzählerin wirkt nicht wie ein Sympathieträger. Und durch ein feines Netz von neugierig registrierten Momenten entsteht der Eindruck einer geheimen Beziehung zwischen der unzugänglich-attraktiven Mutter und dem Onkel. Nichts wird direkt ausgesprochen. Die Beobachtungen der Ich-Erzählerin verdichten ein Bild, das für sie selbst unklar bleibt.
Körperlichkeit, Alltagsgerüche und –geschmäcker stehen im Vordergrund, das Mädchen nimmt sie immer wieder von neuem wahr. Die einzelnen Kapitel ergeben zwar eine chronologische Reihenfolge, vom Sommer am Schwarzen Meer bis zur Ausreise im Winter, sind aber in sich geschlossen und handeln jeweils von einer ganz konkreten Begebenheit. Diese Autorin denkt sehr filmisch und setzt ihre Mittel hochbewusst ein. Die zugespitzte Sprache birgt in sich eine Mehrdeutigkeit, eine diffuse Stimmung mit vielen changierenden Grautönen, und das bleibt bis zum Schluss so, als die rumänische Familie in Stuttgart ankommt. Die Frau des Geschäftspartners empfängt sie in einem „sehr langen, violetten Pullover aus weicher Wolle“ und steht für die widersprüchlichen Empfindungen eines neuen Alltags. Ihre Tochter, das fremde, etwa gleichaltrige Mädchen wirkt schön, sieht aber eher aus „wie eine Puppe, nicht wie ein Mensch“. Ob das ein gutes Ende findet? Das Ende dieses Romans jedenfalls geht ganz konsequent aus dem Erzählen hervor.
HELMUT BÖTTIGER
Ilinca Florian: Als wir das Lügen lernten. Roman. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2018. 187 S., 20 Euro.
Dem Sommer am Schwarzen
Meer folgt die Ausreise
nach Deutschland im Winter
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Ilinca Florians Debüt „Als wir das Lügen lernten“
In diesem Buch erzählt ein 5- oder 6-jähriges Mädchen, ohne dass es mädchenhaft klingt. Und das ist längst nicht der einzige irritierende Effekt in Ilinca Florians Romandebüt. Es geht um die letzten Monate der Regentschaft Ceaucescus im sozialistischen Rumänien. In der Perspektive des jungen Mädchens erscheinen die Geschehnisse scharf umrissen. Aber gleichzeitig wirkt alles so fremdartig und undurchschaubar, wie es wohl auch wirklich war.
Die 6-Jährige ist namenlos, wie auch die anderen zentralen Personen dieses Romans. Die Geschichte bekommt so einen Charakter, der über das bloß Private hinausweist – obwohl die Einzelheiten unverwechselbar in Großaufnahme zu sehen sind. Das Kind spricht so, als ob ihm für seine Wahrnehmung bereits die ausdifferenzierte Sprache der Erwachsenen zur Verfügung stünde. Über die Erkenntnismöglichkeiten ihres Alters geht die Ich-Erzählerin jedoch nie hinaus und bekommt so etwas Unbestechliches. Der Titel „Als wir das Lügen lernten“ erklärt erst im Rückblick, worum es hier geht.
Der Beginn des Romans, im Sommer am Schwarzen Meer zeigt die Kindheit in ihrer reinsten Form: die lustvoll-grausamen Spiele mit dem Cousin, der die Erzählerin im Wasser unter die Oberfläche drückt und mit dem sie im Maisfeld herumtollt, die einfachen Verhältnisse in ihrer Unterkunft, einem „Gutshof“ mit „türkischen Toiletten“. Der Blick des Mädchens lässt keinen Ansatz von Romantik oder Überhöhung zu: das Essen im Freien neben dem Brunnen, das Zubereiten von Fisch, von Auberginen und Kartoffeln, mit viel Knoblauch. Ab und zu tritt aber etwas Verborgenes hervor – eine männliche Stimme zum Beispiel, mit der die Mutter kurz und heftig flüstert und wovon nur die Wortfetzen „nach dem Frühstück“ hängen bleiben. Es entsteht eine ungewisse Dynamik in den Beziehungen zwischen den beiden Familien, die gemeinsam Urlaub machen, die beiden Väter sind Brüder. Die Mutter schwimmt als einzige weit hinaus und scheint erst dadurch so richtig bei sich selbst zu sein. In der Ferne auf dem Meer sieht man ein unerreichbares Schiffswrack, wie ein Zeichen, das darauf wartet, entziffert zu werden.
Das Mädchen hat eine unwillkürliche Lebenslust, es saugt neue Erfahrungen begierig auf und beobachtet alles äußerst intensiv. Es liegt eine unbestimmte Bedrohung über der Szene, ein Ausgeliefertsein an Umstände, die man nicht genau fassen kann. Nach dem Urlaub gibt es in Bukarest eine Art von Blinde-Kuh-Spiel: das Mädchen soll etwas schlucken und erkennen, um was es sich handelt. Dass es eine Christbaumkugel ist, bemerkt sie zu spät. „Splitterspiele“ heißt die Überschrift dieses wie alle anderen eher kurzen Kapitels, und diese „Splitter“ transportieren unaufdringlich etwas Metaphorisches.
Politische Spannungen zeigen sich nicht nur, wenn es im Winter wieder kein Gas für die Heizung gibt, sondern auch in den Verhaltensweisen innerhalb der Familie. Die Mutter ist nicht damit einverstanden, dass der Vater bei einem Architektur-Wettbewerb mitmacht und dabei hofft, mit der Familie nach Deutschland ausreisen zu können. Die gespenstische Alltagsatmosphäre im Haus wird einmal auch dadurch deutlich, dass das Mädchen nur den Vater einer benachbarten Freundin antrifft und dieser vermeintlich spielerisch versucht, sie ärztlich zu „untersuchen“. Nur indirekt wird klar, dass dieser schnurrbärtige Mann in Zusammenhang mit der Securitate steht, dem Unterdrückungs-Dienst des Staates. Aber auch der fanatisch in seine Skizzen vertiefte Vater der Erzählerin wirkt nicht wie ein Sympathieträger. Und durch ein feines Netz von neugierig registrierten Momenten entsteht der Eindruck einer geheimen Beziehung zwischen der unzugänglich-attraktiven Mutter und dem Onkel. Nichts wird direkt ausgesprochen. Die Beobachtungen der Ich-Erzählerin verdichten ein Bild, das für sie selbst unklar bleibt.
Körperlichkeit, Alltagsgerüche und –geschmäcker stehen im Vordergrund, das Mädchen nimmt sie immer wieder von neuem wahr. Die einzelnen Kapitel ergeben zwar eine chronologische Reihenfolge, vom Sommer am Schwarzen Meer bis zur Ausreise im Winter, sind aber in sich geschlossen und handeln jeweils von einer ganz konkreten Begebenheit. Diese Autorin denkt sehr filmisch und setzt ihre Mittel hochbewusst ein. Die zugespitzte Sprache birgt in sich eine Mehrdeutigkeit, eine diffuse Stimmung mit vielen changierenden Grautönen, und das bleibt bis zum Schluss so, als die rumänische Familie in Stuttgart ankommt. Die Frau des Geschäftspartners empfängt sie in einem „sehr langen, violetten Pullover aus weicher Wolle“ und steht für die widersprüchlichen Empfindungen eines neuen Alltags. Ihre Tochter, das fremde, etwa gleichaltrige Mädchen wirkt schön, sieht aber eher aus „wie eine Puppe, nicht wie ein Mensch“. Ob das ein gutes Ende findet? Das Ende dieses Romans jedenfalls geht ganz konsequent aus dem Erzählen hervor.
HELMUT BÖTTIGER
Ilinca Florian: Als wir das Lügen lernten. Roman. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2018. 187 S., 20 Euro.
Dem Sommer am Schwarzen
Meer folgt die Ausreise
nach Deutschland im Winter
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"So zärtlich und dabei so bedrohlich ist noch nicht geschrieben worden über das Ende einer Kindheit. Unter jedem Satz lodert eine Lüge, während im Hintergrund Ceau escus Rumänien zerfällt. Ilinca Florians Debüt ist ein stiller Orkan." (Lucy Fricke)