Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2005Mittelgraue Demokratie
Lebensbilanz: Rafael Chirbes beendet seine Spanien-Trilogie
Der dünnste aller Vorwände, um beim Romanschreiben ins Erzählen zu kommen, kann verblüffende Ergebnisse erzielen. Daran sieht man wohl den Könner. Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes, geboren 1949 bei Valencia, ist einer von ihnen. Denn der Vorwand, unter dem dieser Roman das Erzählen beginnt, ist dünn wie Papier.
Eine Gruppe alter Freunde will sich in Madrid zu einem Abendessen treffen, warum eigentlich, wird gar nicht klar, und Freunde sind sie schon lange nicht mehr. Sie waren es einmal, als es in Spanien noch einen politischen Untergrund gab und die Protestgeneration in Madrid heimlich Flugblätter gegen Franco druckte, Molotowcocktails bastelte, gemeinsam trank, Gras rauchte und leninistische Parolen umwälzte. Alles wie in Paris, nur im Taschenformat. Dreißig Jahre später sind Carlos, Pedrito, Amalia, Guzmán, Demetrio, Rita und ihre Genossen längst auseinandergedriftet - die einen schick und arriviert, andere wie Steine, die liegengeblieben sind und Moos angesetzt haben. Eine von ihnen, Magda, ist einfach verschwunden. Elisa, die Kunsthistorikerin, starb an Krebs, und so, wie sie in den Berichten der anderen vorkommt, wird klar, daß sie für die verlorene Schönheit einstehen muß - Schönheit, die zwar sterblich ist, aber immerhin nicht langsam verrottet.
Aus fünfzehn Monologen, verteilt auf sieben Sprecher, läßt Chirbes die alten Beziehungen, die Verachtung, die Ernüchterung und die enttäuschte Liebe aufsteigen, die die kommunistische Zelle miteinander erlebt hat. Manche der Mitglieder haben sich gegenseitig geheiratet, aber irgendwann getrennt. Der Sohn von Carlos und Rita starb als Junkie. Demetrio arbeitet als Nachtwächter, glaubt jedoch immer noch, er sei eigentlich Maler. Pedrito, der revolutionärste Kopf von allen, wurde Bauunternehmer und dient aus Motiven, die er den anderen bestens erläutern kann, dem Kapital.
Was uns das alles angehen soll, liegt nicht im Thema begründet, sondern im Stil, der seinerseits ein Abbild von Chirbes' skeptischer Weltsicht ist. Die von Dagmar Ploetz brillant ins Deutsche übertragenen Sätze sind lang, bildkräftig, zupackend, ein Erkenntnisinstrument, das in die Tiefe bohrt. Diese Bauch- und Herzenssprache macht von der ersten Zeile an klar, daß es um Lebensbilanzen geht. Daß die politischen Utopien des Antifranquismus nicht alt wurden, sondern nur ziemlich unradikal ins Mittelgrau der Demokratie geführt haben, ist dabei kaum das Aufsehenerregende. Wohl aber, wie aus der bescheidenen Teilnahme an dem, was man früher den "geschichtlichen Prozeß" genannt hätte, Ernüchterung erwächst, weil sich das Gesellschaftliche dort draußen mit dem privaten Ich zu kreuzen beginnt. Denn das private Ich wird älter und egoistischer, was immer es sich selbst davon auch eingestehen mag, es läßt Bindungen zerbrechen und findet ein neues Feinschmeckerlokal plötzlich wichtiger als Baudelaire.
Wie sehr wenige Autoren schafft es Chirbes, im Durchschnittlichen das Geheimnis zu entdecken, und das mit einem der riskantesten Mittel, das der Roman kennt, dem absatzlosen Ich-Bericht. Darin vermischen sich Erinnerung, Reflexion, Selbstrechtfertigung und Katzenjammer. Wir Leser müssen hier selbst etwas leisten, nämlich die Figuren schnell identifizieren (über den Kapiteln steht nicht, wer spricht) und von den übrigen unterscheiden lernen.
Bei Chirbes haben solche Hürden ihren Sinn. Sie sind überhaupt erst die Bedingung dafür, daß der Roman "Alte Freunde" - nach "Der lange Marsch" und "Der Fall von Madrid" der dritte Teil einer Trilogie über das Spanien der Nachbürgerkriegszeit - sein Ziel so souverän erreicht: über den Verlust von Hoffnung zu sprechen, ohne besserwisserisch über der Blindheit von damals zu thronen oder gleich ins Renegatentum zu verfallen. Erst die vielfach gebrochene Perspektive ermöglicht einen gerechten Blick auf das Ganze, der weder nörglerisch noch sentimental wäre. Jeder erzählt seine eigene Geschichte, ungeschützt, mit typischen Stärken und Schwächen. Ja, das könnten auch wir sein, die sich da ihre Lebensgeschichte zurechtschnitzen.
Die Frage mag erlaubt sein, was Chirbes mit diesem Relativismus sagen will. Daß alles für die Katz war? Daß man sie am besten gleich gelassen hätte, die Sache mit der Weltverbesserung? Gerade diese Folgerung ist für einen wie Chirbes ausgeschlossen. Während er an seinen Figuren zeigt, wie Menschen ihre Entscheidungen kosmetisch zurechtlügen oder was ihnen der Badezimmerspiegel offenbart, steht er doch zuverlässig an ihrer Seite. Als einer, der derselben betrogenen, betrügenden Generation angehört und ihre Widersprüche zumindest benennen will.
Dostojewskij und Joseph Conrad waren fasziniert von der Verformung des Ichs, wenn es sich am Leben langsam abreibt und die Ideale verliert. Entzauberung, Enttäuschung und Verzweiflung über das Weltgetriebe stellten Laborbedingungen dar, unter denen ihr Subjekt gut zu beobachten war. Der unerschrockene Blick dessen, der unbedingt wissen möchte, wie eines Menschen innere Wahrheit aussieht, ist auch der Blick von Rafael Chirbes. Damit ist er ein Vertreter des modernen Bewußtseinsromans und darf in seiner spanischen Heimat, wo leichte Unterhaltungskost dominiert, als schützenswerte Art angesehen werden.
Rafael Chirbes: "Alte Freunde". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2004. 237 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebensbilanz: Rafael Chirbes beendet seine Spanien-Trilogie
Der dünnste aller Vorwände, um beim Romanschreiben ins Erzählen zu kommen, kann verblüffende Ergebnisse erzielen. Daran sieht man wohl den Könner. Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes, geboren 1949 bei Valencia, ist einer von ihnen. Denn der Vorwand, unter dem dieser Roman das Erzählen beginnt, ist dünn wie Papier.
Eine Gruppe alter Freunde will sich in Madrid zu einem Abendessen treffen, warum eigentlich, wird gar nicht klar, und Freunde sind sie schon lange nicht mehr. Sie waren es einmal, als es in Spanien noch einen politischen Untergrund gab und die Protestgeneration in Madrid heimlich Flugblätter gegen Franco druckte, Molotowcocktails bastelte, gemeinsam trank, Gras rauchte und leninistische Parolen umwälzte. Alles wie in Paris, nur im Taschenformat. Dreißig Jahre später sind Carlos, Pedrito, Amalia, Guzmán, Demetrio, Rita und ihre Genossen längst auseinandergedriftet - die einen schick und arriviert, andere wie Steine, die liegengeblieben sind und Moos angesetzt haben. Eine von ihnen, Magda, ist einfach verschwunden. Elisa, die Kunsthistorikerin, starb an Krebs, und so, wie sie in den Berichten der anderen vorkommt, wird klar, daß sie für die verlorene Schönheit einstehen muß - Schönheit, die zwar sterblich ist, aber immerhin nicht langsam verrottet.
Aus fünfzehn Monologen, verteilt auf sieben Sprecher, läßt Chirbes die alten Beziehungen, die Verachtung, die Ernüchterung und die enttäuschte Liebe aufsteigen, die die kommunistische Zelle miteinander erlebt hat. Manche der Mitglieder haben sich gegenseitig geheiratet, aber irgendwann getrennt. Der Sohn von Carlos und Rita starb als Junkie. Demetrio arbeitet als Nachtwächter, glaubt jedoch immer noch, er sei eigentlich Maler. Pedrito, der revolutionärste Kopf von allen, wurde Bauunternehmer und dient aus Motiven, die er den anderen bestens erläutern kann, dem Kapital.
Was uns das alles angehen soll, liegt nicht im Thema begründet, sondern im Stil, der seinerseits ein Abbild von Chirbes' skeptischer Weltsicht ist. Die von Dagmar Ploetz brillant ins Deutsche übertragenen Sätze sind lang, bildkräftig, zupackend, ein Erkenntnisinstrument, das in die Tiefe bohrt. Diese Bauch- und Herzenssprache macht von der ersten Zeile an klar, daß es um Lebensbilanzen geht. Daß die politischen Utopien des Antifranquismus nicht alt wurden, sondern nur ziemlich unradikal ins Mittelgrau der Demokratie geführt haben, ist dabei kaum das Aufsehenerregende. Wohl aber, wie aus der bescheidenen Teilnahme an dem, was man früher den "geschichtlichen Prozeß" genannt hätte, Ernüchterung erwächst, weil sich das Gesellschaftliche dort draußen mit dem privaten Ich zu kreuzen beginnt. Denn das private Ich wird älter und egoistischer, was immer es sich selbst davon auch eingestehen mag, es läßt Bindungen zerbrechen und findet ein neues Feinschmeckerlokal plötzlich wichtiger als Baudelaire.
Wie sehr wenige Autoren schafft es Chirbes, im Durchschnittlichen das Geheimnis zu entdecken, und das mit einem der riskantesten Mittel, das der Roman kennt, dem absatzlosen Ich-Bericht. Darin vermischen sich Erinnerung, Reflexion, Selbstrechtfertigung und Katzenjammer. Wir Leser müssen hier selbst etwas leisten, nämlich die Figuren schnell identifizieren (über den Kapiteln steht nicht, wer spricht) und von den übrigen unterscheiden lernen.
Bei Chirbes haben solche Hürden ihren Sinn. Sie sind überhaupt erst die Bedingung dafür, daß der Roman "Alte Freunde" - nach "Der lange Marsch" und "Der Fall von Madrid" der dritte Teil einer Trilogie über das Spanien der Nachbürgerkriegszeit - sein Ziel so souverän erreicht: über den Verlust von Hoffnung zu sprechen, ohne besserwisserisch über der Blindheit von damals zu thronen oder gleich ins Renegatentum zu verfallen. Erst die vielfach gebrochene Perspektive ermöglicht einen gerechten Blick auf das Ganze, der weder nörglerisch noch sentimental wäre. Jeder erzählt seine eigene Geschichte, ungeschützt, mit typischen Stärken und Schwächen. Ja, das könnten auch wir sein, die sich da ihre Lebensgeschichte zurechtschnitzen.
Die Frage mag erlaubt sein, was Chirbes mit diesem Relativismus sagen will. Daß alles für die Katz war? Daß man sie am besten gleich gelassen hätte, die Sache mit der Weltverbesserung? Gerade diese Folgerung ist für einen wie Chirbes ausgeschlossen. Während er an seinen Figuren zeigt, wie Menschen ihre Entscheidungen kosmetisch zurechtlügen oder was ihnen der Badezimmerspiegel offenbart, steht er doch zuverlässig an ihrer Seite. Als einer, der derselben betrogenen, betrügenden Generation angehört und ihre Widersprüche zumindest benennen will.
Dostojewskij und Joseph Conrad waren fasziniert von der Verformung des Ichs, wenn es sich am Leben langsam abreibt und die Ideale verliert. Entzauberung, Enttäuschung und Verzweiflung über das Weltgetriebe stellten Laborbedingungen dar, unter denen ihr Subjekt gut zu beobachten war. Der unerschrockene Blick dessen, der unbedingt wissen möchte, wie eines Menschen innere Wahrheit aussieht, ist auch der Blick von Rafael Chirbes. Damit ist er ein Vertreter des modernen Bewußtseinsromans und darf in seiner spanischen Heimat, wo leichte Unterhaltungskost dominiert, als schützenswerte Art angesehen werden.
Rafael Chirbes: "Alte Freunde". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2004. 237 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Chirbes ist ein feinfühliger Epiker, der aus den Fragmenten von einzelnen Lebensgeschichten Historie zu gewinnen pflegt, gesellschaftliche Panoramen, Stimmungsbilder von großer Über- zeugungskraft, Manifestationen des Zeitgeistes in Momentaufnahmen. [...] Es ist erzähltechnisch brillant, wie Chirbes aus den katalytischen Zusammentreffen seiner Personen Funken schlägt, wie Erinnerungen angestoßen werden durch eine Bemerkung, eine Beobachtung, eine Geste. [...] Der Roman ist voller Mitgefühl und Weisheit - und von einer emotionalen Ehrlichkeit, wie nur wenige Romane zu sein wagen.
Die Zeit/Literaturbeilage, Katharina Döbler
Mit diesem Buch beweist Rafael Chirbes einmal mehr, daß er zu den wichtigsten europäischen Gegenwartsautoren zählt.
Brigitte Bücher extra
Eine mitleidlose Geschichte vom Verlust aller Ideale - und ein leidenschaftlich gutes Buch.
Die besten neuen Bücher / stern
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Maike Albath ist von Rafael Chirbes' neuestem Roman sehr angetan, nicht weniger als von seinen vorhergehenden. Der für Chirbes typische raue, dunkle Ton ist sofort da und berührt den Leser unmittelbar, schwärmt Albath. Für sie schwingt in diesem Ton das Wissen um Tod, um zerflossene Hoffnungen mit, aber auch ein trotziges Aufbegehren dagegen. Chirbes, Jahrgang 1949, wendet sich in seinen Romanen der politischen Vergangenheit seines Landes zu, sein literarisches Anliegen ist es, formuliert Albath, "die Traumatisierung durch den Bürgerkrieg" und die langen Jahre der Franco-Diktatur erzählbar zu machen. Auch in "Alte Freunde" geht es um eine Gruppe ehemaliger politischer Aktivisten, die einst mit Molotowcocktails gegen Franco gekämpft haben, dafür ins Gefängnis mussten und sich nun nach langen Jahren erstmals wiedersehen. Chirbes verzichtet auf eine übergeordnete Erzählerstimme, resümiert Albath, sondern entwickle ein Tableau innerer Monologe und gegenseitiger Kommentare, so dass jede Stimme eine eigene Färbung, jede Aussage verschiedene Interpretationen erhalte. Bei Chirbes gibt es stets mehrere Wahrheiten, stellt Albath fest, dennoch findet sie sein Fazit bestürzend: die wenigsten Spanier sind aus der Franco-Diktatur ohne Beschädigungen herausgekommen, die Ideale sind dahin, stattdessen herrschen Angepasstheit und der blanke Materialismus. Bewundernswert, sagt Albath, wie es Chirbes gelingt, sein Projekt der politischen Aufarbeitung in eine immer aufs Neue überzeugende ästhetische Form zu bringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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