Joseph Puschkin (1827-1905), Münchner Grafiker und Maler, fertigte im Auftrag des Weinwirts Edmund Neuner eine einmalige, über 300 Blätter umfassende Serie von Architektur-Aquarellen. Einzig in diesen stimmungsvollen Bildern ist das alte München festgehalten, das München des Biedermeier, das im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem rasanten baulichen Veränderungsprozess verschwindet. Puschkins Aquarelle sind eine liebevolle Hommage an die traditionelle Münchner Wohn- und Lebenswelt, die in ihnen wieder lebendig wird. Die Bilder berichten von schmalbrüstigen und bunt gefassten Hausfassaden, von noblen Gasthäusern und schäbigen Absteigen, von Weinstuben und Gartenwirtschaften, belebten Plätzen und verschwiegenen Gässchen. Besonders die bis in die Gründerjahre hinein noch gänzlich unzerstörte städtische Gewerbezone entlang der Isar mit Stadtbächen, Floßländen, Mühlen und Sägewerken, wurde von Puschkin mit Liebe und Fleiß festgehalten. Eine Aufmerksamkeit, die der Künstler auch den oftmals bizarren hölzernen Herbergsanwesen beiderseits des Flusses erweist, jene Heimstätten sozialer Unterschichten, die seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts abgerissen wurden, um auch hier Raum für großbürgerliche Prunkbauten oder öde Mietskasernen zu schaffen.Im vorliegenden Band »Altmünchen« wird die heute im Münchner Stadtmuseum verwahrte Sammlung Neuner erstmals zusammenhängend präsentiert und kommentiert. Dabei ruft Autor Richard Bauer die heute verschwundenen Gebäude in Erinnerung und weist den Leser auf bemerkenswerte Details in den Straßenszenen hin.Dr. Richard Bauer war über 25 Jahre lang Leiter des Münchner Stadtarchivs. Er ist Ehrenvorsitzender des Historischen Vereins von Oberbayern und Vorsitzender des Vereins der Freunde des Münchner Stadtmuseums. Bauer ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Stadtgeschichte Münchens.»Diese Sammlung gibt so ziemlich ein Gesamtbild Münchens bzw. wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen und zum Teile nur mehr inder Erinnerung der aller ältesten Münchner fortlebt. So war auch diese Sammlung mir bisher ein besonders wertes Gut gewesen und habe ich bei ihrer Durchsicht jedes Mal selbst köstliche Stunden der Erinnerung durchlebt.« (Edmund Neuner, 1905)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2017Ach, du
liebe gute,
alte Zeit
Die Stadt wächst, alte Häuser
und Gassen müssen weichen. Klingt aktuell,
war aber auch am Ende des 19. Jahrhunderts so.
Im Auftrag des Weinwirts Edmund Neuner
hielt der Maler Joseph Puschkin fest,
was alles verschwand
VON WOLFGANG GÖRL
Nach allem, was man weiß, war der 1827 in München geborene Maler Joseph Puschkin einem guten Tropfen selten abgeneigt, weshalb er gerne in der Weinstube des beliebten Wirts Edmund Neuner an der Herzogspitalstraße einkehrte. Puschkin verdiente sein Geld hauptsächlich mit Holzstichen für illustrierte Familienblätter, was nichts anderes bedeutete, als dass er meistens knapp bei Kasse war. Der Umtrunk in den romantisierend ausgestatteten Gewölben des noch heute existierenden Weinhauses Neuner mag gelegentlich mehr Geld gekostet haben, als Puschkin zur Verfügung hatte, weshalb es sich gut traf, das just in dieser Stätte des gepflegten Weinkonsums eine neue Einnahmequelle zu sprudeln begann. Diese hatte der Wirt selbst eingerichtet, der ehrenamtliche Stadtrat Neuner, der ein Traditionalist vor dem Herrn war.
Edmund Neuner tat es in der Seele weh, wie das alte München zunehmend dem Bauboom der Gründerzeit zum Opfer fiel. Die Stätten seiner Kindheitstage verschwanden allmählich, die kleinen Häuser und Läden, die spätgotischen Giebelbauten, die Stadtbäche, Mühlen, Herbergen und verschlungenen Gässchen. Wenn dieses gemütvoll-behäbige München schon nicht mehr zu retten war, wollte Neuner es wenigstens en miniature bewahren – als Abbild von Künstlerhand. Da kam ihm sein Stammgast Puschkin gerade recht. Neuner beauftragte ihn, die dem Untergang geweihten historischen Gemäuer – manche waren auch bereits abgetragen – zu porträtieren. 335 Aquarelle hat Puschkin angefertigt, die gemäß dem letzten Willen Neuners im Jahr 1905 dem Stadtmuseum übergeben wurden. Ein Großteil dieser beeindruckenden Gemälde ist in dem soeben erschienenen Buch „Altmünchen“ zu bewundern. Zudem sind 40 Reproduktionen in der Stadtsparkasse im Tal zu sehen.
Autor des Buchs ist Richard Bauer, der ehemalige Leiter des Münchner Stadtarchivs. Bauer ist nicht nur ein hervorragender Kenner der Stadtgeschichte, sondern er ist – man darf das vielleicht so sagen – auch einer, der München liebt und dem es, ähnlich wie dem Weinwirt Neuner, weh tut, wenn ein schönes altes Gebäude einem Allerweltsbau im Investorenstil weichen muss. Gleichwohl ist Bauer kein Traumtänzer; er weiß, dass der Wandel zum Wesen einer Stadt gehört und es unsinnig wäre, sie unter einer riesigen Käseglocke als unantastbares Museumsstück auszustellen. Und so stellt er ebenso wehmütig wie kühl fest: „Eindrucksvoll für den heutigen Betrachter der Puschkin’schen Bildserie ist vor allem die Begegnung mit jenen unprätentiösen und doch stets so anheimelnd und gediegen wirkenden bürgerschaftlichen Wohn- und Lebensbereichen, die im Zuge der urbanen Megalomanie für sich keine Fortdauer reklamieren konnten.“
In den Gründerjahren nach 1870 setzte in München ein massiver architektonischer Erneuerungsprozess ein, ausgelöst durch den immensen Zuzug sowie das Aufblühen von Handel und Gewerbe. Die spätmittelalterlichen oder barocken Wohngebäude, die engen Gassen und die offenen Stadtbäche standen dem Ausbau zur modernen Stadt häufig entgegen und wurde ohne viel Federlesens beseitigt. Angesichts zahlloser „schablonenhaft hergestellter bürgerlicher Großbauten“ (Bauer) formierte sich aber auch eine Gegenbewegung, die sich dem Bewahren, und sei es nur in Form künstlerischer Dokumentation, verschrieb, und die mitunter nostalgisch-verklärende Züge hatte: „Unter dem Begriff ‚Altmünchen‘ geriet im Gegenzug die unwiederbringlich verlorene Vergangenheit zum idealen Konstrukt ( . . . ) Dieser Prozess offenbarte ein erstaunliches Sehnsuchtspotential nach einer allein in der Rückerinnerung gesuchten heilen Welt.“
Auch in den Aquarellen Puschkins, der an der Münchner Kunstakademie studiert und eine Zeit lang in Hamburg gelebt hatte, geht es in bisweilen verklärender Weise behaglich und gemütvoll zu, was selbstredend ganz im Sinne des konservativ gestimmten Auftraggebers war. Die Sammlung Neuner ist, schreibt Bauer, in zweierlei Weise zu verstehen: „Einmal als engagierte Absage an die in den Jahren zwischen 1870 und 1900 im Bereich der Innenstadt besonders heftig vorangetriebene ‚Stadterneuerung‘, zum anderen als liebevoll geschönte Hommage an die kleinbürgerliche Welt des politischen Vormärzes.“
Man kommt nicht umhin, beim Betrachten der Aquarelle diskret zu bedauern, dass diese herzerwärmende Idylle versunken ist. Doch schon im nächsten Moment ruft man sich zur Ordnung, wissend, dass diese Welt so idyllisch nicht war, und schon gar nicht die von Puschkin als lauschig-dörflich dargestellten Herbergsviertel, unter deren Dächern oft viel zu viele Menschen in katastrophalen hygienischen Verhältnissen hausten. Puschkin wirft einen romantischen Blick auf das alte München wirft, in dem das Unbehagen an der Moderne aufscheint. Neuner und Puschkin empfanden da ähnlich wie später Karl Valentin, der ebenfalls dem guten, alten München nachtrauerte, oder wie Ludwig Thoma, der 1919 in seinen Erinnerungen klagte: „Ein Stück Altmünchen nach dem anderen wurde dem Verkehr, den großstädtischen Bedürfnissen oder richtiger der Spekulation geopfert. Seit Mitte der achtziger Jahre haben Gründer und Bauschwindler ihr Unwesen treiben dürfen, haben ganze Stadtviertel von schlecht gebauten, häßlichen Häusern errichtet, und keine vorausschauende Politik hat sie daran gehindert.“
Tatsächlich, es war ja auch schön, oft charmant, was Puschkin im absterbenden Altmünchen vorfand: das kleine Gasthaus „Zum Mohrenköpfl“ am Altheimer Eck zum Beispiel. Oder der Geißmilchmarkt an der Rossschwemme, der Radlsteg zwischen dem Tal und der Westenriederstraße, der „Schöne Turm“ an der Kaufinger Straße, die obere Lände zwischen Reichenbach- und Ludwigsbrücke. Puschkin verstand es, Atmosphäre einzufangen, und er hatte, wie Bauer treffend feststellt, als geborener Münchner ein „feines Gespür für das vorherrschende Milieu“. Nicht zuletzt dies verschafft dem heutigen Betrachter eine Ahnung, was seinerzeit untergegangen ist: „Gerade weil Puschkin die gängigen und bei den Fremden beliebten Ansichten der das Stadtbild prägenden Monumentalbauten vermeidet und sich bevorzugt auf die unspektakulären Wohn- und Lebenssituationen bezieht, ist sein Werk so aussagekräftig und wichtig.“
Weinwirt Neuner war jedenfalls hochzufrieden mit den Werken seines malenden Gastes. In der Widmungsurkunde an die Stadt schrieb er: Diese Sammlung gebe das Gesamtbild Münchens wieder, zumindest „wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen und zum Teile nur mehr in der Erinnerung der allerältesten Münchner fortlebt. So war auch diese Sammlung mir bisher ein besonders wertes Gut gewesen und habe ich bei ihrer Durchsicht jedes Mal selbst köstliche Stunden der Erinnerung durchlebt.“
Auch für Puschkin hat sich die Sache gelohnt. Für ihn war sie „ein Rettungsanker in finanziellen Nöten“ (Bauer), und man darf vermuten, dass er einen guten Teil des Honorars, das er von Neuner erhielt, in dessen Weinhaus wieder verjubelt hat. Neuner wiederum war nicht kleinlich: In seinem Testament legte er fest, dass Puschkin eine Art Rente erhalten solle. In den Genuss dieses Geld ist der Künstler freilich nicht gekommen. Er starb ein halbes Jahr vor seinem Gönner, am 9. Februar 1905.
Richard Bauer: Altmünchen. Der Maler Joseph Puschkin (1827-1905) und die Sammlung Neuner imm Münchner Stadtmuseum. 280 Seiten, mit 228 überwiegend farbigen Abbildungen; 39,80 Euro.
Ausstellung „Altmünchen“ in der Kundenhalle der Stadtsparkasse im Tal. 40 ausgewählte München-Darstellungen Puschkins. Bis 6. Dezember.
Puschkin entwarf ein Idyll,
das der Lebenswirklichkeit
natürlich oft nicht entsprach
Dem klammen Maler brachten
die Auftragsarbeiten Geld, das
er wieder in der Weinstube ließ
München im
19. Jahrhundert:
Beinahe ländlich erscheint das
Anwesen des Regimentsarztes Hirschinger (links oben)
an der Müllerstraße.
Unteres Bild: Der Radlsteg
am Kaltenbach.
Großes Bild: Der Marienplatz mit Altem Rathaus und
dem Gebäude der Regierung von Oberbayern (links),
das dem Neuen Rathaus
weichen musste. Auftraggeber der Gemälde war der
Weinwirt Edmund Neuner (oben), Joseph Puschkin
(unten) hat sie gemalt.
Fotos: Stadtmuseum,
Anton H. Konrad VerlaG (2)
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liebe gute,
alte Zeit
Die Stadt wächst, alte Häuser
und Gassen müssen weichen. Klingt aktuell,
war aber auch am Ende des 19. Jahrhunderts so.
Im Auftrag des Weinwirts Edmund Neuner
hielt der Maler Joseph Puschkin fest,
was alles verschwand
VON WOLFGANG GÖRL
Nach allem, was man weiß, war der 1827 in München geborene Maler Joseph Puschkin einem guten Tropfen selten abgeneigt, weshalb er gerne in der Weinstube des beliebten Wirts Edmund Neuner an der Herzogspitalstraße einkehrte. Puschkin verdiente sein Geld hauptsächlich mit Holzstichen für illustrierte Familienblätter, was nichts anderes bedeutete, als dass er meistens knapp bei Kasse war. Der Umtrunk in den romantisierend ausgestatteten Gewölben des noch heute existierenden Weinhauses Neuner mag gelegentlich mehr Geld gekostet haben, als Puschkin zur Verfügung hatte, weshalb es sich gut traf, das just in dieser Stätte des gepflegten Weinkonsums eine neue Einnahmequelle zu sprudeln begann. Diese hatte der Wirt selbst eingerichtet, der ehrenamtliche Stadtrat Neuner, der ein Traditionalist vor dem Herrn war.
Edmund Neuner tat es in der Seele weh, wie das alte München zunehmend dem Bauboom der Gründerzeit zum Opfer fiel. Die Stätten seiner Kindheitstage verschwanden allmählich, die kleinen Häuser und Läden, die spätgotischen Giebelbauten, die Stadtbäche, Mühlen, Herbergen und verschlungenen Gässchen. Wenn dieses gemütvoll-behäbige München schon nicht mehr zu retten war, wollte Neuner es wenigstens en miniature bewahren – als Abbild von Künstlerhand. Da kam ihm sein Stammgast Puschkin gerade recht. Neuner beauftragte ihn, die dem Untergang geweihten historischen Gemäuer – manche waren auch bereits abgetragen – zu porträtieren. 335 Aquarelle hat Puschkin angefertigt, die gemäß dem letzten Willen Neuners im Jahr 1905 dem Stadtmuseum übergeben wurden. Ein Großteil dieser beeindruckenden Gemälde ist in dem soeben erschienenen Buch „Altmünchen“ zu bewundern. Zudem sind 40 Reproduktionen in der Stadtsparkasse im Tal zu sehen.
Autor des Buchs ist Richard Bauer, der ehemalige Leiter des Münchner Stadtarchivs. Bauer ist nicht nur ein hervorragender Kenner der Stadtgeschichte, sondern er ist – man darf das vielleicht so sagen – auch einer, der München liebt und dem es, ähnlich wie dem Weinwirt Neuner, weh tut, wenn ein schönes altes Gebäude einem Allerweltsbau im Investorenstil weichen muss. Gleichwohl ist Bauer kein Traumtänzer; er weiß, dass der Wandel zum Wesen einer Stadt gehört und es unsinnig wäre, sie unter einer riesigen Käseglocke als unantastbares Museumsstück auszustellen. Und so stellt er ebenso wehmütig wie kühl fest: „Eindrucksvoll für den heutigen Betrachter der Puschkin’schen Bildserie ist vor allem die Begegnung mit jenen unprätentiösen und doch stets so anheimelnd und gediegen wirkenden bürgerschaftlichen Wohn- und Lebensbereichen, die im Zuge der urbanen Megalomanie für sich keine Fortdauer reklamieren konnten.“
In den Gründerjahren nach 1870 setzte in München ein massiver architektonischer Erneuerungsprozess ein, ausgelöst durch den immensen Zuzug sowie das Aufblühen von Handel und Gewerbe. Die spätmittelalterlichen oder barocken Wohngebäude, die engen Gassen und die offenen Stadtbäche standen dem Ausbau zur modernen Stadt häufig entgegen und wurde ohne viel Federlesens beseitigt. Angesichts zahlloser „schablonenhaft hergestellter bürgerlicher Großbauten“ (Bauer) formierte sich aber auch eine Gegenbewegung, die sich dem Bewahren, und sei es nur in Form künstlerischer Dokumentation, verschrieb, und die mitunter nostalgisch-verklärende Züge hatte: „Unter dem Begriff ‚Altmünchen‘ geriet im Gegenzug die unwiederbringlich verlorene Vergangenheit zum idealen Konstrukt ( . . . ) Dieser Prozess offenbarte ein erstaunliches Sehnsuchtspotential nach einer allein in der Rückerinnerung gesuchten heilen Welt.“
Auch in den Aquarellen Puschkins, der an der Münchner Kunstakademie studiert und eine Zeit lang in Hamburg gelebt hatte, geht es in bisweilen verklärender Weise behaglich und gemütvoll zu, was selbstredend ganz im Sinne des konservativ gestimmten Auftraggebers war. Die Sammlung Neuner ist, schreibt Bauer, in zweierlei Weise zu verstehen: „Einmal als engagierte Absage an die in den Jahren zwischen 1870 und 1900 im Bereich der Innenstadt besonders heftig vorangetriebene ‚Stadterneuerung‘, zum anderen als liebevoll geschönte Hommage an die kleinbürgerliche Welt des politischen Vormärzes.“
Man kommt nicht umhin, beim Betrachten der Aquarelle diskret zu bedauern, dass diese herzerwärmende Idylle versunken ist. Doch schon im nächsten Moment ruft man sich zur Ordnung, wissend, dass diese Welt so idyllisch nicht war, und schon gar nicht die von Puschkin als lauschig-dörflich dargestellten Herbergsviertel, unter deren Dächern oft viel zu viele Menschen in katastrophalen hygienischen Verhältnissen hausten. Puschkin wirft einen romantischen Blick auf das alte München wirft, in dem das Unbehagen an der Moderne aufscheint. Neuner und Puschkin empfanden da ähnlich wie später Karl Valentin, der ebenfalls dem guten, alten München nachtrauerte, oder wie Ludwig Thoma, der 1919 in seinen Erinnerungen klagte: „Ein Stück Altmünchen nach dem anderen wurde dem Verkehr, den großstädtischen Bedürfnissen oder richtiger der Spekulation geopfert. Seit Mitte der achtziger Jahre haben Gründer und Bauschwindler ihr Unwesen treiben dürfen, haben ganze Stadtviertel von schlecht gebauten, häßlichen Häusern errichtet, und keine vorausschauende Politik hat sie daran gehindert.“
Tatsächlich, es war ja auch schön, oft charmant, was Puschkin im absterbenden Altmünchen vorfand: das kleine Gasthaus „Zum Mohrenköpfl“ am Altheimer Eck zum Beispiel. Oder der Geißmilchmarkt an der Rossschwemme, der Radlsteg zwischen dem Tal und der Westenriederstraße, der „Schöne Turm“ an der Kaufinger Straße, die obere Lände zwischen Reichenbach- und Ludwigsbrücke. Puschkin verstand es, Atmosphäre einzufangen, und er hatte, wie Bauer treffend feststellt, als geborener Münchner ein „feines Gespür für das vorherrschende Milieu“. Nicht zuletzt dies verschafft dem heutigen Betrachter eine Ahnung, was seinerzeit untergegangen ist: „Gerade weil Puschkin die gängigen und bei den Fremden beliebten Ansichten der das Stadtbild prägenden Monumentalbauten vermeidet und sich bevorzugt auf die unspektakulären Wohn- und Lebenssituationen bezieht, ist sein Werk so aussagekräftig und wichtig.“
Weinwirt Neuner war jedenfalls hochzufrieden mit den Werken seines malenden Gastes. In der Widmungsurkunde an die Stadt schrieb er: Diese Sammlung gebe das Gesamtbild Münchens wieder, zumindest „wie es um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen und zum Teile nur mehr in der Erinnerung der allerältesten Münchner fortlebt. So war auch diese Sammlung mir bisher ein besonders wertes Gut gewesen und habe ich bei ihrer Durchsicht jedes Mal selbst köstliche Stunden der Erinnerung durchlebt.“
Auch für Puschkin hat sich die Sache gelohnt. Für ihn war sie „ein Rettungsanker in finanziellen Nöten“ (Bauer), und man darf vermuten, dass er einen guten Teil des Honorars, das er von Neuner erhielt, in dessen Weinhaus wieder verjubelt hat. Neuner wiederum war nicht kleinlich: In seinem Testament legte er fest, dass Puschkin eine Art Rente erhalten solle. In den Genuss dieses Geld ist der Künstler freilich nicht gekommen. Er starb ein halbes Jahr vor seinem Gönner, am 9. Februar 1905.
Richard Bauer: Altmünchen. Der Maler Joseph Puschkin (1827-1905) und die Sammlung Neuner imm Münchner Stadtmuseum. 280 Seiten, mit 228 überwiegend farbigen Abbildungen; 39,80 Euro.
Ausstellung „Altmünchen“ in der Kundenhalle der Stadtsparkasse im Tal. 40 ausgewählte München-Darstellungen Puschkins. Bis 6. Dezember.
Puschkin entwarf ein Idyll,
das der Lebenswirklichkeit
natürlich oft nicht entsprach
Dem klammen Maler brachten
die Auftragsarbeiten Geld, das
er wieder in der Weinstube ließ
München im
19. Jahrhundert:
Beinahe ländlich erscheint das
Anwesen des Regimentsarztes Hirschinger (links oben)
an der Müllerstraße.
Unteres Bild: Der Radlsteg
am Kaltenbach.
Großes Bild: Der Marienplatz mit Altem Rathaus und
dem Gebäude der Regierung von Oberbayern (links),
das dem Neuen Rathaus
weichen musste. Auftraggeber der Gemälde war der
Weinwirt Edmund Neuner (oben), Joseph Puschkin
(unten) hat sie gemalt.
Fotos: Stadtmuseum,
Anton H. Konrad VerlaG (2)
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