Viele Wendepunkte der deutschen Zeitgeschichte sind eng mit Johano Strassers Leben verknüpft: Die 68er-Bewegung, die neue Ostpolitik, die Neuorientierung der Linken in der Kohl-Ära, die Frage nach dem linken Humanismus in den Schröder-Jahren. Als mutiger Denker, brillanter Schreiber und überzeugter Humanist verbindet er in seiner Autobiographie politische Analyse mit seiner bewegenden Lebensgeschichte und schildert Begegnungen mit Weggefährten wie Patrick Süskind, Willy Brandt, Günter Grass, Heinrich Böll, die eine ganze Epoche prägten. Die überzeugende Bilanz eines Mannes, der seine Fahne nie nach dem Wind hängte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Dietmar Süß schätzt Johano Strasser als eines der "eigentümlichsten Gewächse des sozialdemokratischen Biotops" und hat die Autobiografie des SPD-Intellektuellen offensichtlich mit Vergnügen gelesen. Dabei betont Süß, dass Strasser in seinem Rückblick auf sein politisches Leben nicht an Selbstkritik spart und Niederlagen wie Irrtümer bereitwillig einräumt. Trotzdem war und ist er in den Augen des Rezensenten ein "origineller" Denker, der am Ideal einer "humanistischen Linken" festhalte. Manchmal sind es Süß allerdings zu viele der politischen Bekenntnisse, und er hätte sich gewünscht, dass Strasser mehr seine "erzählerische Kraft" zum Tragen bringe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2018Mehr politische Streitschrift als Autobiographie
Die Erinnerungen des linken Querdenkers, Publizisten und Schriftstellers Johano Strasser
Schon viele Politiker schrieben ihre Erinnerungen. Otto von Bismarck etwa ließ seinen Ghostwriter so viele Änderungen einarbeiten, dass das Buch erst nach dem Tod des ersten Reichskanzlers erschien. Albert Speer gelang es mit seinen autobiographischen Schriften, die mit tatkräftiger Unterstützung durch Joachim C. Fest und Rudolf Augstein entstanden, seine Biographie weitgehend neu zu erfinden und vergessen zu machen, dass er während des Zweiten Weltkriegs zu den mächtigsten Führern des nationalsozialistischen Terrorregimes zählte und selbst wesentlich an dessen Verbrechen beteiligt war. Helmut Kohl, um einen dritten deutschen Politiker zu nennen, ließ seine Erinnerungen von einem Journalisten zu Papier bringen, bevor sich beide beim Erarbeiten des letzten Bandes entzweiten und sich öffentlich und juristisch bekriegten. So wenig vergleichbar die drei genannten Politiker mit Blick auf ihre politischen Überzeugungen und ihr Wirken und dessen Folgen sind, so weisen doch ihre Erinnerungen zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen entstanden sie in Zusammenarbeit mit Vertrauten oder wurden gar ganz von diesen verfasst. Zum anderen zielten die jeweiligen Memoiren darauf ab, die Person des (vermeintlichen) Autors in die Zeitläufe einzuordnen und das eigene Wirken so in das öffentliche Erinnern einzuschreiben, wie der Autor selbst gesehen werden wollte.
Von Letzterem ist bei der hier zu besprechenden Autobiographie des SPD-Politikers, Publizisten und Schriftstellers Johano Strasser wenig zu spüren. Der langjährige Juso-Spitzenfunktionär und spätere Vorsitzende von PEN Deutschland nutzt seine 2007 erstmals veröffentlichten und jetzt stark erweiterten Erinnerungen vor allem, um für seine heutigen politischen Überzeugungen zu werben, die der undogmatische linke Denker als linken Humanismus bezeichnet. Dabei setzt sich Strasser, Philosoph und Politologe, scharfsinniger Denker, versierter Schriftsteller und Publizist, offen mit Besonderheiten und Grenzen von autobiographischen Schriften und der Gefahr der retrospektiven Konstruktion einer gradlinigen biographischen Entwicklung auseinander. Immer wieder verweist Strasser auf seine Vergesslichkeit, entfaltet dann jedoch einzelne Erlebnisse geradezu mit schriftstellerischen Mitteln und bettet sie umgehend ein in eine analytisch scharfe Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um eine Brücke zu seinen Gegenwartsdiagnosen zu schlagen, wobei er auch selbstkritische Töne anklingen lässt.
Biographisch fortschreitend spannt Strasser den Bogen von seiner Kindheit bis zur Gegenwart. 1939 in Leeuwarden geboren, wuchs Strasser zunächst in den Niederlanden auf. Sein Vater war Österreicher, seine Mutter hatte holländische und französische Vorfahren. Beide waren überzeugte Pazifisten und Esperanto-Anhänger, weswegen sie ihren Kindern auch Vornamen in dieser Plansprache gaben. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die Familie Strasser im nördlichen Niedersachsen. Eine Ausbildung zum Dolmetscher führte Strasser in die Pfalz nach Germersheim. Dort begann Strasser, sich neue Horizonte zu eröffnen. Er selbst betitelt das entsprechende Kapitel seiner Autobiographie mit "Provinzler und Kosmopolit". Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete Strasser eineinhalb Jahre als Übersetzer bei den Kölner Ford-Werken, bevor er ab dem Sommersemester 1963 Philosophie an der Mainzer Universität studierte. Als Ausgleich zu Arbeit und Studium diente ihm die Leichtathletik, die ihn bei zahlreichen Wettkämpfen bis ins Ausland führte. Sportfunktionäre der Universität Mainz bedrängten Strasser, der die österreichische Staatsangehörigkeit besaß, erfolgreich, deutscher Staatsbürger zu werden, um für die Universität Mainz bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften antreten zu können. Während der Arbeit an seiner Promotion in Philosophie gab Strasser, inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter, Kurse in Leichtathletik und an der Volkshochschule, während seine (erste) Frau die finanzielle Grundsicherung der Familie übernahm. Strasser spricht im Rückblick von einer Art "Doppelexistenz" als deutscher "Kleinfamilie mit allen üblichen Zwängen und unvermeidlichen Spießigkeiten" und zugleich einem bohemehaften, provokativ antibürgerlichen Studentenleben, das sich einfügte in die kulturellen und gesellschaftlichen Umbrüche der sechziger Jahre. Seine weitere Politisierung, seinen Weg zu einem führenden Juso-Politiker und sein wissenschaftliches Wirken, das ihn immer stärker in Richtung Politikwissenschaft führte, beschreibt Strasser in prägnanten Miniaturen. Mit der Übernahme der Redaktion der politisch-literarischen Zeitschrift L'80 1980, die er zusammen mit Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern bis 1988 herausgab, begann ein neuer Lebensabschnitt Strassers. Öffentliche politische Interventionen von links, Mitarbeit in der Grundwertekommission der SPD und vielfältige Kontakte zu Bürgerrechtlern in der DDR, aber auch die Beteiligung an Gesprächen zwischen SPD und SED begleiteten Strassers schriftstellerisches Wirken in den achtziger Jahren. 1995 wurde Strasser zum Generalsekretär des westdeutschen PEN gewählt, gestaltete die Bildung eines gesamtdeutschen PEN mit und war von 2002 bis 2013 Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland. Als Publizist und undogmatischer linker Querdenker intervenierte er parallel dazu immer wieder öffentlich, mal bei Wahlkampfauftritten mit Günter Grass, mal als kritischer Mahner, der Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde einforderte, orthodoxe marxistische Linke wie Neoliberale angriff und für seine Auffassung von einem linken Humanismus warb.
Leider übergeht Strasser allzu viele Erlebnisse und Stationen seines vielfältigen Wirkens, um sich im Verlauf des Buches in immer länger werdenden Passagen mit zentralen gegenwärtigen Problemen auseinanderzusetzen und seine politischen Gegenentwürfe aufzureihen. So nachdenkenswert viele seiner Denkanstöße auch sind, so lassen sie doch das Buch zwischen Autobiographie und politischer Streitschrift changieren, ohne dass es dem einen oder anderen voll gerecht wird. Die sehr lesenswerten autobiographischen Miniaturen innerhalb des Buches machen aber sehr deutlich, dass es sich für künftige Zeithistoriker sehr lohnen würde, die Biographie Johano Strassers in ihren vielfältigen Verflechtungen mit der deutschen Geschichte nach 1945 wissenschaftlich aufzuarbeiten. Strassers Autobiographie nimmt einem solchen Projekt nicht zu viel voraus.
CHRISTOPHER DOWE.
Johano Strasser: Als wir noch Götter waren im Mai. Ein deutsches Leben.
Europa Verlag, Hamburg 2018. 464 S., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erinnerungen des linken Querdenkers, Publizisten und Schriftstellers Johano Strasser
Schon viele Politiker schrieben ihre Erinnerungen. Otto von Bismarck etwa ließ seinen Ghostwriter so viele Änderungen einarbeiten, dass das Buch erst nach dem Tod des ersten Reichskanzlers erschien. Albert Speer gelang es mit seinen autobiographischen Schriften, die mit tatkräftiger Unterstützung durch Joachim C. Fest und Rudolf Augstein entstanden, seine Biographie weitgehend neu zu erfinden und vergessen zu machen, dass er während des Zweiten Weltkriegs zu den mächtigsten Führern des nationalsozialistischen Terrorregimes zählte und selbst wesentlich an dessen Verbrechen beteiligt war. Helmut Kohl, um einen dritten deutschen Politiker zu nennen, ließ seine Erinnerungen von einem Journalisten zu Papier bringen, bevor sich beide beim Erarbeiten des letzten Bandes entzweiten und sich öffentlich und juristisch bekriegten. So wenig vergleichbar die drei genannten Politiker mit Blick auf ihre politischen Überzeugungen und ihr Wirken und dessen Folgen sind, so weisen doch ihre Erinnerungen zwei Gemeinsamkeiten auf. Zum einen entstanden sie in Zusammenarbeit mit Vertrauten oder wurden gar ganz von diesen verfasst. Zum anderen zielten die jeweiligen Memoiren darauf ab, die Person des (vermeintlichen) Autors in die Zeitläufe einzuordnen und das eigene Wirken so in das öffentliche Erinnern einzuschreiben, wie der Autor selbst gesehen werden wollte.
Von Letzterem ist bei der hier zu besprechenden Autobiographie des SPD-Politikers, Publizisten und Schriftstellers Johano Strasser wenig zu spüren. Der langjährige Juso-Spitzenfunktionär und spätere Vorsitzende von PEN Deutschland nutzt seine 2007 erstmals veröffentlichten und jetzt stark erweiterten Erinnerungen vor allem, um für seine heutigen politischen Überzeugungen zu werben, die der undogmatische linke Denker als linken Humanismus bezeichnet. Dabei setzt sich Strasser, Philosoph und Politologe, scharfsinniger Denker, versierter Schriftsteller und Publizist, offen mit Besonderheiten und Grenzen von autobiographischen Schriften und der Gefahr der retrospektiven Konstruktion einer gradlinigen biographischen Entwicklung auseinander. Immer wieder verweist Strasser auf seine Vergesslichkeit, entfaltet dann jedoch einzelne Erlebnisse geradezu mit schriftstellerischen Mitteln und bettet sie umgehend ein in eine analytisch scharfe Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um eine Brücke zu seinen Gegenwartsdiagnosen zu schlagen, wobei er auch selbstkritische Töne anklingen lässt.
Biographisch fortschreitend spannt Strasser den Bogen von seiner Kindheit bis zur Gegenwart. 1939 in Leeuwarden geboren, wuchs Strasser zunächst in den Niederlanden auf. Sein Vater war Österreicher, seine Mutter hatte holländische und französische Vorfahren. Beide waren überzeugte Pazifisten und Esperanto-Anhänger, weswegen sie ihren Kindern auch Vornamen in dieser Plansprache gaben. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die Familie Strasser im nördlichen Niedersachsen. Eine Ausbildung zum Dolmetscher führte Strasser in die Pfalz nach Germersheim. Dort begann Strasser, sich neue Horizonte zu eröffnen. Er selbst betitelt das entsprechende Kapitel seiner Autobiographie mit "Provinzler und Kosmopolit". Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete Strasser eineinhalb Jahre als Übersetzer bei den Kölner Ford-Werken, bevor er ab dem Sommersemester 1963 Philosophie an der Mainzer Universität studierte. Als Ausgleich zu Arbeit und Studium diente ihm die Leichtathletik, die ihn bei zahlreichen Wettkämpfen bis ins Ausland führte. Sportfunktionäre der Universität Mainz bedrängten Strasser, der die österreichische Staatsangehörigkeit besaß, erfolgreich, deutscher Staatsbürger zu werden, um für die Universität Mainz bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften antreten zu können. Während der Arbeit an seiner Promotion in Philosophie gab Strasser, inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter, Kurse in Leichtathletik und an der Volkshochschule, während seine (erste) Frau die finanzielle Grundsicherung der Familie übernahm. Strasser spricht im Rückblick von einer Art "Doppelexistenz" als deutscher "Kleinfamilie mit allen üblichen Zwängen und unvermeidlichen Spießigkeiten" und zugleich einem bohemehaften, provokativ antibürgerlichen Studentenleben, das sich einfügte in die kulturellen und gesellschaftlichen Umbrüche der sechziger Jahre. Seine weitere Politisierung, seinen Weg zu einem führenden Juso-Politiker und sein wissenschaftliches Wirken, das ihn immer stärker in Richtung Politikwissenschaft führte, beschreibt Strasser in prägnanten Miniaturen. Mit der Übernahme der Redaktion der politisch-literarischen Zeitschrift L'80 1980, die er zusammen mit Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern bis 1988 herausgab, begann ein neuer Lebensabschnitt Strassers. Öffentliche politische Interventionen von links, Mitarbeit in der Grundwertekommission der SPD und vielfältige Kontakte zu Bürgerrechtlern in der DDR, aber auch die Beteiligung an Gesprächen zwischen SPD und SED begleiteten Strassers schriftstellerisches Wirken in den achtziger Jahren. 1995 wurde Strasser zum Generalsekretär des westdeutschen PEN gewählt, gestaltete die Bildung eines gesamtdeutschen PEN mit und war von 2002 bis 2013 Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland. Als Publizist und undogmatischer linker Querdenker intervenierte er parallel dazu immer wieder öffentlich, mal bei Wahlkampfauftritten mit Günter Grass, mal als kritischer Mahner, der Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde einforderte, orthodoxe marxistische Linke wie Neoliberale angriff und für seine Auffassung von einem linken Humanismus warb.
Leider übergeht Strasser allzu viele Erlebnisse und Stationen seines vielfältigen Wirkens, um sich im Verlauf des Buches in immer länger werdenden Passagen mit zentralen gegenwärtigen Problemen auseinanderzusetzen und seine politischen Gegenentwürfe aufzureihen. So nachdenkenswert viele seiner Denkanstöße auch sind, so lassen sie doch das Buch zwischen Autobiographie und politischer Streitschrift changieren, ohne dass es dem einen oder anderen voll gerecht wird. Die sehr lesenswerten autobiographischen Miniaturen innerhalb des Buches machen aber sehr deutlich, dass es sich für künftige Zeithistoriker sehr lohnen würde, die Biographie Johano Strassers in ihren vielfältigen Verflechtungen mit der deutschen Geschichte nach 1945 wissenschaftlich aufzuarbeiten. Strassers Autobiographie nimmt einem solchen Projekt nicht zu viel voraus.
CHRISTOPHER DOWE.
Johano Strasser: Als wir noch Götter waren im Mai. Ein deutsches Leben.
Europa Verlag, Hamburg 2018. 464 S., 22,90 [Euro].
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