Produktdetails
  • Verlag: KEHRER
  • ISBN-13: 9783936636345
  • ISBN-10: 3936636346
  • Artikelnr.: 12839240
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2005

Bewusstsein, zerbröckelt zu Momentaufnahmen
Was ist da? Was ist denn da nur? Was ist mit mir? - Die Frau war Mitte achtzig, und sie lief mit ihrer Handtasche und diesen Fragen den ganzen Tag über durch ein Altersheim in der Nähe von Dresden. Die immergleichen Sätze bedrängten sie, sie fragte so nervös und haschend, als wollte sie unsichtbaren Spinnweb von ihrem Gedächtnis streifen. Vor 15 Jahren war das, Alzheimer war noch nicht so bekannt wie heute, und im Heim sagten alle nur, traurig, die große Organistin, jetzt erkennt sie nicht mal mehr die Kirche, naja, hat’n Klapps . . .
Über die Gesichter, die Peter Granser fotografiert hat, geistert immer wieder diese Ahnung: Es stimmt was nicht. Die Alzheimerkranken, die er porträtiert hat, schauen ihn an, als lauschten sie irritiert auf die immer größer werdenden schwarzen Inseln in ihrem Kopf oder als läge ihnen ein Wort auf den Lippen, ein erlösendes Wort, das ihnen Halt gibt in ihrer zerbröckelnden Gegenwart. Heute weiß man, das es nicht ein „Klapps”, sondern molekularer Eiweißmüll ist, der im Gehirn der Erkrankten langsam das Gedächtnis auslöscht.
2001 gab die „World Press Masterclass” als Jahresthema das modisch-chice Thema der Identität. Granser suchte nicht, wie die meisten Teilnehmer, nach den ersten Versuchen, sich zu erfinden, jemand zu werden. Er ging im Gegenteil an einen Ort, an dem die Identität sich langsam wieder auflöst, das Bewusstsein zerfasert in Momentaufnahmen: Granser besuchte die Bewohner des Stuttgarter Gradmann Hauses, des ersten deutschen Zentrums für Demenzkranke, in dem Ehepartner mit ihren kranken Angehörigen leben können.
Was ist da? Was ist denn da nur? - Gransers Bilder, veröffentlich nun in dem Band „Alzheimer” (Kehrer Verlag, Heidelberg 2005. 96 Seiten, 24 Euro), spiegeln die Verunsicherung wieder, die der Verlust des Gedächtnisses auslöst, gelebtes Leben, das nicht mehr um sich selber weiß. Zugleich aber, und das macht die Kunst dieses jungen Fotografen aus, schauen einen aus all den großformatigen Porträts würdevolle Gesichter an.
alex
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Rezensent mit dem Kürzel "alex" ist beeindruckt von diesem Fotoband über an Alzheimer erkrankte Menschen. Der Fotograf Peter Granser wollte sich mit seiner Foto-Reihe eigentlich dem Begriff der "Identität" nähern - und Granser hat sich des Thema angenommen, indem er dort hin ging, wo die menschliche Identität in Auflösung begriffen ist: in einen Heim für Demenzkranke. Seine Fotos vermitteln nach Meinung des Rezensenten zweierlei: einerseits die offensichtliche Verunsicherung der Menschen, denen ihre Erinnerung abhanden kommt, die Spuren eines "gelebtes Leben, das nicht mehr um sich selber weiß"; andererseits die Würde, die in diesen "großformatigen Porträts" steckt.

© Perlentaucher Medien GmbH