Nie zuvor sind die Menschen so alt geworden wie heute. Und ein Ende ist nicht in Sicht: Jede Woche fügen wir ein Wochenende zu unserer Lebenszeit hinzu, ohne dass die kranke Zeit im Alter zunimmt. 75 ist das neue 65. Aber haben wir auf das lange Leben schon die richtigen Antworten? Kann man mit 75 noch ein neues Leben anfangen? Der prominente niederländische Altersmediziner Rudi Westendorp erklärt, wie es dazu kam, dass "Älter werden" und "Alt sein" nicht mehr dasselbe sind, und wie wir mit der Explosion unserer Lebenserwartung umgehen können. Wie kaum jemand vor ihm beleuchtet er das Phänomen des verlangsamten Alterns in ganzheitlicher Sicht - aus den Perspektiven der Biologie, der Medizin, der Pflege und der Gesellschaft. Dabei macht er eine Reihe von Vorschlägen, etwa zur Reform des Arbeitsmarktes, zur Wohnungsbaupolitik und zur Organisation von Pflege. Und er fordert uns dazu auf, mehr Kreativität bei der Gestaltung unserer Lebensläufe an den Tag zu legen. Sein Buch ist ein Navigationssystem für das Extra an Lebenszeit, das vor uns liegt. Wer es liest, wird sich jünger fühlen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2015Länger krank sein, später gebrechlich werden
Das Ende ist nur ein Anhängsel des Lebens: Der Mediziner Rudi Westendorp weiß, wie man erfolgreich altert
Wie wird man alt, ohne alt zu sein? Wenn ihm diese Frage gestellt werde, sei ihm unbehaglich, gesteht Rudi Westendorp, Professor für Medizin an der Universität Leiden und Gründungsdirektor der dortigen Akademie für Vitalität und Altern. Ein wenig erstaunlich ist das schon, immerhin ist die Frage der Titel seines Buches - in der Übersetzung wie im niederländischen Original. Der Grund für sein Unbehagen: Es gibt kein einfaches Rezept, keine Wunderpille und keine Jungbrunnendiät, die uns gesund alt werden und irgendwo jenseits der neunzig schmerzlos tot umfallen lassen würde.
Es kann sie nicht geben, denn, der Autor erklärt es ausführlich, Altern heißt, immer mehr kleine und kleinste Schäden im Körper anzusammeln, die dann irgendwann dazu führen, dass das gesamte System nicht mehr kann. Es sind weder die verkürzten Telomere noch die zu vielen freien Radikale, noch die abgelagerten Eiweiße. Es ist von allem etwas. Und Zufall. Entsprechend gibt es auch keinen normalen oder gesunden Alterungsprozess, denn das Zusammenspiel von Teilursachen ist bei jedem Menschen anders.
Natürlich gilt, was jeder weiß: Gemüse statt Sahnetorte, Treppe statt Aufzug. Doch jenseits solcher Ratschläge beleuchtet Westendorp so umfassend wie komplex das Altern und seine Folgen aus wissenschaftlicher, individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Und er widerlegt gängige Alterns-Mythen und überzogene Erwartungen. Denn es gebe keine absolute Grenze, wie alt ein Mensch werden könne, schreibt Westendorp. Altern sei keine Notwendigkeit, die die Natur vorgesehen hätte, um Platz für die nächste Generation zu schaffen. Doch gleichgültig, wie alt der Mensch wird, eine Phase der Gebrechlichkeit - der Autor nennt es den "ausgefransten Saum des Lebens" - wird es immer geben, denn ein evolutionärer Druck, das Lebensende angenehm zu gestalten, habe nie bestanden: "Das Ende des Lebens ist evolutionär betrachtet nur ein Anhängsel." Diesen Saum zu durchleben wird uns also auch in Zukunft nicht erspart bleiben, es kommt dank der besseren Lebensbedingungen und der Fortschritte der Medizin nur später.
Das hat Konsequenzen, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Der Einzelne kann sich lange gesund fühlen, auch wenn der Arzt längst viele kleine Schäden in seinem Organismus finden würde, wenn er danach suchte. Soll er den Arzt suchen lassen? Ja, denn eine frühzeitige Behandlung verzögert die Verschlimmerung. Nein, denn eine Diagnose lässt den Menschen sich kränker fühlen als nötig. Westendorp sieht und kritisiert überflüssige Diagnosen und Behandlungen ebenso wie eine Vogel-Strauß-Haltung: Ärzte müssten den biologischen Mechanismus des Alterns erforschen und Behandlungsformen entwickeln, um bleibenden Schäden vorzubeugen. Und das gehe nur, indem sie ehemals normale Alterserscheinungen als neue Krankheiten qualifizierten wie den lange als normal betrachteten Knochenschwund als behandlungsbedürftige und -fähige Osteoporose.
Das heißt, dass die Ärzte uns immer früher für krank erklären werden. Medizinisch gesehen, ist die durchschnittliche Niederländerin die Hälfte ihres Lebens krank, so Westendorp. Mit knapp über vierzig Jahren bekommt sie ihre erste chronische Erkrankung. Dabei fühlt sie sich bestens. Selbst unter den Fünfundachtzigjährigen bewerten nur zehn Prozent ihre Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht. Wünschenswert und vertretbar ist eine solche Umdefinition von Krankheit nur, wenn wir dadurch letztlich besser leben, konstatiert Westendorp: wenn wir zwar länger krank sind, aber später gebrechlich werden.
Und damit kommt die gesellschaftliche Perspektive ins Spiel, die Zukunft einer Gesellschaft, in der der "graue Druck" - die Alten, die versorgt werden müssen - den "grünen Druck" - die Kinder, die aufgezogen werden wollen - längst übersteigt. Die Alten werden mehr, sie werden älter, aber wenn schon nicht gesünder, dann doch leistungsfähiger alt - fünfundsiebzig ist das neue Fünfundsechzig. Westendorp diskutiert die Folgen dieser Entwicklung für die Gestaltung der Arbeitsbiographie, Renteneintrittsalter und Pflegekosten, wobei Deutschland als abschreckendes Beispiel fungiert, weil hier, anders als in den Niederlanden, die Kinder gezwungen würden, sich um die alten Eltern zu kümmern.
Vor allem aber plädiert Westendorp für eine aktive Haltung zum Leben. Nach dem Standard der WHO erfüllten nur zehn Prozent der Befragten der Leidener 85-plus-Studie die Kriterien für "erfolgreiches Altern". Dennoch beurteile die Hälfte ihren eigenen Zustand als gut oder sehr gut. Das Einzige, was zähle, sei das Urteil der Betroffenen, folgert Westendorp. Eine Kombination aus Akzeptanz der zunehmenden Einschränkungen und der Fähigkeit, das eigene Leben zu bestimmen, sei für die Lebenszufriedenheit entscheidend.
Westendorp nennt das "Vitalität". Es gehe auch darum, die Alten zu drängen, die eigenen Angelegenheiten so lange wie möglich selbst zu regeln; sie sollen Pläne machen und sich kümmern. Und am Ende des lesenswerten Bandes gibt der Autor dann doch eine Antwort auf die ungeliebte Frage: Letztlich gehe es um Flexibilität.
MANUELA LENZEN
Rudi Westendorp: "Alt werden, ohne alt zu sein". Was heute möglich ist.
Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke und Marlene Müller-Haas. C. H. Beck Verlag, München 2015. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Ende ist nur ein Anhängsel des Lebens: Der Mediziner Rudi Westendorp weiß, wie man erfolgreich altert
Wie wird man alt, ohne alt zu sein? Wenn ihm diese Frage gestellt werde, sei ihm unbehaglich, gesteht Rudi Westendorp, Professor für Medizin an der Universität Leiden und Gründungsdirektor der dortigen Akademie für Vitalität und Altern. Ein wenig erstaunlich ist das schon, immerhin ist die Frage der Titel seines Buches - in der Übersetzung wie im niederländischen Original. Der Grund für sein Unbehagen: Es gibt kein einfaches Rezept, keine Wunderpille und keine Jungbrunnendiät, die uns gesund alt werden und irgendwo jenseits der neunzig schmerzlos tot umfallen lassen würde.
Es kann sie nicht geben, denn, der Autor erklärt es ausführlich, Altern heißt, immer mehr kleine und kleinste Schäden im Körper anzusammeln, die dann irgendwann dazu führen, dass das gesamte System nicht mehr kann. Es sind weder die verkürzten Telomere noch die zu vielen freien Radikale, noch die abgelagerten Eiweiße. Es ist von allem etwas. Und Zufall. Entsprechend gibt es auch keinen normalen oder gesunden Alterungsprozess, denn das Zusammenspiel von Teilursachen ist bei jedem Menschen anders.
Natürlich gilt, was jeder weiß: Gemüse statt Sahnetorte, Treppe statt Aufzug. Doch jenseits solcher Ratschläge beleuchtet Westendorp so umfassend wie komplex das Altern und seine Folgen aus wissenschaftlicher, individueller und gesellschaftlicher Perspektive. Und er widerlegt gängige Alterns-Mythen und überzogene Erwartungen. Denn es gebe keine absolute Grenze, wie alt ein Mensch werden könne, schreibt Westendorp. Altern sei keine Notwendigkeit, die die Natur vorgesehen hätte, um Platz für die nächste Generation zu schaffen. Doch gleichgültig, wie alt der Mensch wird, eine Phase der Gebrechlichkeit - der Autor nennt es den "ausgefransten Saum des Lebens" - wird es immer geben, denn ein evolutionärer Druck, das Lebensende angenehm zu gestalten, habe nie bestanden: "Das Ende des Lebens ist evolutionär betrachtet nur ein Anhängsel." Diesen Saum zu durchleben wird uns also auch in Zukunft nicht erspart bleiben, es kommt dank der besseren Lebensbedingungen und der Fortschritte der Medizin nur später.
Das hat Konsequenzen, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Der Einzelne kann sich lange gesund fühlen, auch wenn der Arzt längst viele kleine Schäden in seinem Organismus finden würde, wenn er danach suchte. Soll er den Arzt suchen lassen? Ja, denn eine frühzeitige Behandlung verzögert die Verschlimmerung. Nein, denn eine Diagnose lässt den Menschen sich kränker fühlen als nötig. Westendorp sieht und kritisiert überflüssige Diagnosen und Behandlungen ebenso wie eine Vogel-Strauß-Haltung: Ärzte müssten den biologischen Mechanismus des Alterns erforschen und Behandlungsformen entwickeln, um bleibenden Schäden vorzubeugen. Und das gehe nur, indem sie ehemals normale Alterserscheinungen als neue Krankheiten qualifizierten wie den lange als normal betrachteten Knochenschwund als behandlungsbedürftige und -fähige Osteoporose.
Das heißt, dass die Ärzte uns immer früher für krank erklären werden. Medizinisch gesehen, ist die durchschnittliche Niederländerin die Hälfte ihres Lebens krank, so Westendorp. Mit knapp über vierzig Jahren bekommt sie ihre erste chronische Erkrankung. Dabei fühlt sie sich bestens. Selbst unter den Fünfundachtzigjährigen bewerten nur zehn Prozent ihre Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht. Wünschenswert und vertretbar ist eine solche Umdefinition von Krankheit nur, wenn wir dadurch letztlich besser leben, konstatiert Westendorp: wenn wir zwar länger krank sind, aber später gebrechlich werden.
Und damit kommt die gesellschaftliche Perspektive ins Spiel, die Zukunft einer Gesellschaft, in der der "graue Druck" - die Alten, die versorgt werden müssen - den "grünen Druck" - die Kinder, die aufgezogen werden wollen - längst übersteigt. Die Alten werden mehr, sie werden älter, aber wenn schon nicht gesünder, dann doch leistungsfähiger alt - fünfundsiebzig ist das neue Fünfundsechzig. Westendorp diskutiert die Folgen dieser Entwicklung für die Gestaltung der Arbeitsbiographie, Renteneintrittsalter und Pflegekosten, wobei Deutschland als abschreckendes Beispiel fungiert, weil hier, anders als in den Niederlanden, die Kinder gezwungen würden, sich um die alten Eltern zu kümmern.
Vor allem aber plädiert Westendorp für eine aktive Haltung zum Leben. Nach dem Standard der WHO erfüllten nur zehn Prozent der Befragten der Leidener 85-plus-Studie die Kriterien für "erfolgreiches Altern". Dennoch beurteile die Hälfte ihren eigenen Zustand als gut oder sehr gut. Das Einzige, was zähle, sei das Urteil der Betroffenen, folgert Westendorp. Eine Kombination aus Akzeptanz der zunehmenden Einschränkungen und der Fähigkeit, das eigene Leben zu bestimmen, sei für die Lebenszufriedenheit entscheidend.
Westendorp nennt das "Vitalität". Es gehe auch darum, die Alten zu drängen, die eigenen Angelegenheiten so lange wie möglich selbst zu regeln; sie sollen Pläne machen und sich kümmern. Und am Ende des lesenswerten Bandes gibt der Autor dann doch eine Antwort auf die ungeliebte Frage: Letztlich gehe es um Flexibilität.
MANUELA LENZEN
Rudi Westendorp: "Alt werden, ohne alt zu sein". Was heute möglich ist.
Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke und Marlene Müller-Haas. C. H. Beck Verlag, München 2015. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Mediziner Rudi Westerndorp weiß, wie man erfolgreich altert."
Manuela Lenzen, FAZ
"Das Buch zeigt Möglichkeiten und Grenzen des wissenschaftliches Fortschritts auf."
Lars Klaassen, die tageszeitung
"Ein spannendes Buch ... Westendorp nimmt seine Leser mit auf eine Exkursion durch die Biologie des Menschen, sodass sie jeder verstehen kann."
Joachim Bomhard, Ausgburger Allgemeine
"Gut verständlich und leicht zu lesen."
Jörn Pinnow, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Manuela Lenzen, FAZ
"Das Buch zeigt Möglichkeiten und Grenzen des wissenschaftliches Fortschritts auf."
Lars Klaassen, die tageszeitung
"Ein spannendes Buch ... Westendorp nimmt seine Leser mit auf eine Exkursion durch die Biologie des Menschen, sodass sie jeder verstehen kann."
Joachim Bomhard, Ausgburger Allgemeine
"Gut verständlich und leicht zu lesen."
Jörn Pinnow, Frankfurter Allgemeine Zeitung