Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.1997Schelmin vom Misthaufen
Mumm in den Knochen: "Alyce" von Karen Cushman
Aus einem Misthaufen krabbelt ein namenloses Mädchen. Später wird es sich selbst Alyce nennen. Woher sie kommt, weiß niemand genau im Dorf. Sie begegnet einer scharfnasigen Hebamme, die gerade eine Arbeitskraft sucht. Zunächst dienstbeflissen, später neugieriger folgt die Schülerin ihrer strengen Herrin in zahlreiche Hütten und manchen Palast. Dort hört sie von schmerzgeplagten Frauen ständeübergreifende Flüche, darf ihnen warmes Bier einflößen, beobachtet geübte Handgriffe, manche Zauberei und prägt sich die Wirkung von Salben und Kräutern ein.
Als eine mittelalterliche Karriere bezeichnet die Verlagsankündigung diesen Weg vom Lausemädchen zur Hebamme. Alyces Lerneifer, aber auch ihr kluger Umgang mit den Neurosen ihrer Chefin könnten tatsächlich vorbildhaft in einem heutigen Ratgeber für Berufseinsteiger stehen. Ein Nachwort der Autorin informiert gar über die Geschichte des Hebammenberufs. Doch dies ist kein Berufsroman, sondern die Geschichte einer Berufung.
Eine Schelmin ist Alyce, und wie alle Schelme steht sie trotz vieler Unbilden klar auf der Seite des Lebens. "Du hast Mumm in den Knochen", dankt ihr ein Dorfjunge, nachdem sie ihn aus dem Wasser gefischt hat. Doch als ihr neues Selbstbewußtsein einen Dämpfer erfährt und sie bei einer Geburt nicht mehr weiterweiß, flieht sie voller Scham in ein entferntes Wirtshaus. Dort übt sie innere Einkehr und wischt stumm die Böden und Tische. Einem der Gäste, einem Gelehrten, fällt die Klugheit des mürrischen Mädchens auf. Geschickt lehrt er sie das Lesen und stellt die richtigen Fragen. "Ich weiß, was ich will. Einen vollen Bauch, ein zufriedenes Herz und einen Platz auf der Welt", bekennt Alyce und wird kurze Zeit später an die Tür der Hebamme klopfen, um ihre Ausbildung fortzusetzen. Damit aber verliert sich die Geschichte ein wenig in die bekannten Muster amerikanischer Erfolgsstories.
"Du bist morgen nicht wie heut", erkennt der Abentheuerliche Simplicissimus: Seine Geschichte endet auf einer einsamen Insel. Bei aller Nähe zu diesem Roman, soviel Ungewißheit wollte die Autorin ihrer Schelmin wohl nicht zumuten. Alyce weiß, was sie will, ihr Handeln ist zielsicher und von geballter Zuversicht. Zwar ist sie so letztlich doch eher eine typische Jugendbuchheldin unserer Zeit, aber wir glauben dieser Figur - und darauf kommt es schließlich an. MYRIAM MIELES Karen Cushman: "Alyce und keine andere". Aus dem Amerikan. von Bettine Braun. Verlag St. Gabriel 1997. 120 S., geb., 23,50 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mumm in den Knochen: "Alyce" von Karen Cushman
Aus einem Misthaufen krabbelt ein namenloses Mädchen. Später wird es sich selbst Alyce nennen. Woher sie kommt, weiß niemand genau im Dorf. Sie begegnet einer scharfnasigen Hebamme, die gerade eine Arbeitskraft sucht. Zunächst dienstbeflissen, später neugieriger folgt die Schülerin ihrer strengen Herrin in zahlreiche Hütten und manchen Palast. Dort hört sie von schmerzgeplagten Frauen ständeübergreifende Flüche, darf ihnen warmes Bier einflößen, beobachtet geübte Handgriffe, manche Zauberei und prägt sich die Wirkung von Salben und Kräutern ein.
Als eine mittelalterliche Karriere bezeichnet die Verlagsankündigung diesen Weg vom Lausemädchen zur Hebamme. Alyces Lerneifer, aber auch ihr kluger Umgang mit den Neurosen ihrer Chefin könnten tatsächlich vorbildhaft in einem heutigen Ratgeber für Berufseinsteiger stehen. Ein Nachwort der Autorin informiert gar über die Geschichte des Hebammenberufs. Doch dies ist kein Berufsroman, sondern die Geschichte einer Berufung.
Eine Schelmin ist Alyce, und wie alle Schelme steht sie trotz vieler Unbilden klar auf der Seite des Lebens. "Du hast Mumm in den Knochen", dankt ihr ein Dorfjunge, nachdem sie ihn aus dem Wasser gefischt hat. Doch als ihr neues Selbstbewußtsein einen Dämpfer erfährt und sie bei einer Geburt nicht mehr weiterweiß, flieht sie voller Scham in ein entferntes Wirtshaus. Dort übt sie innere Einkehr und wischt stumm die Böden und Tische. Einem der Gäste, einem Gelehrten, fällt die Klugheit des mürrischen Mädchens auf. Geschickt lehrt er sie das Lesen und stellt die richtigen Fragen. "Ich weiß, was ich will. Einen vollen Bauch, ein zufriedenes Herz und einen Platz auf der Welt", bekennt Alyce und wird kurze Zeit später an die Tür der Hebamme klopfen, um ihre Ausbildung fortzusetzen. Damit aber verliert sich die Geschichte ein wenig in die bekannten Muster amerikanischer Erfolgsstories.
"Du bist morgen nicht wie heut", erkennt der Abentheuerliche Simplicissimus: Seine Geschichte endet auf einer einsamen Insel. Bei aller Nähe zu diesem Roman, soviel Ungewißheit wollte die Autorin ihrer Schelmin wohl nicht zumuten. Alyce weiß, was sie will, ihr Handeln ist zielsicher und von geballter Zuversicht. Zwar ist sie so letztlich doch eher eine typische Jugendbuchheldin unserer Zeit, aber wir glauben dieser Figur - und darauf kommt es schließlich an. MYRIAM MIELES Karen Cushman: "Alyce und keine andere". Aus dem Amerikan. von Bettine Braun. Verlag St. Gabriel 1997. 120 S., geb., 23,50 DM. Ab 12 J.
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