In diesen kunstvoll komponierten Essays untersucht Patrick J. Geary die Art und Weise, wie Autoren der Antike und des Mittelalters über Frauen geschrieben haben. Er beschreibt die oftmals marginale Rolle, die die Frauen in Ursprungsmythen und Legenden von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria hatten, und zeigt, daß dies keinesfalls mit der Rolle der Frauen in der realen Lebenswelt übereinstimmte.
Patrick J. Geary widmet sich in diesem unterhaltsam geschriebenen Buch den Verfassern bedeutender Ursprungsmythen von der Antike bis ins Mittelalter. Er zeigt, daß die Autoren - Genealogen, Theologen und Rechtsgelehrte -, die diese Mythen zusammenstellten, niemals auf der Suche nach den Anfängen von Nationen, Stämmen, Religionen oder Völkern waren, wie oftmals vermutet. Im Gegenteil: Seine überraschende These ist, daß die Verfasser dieser Ursprungslegenden ganz an ihrer Gegenwart und Zukunft interessiert waren. Patrick J. Geary untersucht die Diskrepanz zwischen den Frauenfiguren in biblischen, klassischen und mittelalterlichen Mythen (wie etwa Eva, Maria, die Amazonen oder auch Prinzessinnen) und der wirklichen Rolle von Frauen in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften. Er zeigt, daß sich die Autoren mittels dieser Ursprungslegenden mit der realen Macht der Frauen in ihren Gesellschaften auseinandersetzten und sie dort verbannten, wo sie ihre Herrschaft uneingeschränkt ausüben konnten - in den Texten.
Patrick J. Geary widmet sich in diesem unterhaltsam geschriebenen Buch den Verfassern bedeutender Ursprungsmythen von der Antike bis ins Mittelalter. Er zeigt, daß die Autoren - Genealogen, Theologen und Rechtsgelehrte -, die diese Mythen zusammenstellten, niemals auf der Suche nach den Anfängen von Nationen, Stämmen, Religionen oder Völkern waren, wie oftmals vermutet. Im Gegenteil: Seine überraschende These ist, daß die Verfasser dieser Ursprungslegenden ganz an ihrer Gegenwart und Zukunft interessiert waren. Patrick J. Geary untersucht die Diskrepanz zwischen den Frauenfiguren in biblischen, klassischen und mittelalterlichen Mythen (wie etwa Eva, Maria, die Amazonen oder auch Prinzessinnen) und der wirklichen Rolle von Frauen in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften. Er zeigt, daß sich die Autoren mittels dieser Ursprungslegenden mit der realen Macht der Frauen in ihren Gesellschaften auseinandersetzten und sie dort verbannten, wo sie ihre Herrschaft uneingeschränkt ausüben konnten - in den Texten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Wie die Evas aus den Dokumenten geschubst wurden
Die Angst in den Armen von Amazonen: Patrick Geary untersucht Geschlechtererfahrungen der Männer / Von Michael Borgolte
Als der große französische Mediävist Georges Duby am Ende seines Lebens (1996) die Summe seiner frauengeschichtlichen Arbeiten zog, war er desillusioniert. Die Überlieferung, fast nur von Männern geistlichen Standes geschaffen, lasse keine wirkliche Annäherung an das andere Geschlecht zu und spiegele nur wider, was Priester und Mönche über Frauen dachten. Doch war Duby überzeugt, daß die Frauen als Teil der Gesellschaft an der Tendenz des Feudalismus zur Moderne partizipiert hätten und unter dem Druck religiös bestimmter Disziplinierung und Rationalisierung zu einem größeren Maß an innerer Freiheit gelangten.
Zehn Jahre später hat sich weder an der Quellenlage noch an der methodischen Prämisse etwas geändert, daß Männer über Frauen und Geschlechterverhältnisse im Mittelalter gut schreiben können, weil sie damit nur die Tradition ihrer klerikalen Gewährsleute fortsetzen. Allerdings zeigt sich die neuere Forschung überzeugt, daß die Frauen im zwölften Jahrhundert im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle spielten. Wie müssen die von Duby herangezogenen Erzählungen gedeutet werden, wenn sie nicht als Reflexe weiblicher Marginalisierung gelten sollen? Patrick Geary zeigt, daß die Autoren in die Texte verschiedener Überlieferungsstränge Frauen hinein- oder herausschrieben, um mit Widersprüchen ihrer eigenen Lebenserfahrung fertig zu werden.
Als typische Figuren der Anfänge gelten die Amazonen, obschon man genug Zeugnisse kennt, daß es solche waffentragenden Frauen bis in die Zeit der Kreuzzüge gegeben hat. Seit Herodot haben die Historiker die wilden Kriegerinnen vorzugsweise in die ethnischen Herkunftssagen verbannt. Weshalb berichtet aber die spätantike "Historia Augusta" davon, daß Kaiser Aurelian nach der Einigung des Römerreiches im Triumph des Jahres 274 zehn gotische Frauen vorführen ließ, die in Männerkleidern gekämpft hatten? Offenbar, so Geary, hing dies damit zusammen, daß Aurelian neben dem Usurpator Tetricus in Gallien auch die Herrscherin Zenobia von Palmyra besiegt hatte, die als geniale Feldherrin gerühmt wurde. Die Auszeichnung des Kaisers als restitutor orbis beziehe sich deshalb nicht nur auf die Überwindung von Sezessionen, sondern vor allem auf die Wiederherstellung der gestörten Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen; mit dem Sieg über Zenobia hätten die Amazonen als Phänomen der gotischen Barbaren eingeordnet, also in eine archaische Kultur zurückgestoßen werden können.
Aus der Geschichte herausgeschrieben wurden im Mittelalter immer wieder vornehme Damen, die durch Heirat den Adel und Reichtum ihres Mannes und seines Hauses zu steigern vermochten. Das gilt sogar für Judith, die den Aufstieg der Welfen durch ihre Vermählung mit Kaiser Ludwig dem Frommen gefördert hat, und für ihre gleichnamige Enkelin, die sich durch den Grafen Balduin von Flandern zur Ehe entführen ließ. Im genealogischen Bewußtsein beider Familien rückten die Judithe im Laufe der Zeit zugunsten der Mannesfolge an den Rand. Dies sei nach Geary pure Ideologie gewesen; einerseits wisse die neuere Geschichtswissenschaft um die Bedeutung der weiblichen Verwandtschaftslinien, andererseits seien im elften und zwölften Jahrhundert zahlreiche politisch einflußreiche Gräfinnen bekannt. Das Beschweigen der Welfin Judith und ihrer Schicksalsgenossinnen reflektiere keine "reale" Lage der Geschlechter, sondern sei als kritische Reaktion auf Frauen mit beänstigenden Herrschaftsbefugnissen zu werten.
Vielleicht seien die Männer so scharf darauf gewesen, den Frauen in den Ursprüngen und Identitäten ihrer Sippen einen bescheidenen Platz anzuweisen, weil sie den gegenteiligen Prozeß kannten, die Einschreibung der Frau auf Kosten des Mannes in den Stammbaum. Unglücklicherweise war dies einmal sogar heilsnotwendig, nämlich im Fall Jesu Christi. Nach biblischer Überlieferung soll der Erlöser von David abstammen; Joseph hätte demnach sein leiblicher Vater sein müssen, was der Botschaft von der Jungfrauengeburt Marias widersprach. Mit diesem Problem rangen die Gelehrten jahrhundertelang, bis Jesu Mutter statt ihres Bräutigams davidische Wurzeln zugeschrieben werden konnten. Mußten sich die herkunftsstolzen Männer des Mittelalters davor fürchten, daß ihre Frauen mit Maria als Vorbild auf ihren Rang pochten?
Wie man sieht, nimmt Geary bisweilen zu kühnen Spekulationen Zuflucht, weil er die geschlechtergeschichtlichen Kontexte seiner Zeugnisse nur allgemein beschreiben kann; die Gefahr des Zirkelschlusses liegt nahe, wo er den angeblichen maskulinen Frauendiskurs besser kennt als die äußeren Umstände, in denen seine Texte entstanden sind. Andererseits hat er sich in einem Fall eine glänzende Bestätigung seines Deutungsansatzes entgehen lassen, weil er zu eng auf die Herkunftssagen von Völkern und Familien fixiert war.
Die Rede ist von der "Chronik der Böhmen", die der Prager Domkleriker Cosmas in den Jahren vor seinem Tod 1125 verfaßt hat. Auch in der Vorgeschichte der Böhmen spielten demnach Amazonen eine Rolle, vor allem aber die tugendhafte Seherin Libuse. Eines Tages hätten die Männer, so berichtet Cosmas, Libuse als Richterin nicht mehr ertragen und verlangt, wie die anderen Nationen von einem Mann regiert zu werden. Libuse kam verärgert dem Wunsch nach, gründete mit dem Bauern Premysl die noch immer regierende Herzogsdynastie sowie die Stadt Prag; und da gleichzeitig die jungen böhmischen Männer die Stadt der Amazonen eroberten, konnte Cosmas resümieren: "Seit jener Zeit und dem Tod unserer Fürstin Libuse stehen die Frauen unter der Herrschaft der Männer."
Doch warum erzählt der Chronist diese Geschichte? Geary verweist richtig darauf, daß Cosmas aus seiner Lebenszeit eine Analogie kannte, die ihn nachhaltig beschäftigte. Im Jahr 1074 habe die italienische Markgräfin Mathilde in Rom Papst Gregor VII. dazu bewegen können, einen Ausgleich zwischen Bischof Jaromir von Prag und dessen Bruder, dem Herzog Vratislav, herzustellen. Zwischen Mathilde, der "klugen Beraterin der römischen Kirche", und Libuse waren die Parallelen offensichtlich, denn als Erbin ihres Vaters beherrschte sie weite Gebiete der Toskana und der Lombardei und hatte als Gattin des Herzogs Gottfried Anteil an der Herrschaft von Niederlothringen. Mit Gottfried, einem verwachsenen Menschlein, wurde sie unglücklich, aber der Papst verweigerte ihr eben im Jahr 1074 die Ehescheidung.
Nachdem Cosmas die erfolgreiche Vermittlung Mathildes zwischen den rivalisierenden Premysliden geschildert hatte, bricht sein Erzählgang ab; schon lange ist aufgefallen, daß er für die Jahre zwischen 1074 und 1082 fast nichts zu sagen hat, obwohl sich damals Welthistorisches ereignete: der dramatische Konflikt zwischen König Heinrich IV. und Gregor VII., bei dem die Markgräfin Mathilde eine Schlüsselrolle spielte. Es war ja Mathildes Burg Canossa, in der der Papst Schutz fand und vor der Heinrich kniefällig um die Wiederaufnahme in die Kirche flehte (27. Januar 1077). Wie zwischen Bischof Jaromir und dem Herzog hatte Mathilde zwischen König und Papst zu vermitteln gesucht, aber statt hier anzuknüpfen, erzählt Cosmas von ihr eine andere Geschichte, die erst ins Jahr 1089 gehört.
Damals war Mathilde aus politischen Gründen eine zweite Ehe eingegangen, eine anstößige Liaison, weil die Markgräfin bereits 42, ihr Bräutigam, der bayerische Herzogsohn Welf, aber nur 16 Jahre alt war. Cosmas stellt Mathilde vor wie Libuse: Sie sei mutig und mannhaft, eine in vielen Kriegen siegreiche Jungfrau gewesen, die ihrem Gemahl reiche Güter zuführte. Auch habe sie wie die sagenhafte Seherin um ihren Bräutigam geworben, weil es keinen Unterschied mache, ob der Mann oder die Frau in der Liebe den ersten Schritt tue. In der Hochzeitsnacht blieb Welf allerdings "ohne Venus", und als sich das Malheur in der folgenden Nacht wiederholte, argwöhnte der junge Mann Zaubermittel in Mathildes Kleidern. Splitternackt habe sich die Gräfin deshalb ausgezogen, sei auf ein Podest gestiegen und habe sich Welf von jeder Seite dargeboten, so daß er kein verstecktes magisches Accessoire entdecken konnte. Welf aber "stand da und ließ die Ohren hängen wie ein störrischer Esel", und als Mathildes Werben, "wie eine Gans mit dem Bürzel wackelnd", vergeblich blieb, warf sie ihn hinaus. Von dieser Katastrophe habe sich Welf nie erholt, auf Lebenszeit verurteilt zur Impotenz.
Am Schluß entschuldigt sich Cosmas, er hätte die schlüpfrige Geschichte nicht erzählen sollen, aber genügt seine Motivation vom Beginn, daß er den Leser vor Langweile bewahren wollte? Gewiß werden die Prager Domherren bei Cosmas' Vortrag oder der Lektüre seiner Chronik herzlich über Welf gelacht haben, weil sie wußten, gegen solches Versagen ihrer Manneskraft gewappnet zu sein! Die scheinbare Aberration des Autors ist aber verräterisch: Geleitet vom Motiv der politischen Vermittlung und in Erinnerung an die gescheiterte Trennung Mathildes von Herzog Gottfried breitete Cosmas die Geschichte der Vermählung mit dem jugendlichen Welf aus, um über das Geschehen von Canossa hinweggehen zu können. Hier hatte der Friedensstifter in den Händeln des Prager Herzogshauses, Gregor VII., König Heinrich als den Herrn der Reichskirche, der auch das Prager Bistum angehörte, so gedemütigt, daß es die Zeitgenossen als Umsturz der Weltordnung empfanden - und ausgerechnet Mathilde, der die Premysliden ihren (temporären) Ausgleich verdankten, hatte dem Papst Unterschlupf gewährt, statt ihn dem König auszuliefern!
Direkte Kritik an allen drei Protagonisten des Geschehens von Canossa verbot sich aus Prager Perspektive, aber mit der Erzählung von Mathilde und Welf konnte der Autor verdeutlichen, wohin es führte, wenn sich Frauen in die große Politik einmischten: ins totale Chaos. So betrachtet, greift Gearys Deutung für den Rekurs auf Libuse zu kurz. Es ging nicht nur darum, mit dem Gegenbeispiel der Mathilde von Tuszien die böhmischen Herzöge zu einem harten Regiment anzuhalten, sondern darum, vor Gefahr für das Weltganze zu warnen, die bei femininen Eingriffen in Herrschaftsbelange drohten.
Patrick J. Geary: "Am Anfang waren die Frauen". Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. Verlag C. H. Beck, München 2006. 135 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Angst in den Armen von Amazonen: Patrick Geary untersucht Geschlechtererfahrungen der Männer / Von Michael Borgolte
Als der große französische Mediävist Georges Duby am Ende seines Lebens (1996) die Summe seiner frauengeschichtlichen Arbeiten zog, war er desillusioniert. Die Überlieferung, fast nur von Männern geistlichen Standes geschaffen, lasse keine wirkliche Annäherung an das andere Geschlecht zu und spiegele nur wider, was Priester und Mönche über Frauen dachten. Doch war Duby überzeugt, daß die Frauen als Teil der Gesellschaft an der Tendenz des Feudalismus zur Moderne partizipiert hätten und unter dem Druck religiös bestimmter Disziplinierung und Rationalisierung zu einem größeren Maß an innerer Freiheit gelangten.
Zehn Jahre später hat sich weder an der Quellenlage noch an der methodischen Prämisse etwas geändert, daß Männer über Frauen und Geschlechterverhältnisse im Mittelalter gut schreiben können, weil sie damit nur die Tradition ihrer klerikalen Gewährsleute fortsetzen. Allerdings zeigt sich die neuere Forschung überzeugt, daß die Frauen im zwölften Jahrhundert im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle spielten. Wie müssen die von Duby herangezogenen Erzählungen gedeutet werden, wenn sie nicht als Reflexe weiblicher Marginalisierung gelten sollen? Patrick Geary zeigt, daß die Autoren in die Texte verschiedener Überlieferungsstränge Frauen hinein- oder herausschrieben, um mit Widersprüchen ihrer eigenen Lebenserfahrung fertig zu werden.
Als typische Figuren der Anfänge gelten die Amazonen, obschon man genug Zeugnisse kennt, daß es solche waffentragenden Frauen bis in die Zeit der Kreuzzüge gegeben hat. Seit Herodot haben die Historiker die wilden Kriegerinnen vorzugsweise in die ethnischen Herkunftssagen verbannt. Weshalb berichtet aber die spätantike "Historia Augusta" davon, daß Kaiser Aurelian nach der Einigung des Römerreiches im Triumph des Jahres 274 zehn gotische Frauen vorführen ließ, die in Männerkleidern gekämpft hatten? Offenbar, so Geary, hing dies damit zusammen, daß Aurelian neben dem Usurpator Tetricus in Gallien auch die Herrscherin Zenobia von Palmyra besiegt hatte, die als geniale Feldherrin gerühmt wurde. Die Auszeichnung des Kaisers als restitutor orbis beziehe sich deshalb nicht nur auf die Überwindung von Sezessionen, sondern vor allem auf die Wiederherstellung der gestörten Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen; mit dem Sieg über Zenobia hätten die Amazonen als Phänomen der gotischen Barbaren eingeordnet, also in eine archaische Kultur zurückgestoßen werden können.
Aus der Geschichte herausgeschrieben wurden im Mittelalter immer wieder vornehme Damen, die durch Heirat den Adel und Reichtum ihres Mannes und seines Hauses zu steigern vermochten. Das gilt sogar für Judith, die den Aufstieg der Welfen durch ihre Vermählung mit Kaiser Ludwig dem Frommen gefördert hat, und für ihre gleichnamige Enkelin, die sich durch den Grafen Balduin von Flandern zur Ehe entführen ließ. Im genealogischen Bewußtsein beider Familien rückten die Judithe im Laufe der Zeit zugunsten der Mannesfolge an den Rand. Dies sei nach Geary pure Ideologie gewesen; einerseits wisse die neuere Geschichtswissenschaft um die Bedeutung der weiblichen Verwandtschaftslinien, andererseits seien im elften und zwölften Jahrhundert zahlreiche politisch einflußreiche Gräfinnen bekannt. Das Beschweigen der Welfin Judith und ihrer Schicksalsgenossinnen reflektiere keine "reale" Lage der Geschlechter, sondern sei als kritische Reaktion auf Frauen mit beänstigenden Herrschaftsbefugnissen zu werten.
Vielleicht seien die Männer so scharf darauf gewesen, den Frauen in den Ursprüngen und Identitäten ihrer Sippen einen bescheidenen Platz anzuweisen, weil sie den gegenteiligen Prozeß kannten, die Einschreibung der Frau auf Kosten des Mannes in den Stammbaum. Unglücklicherweise war dies einmal sogar heilsnotwendig, nämlich im Fall Jesu Christi. Nach biblischer Überlieferung soll der Erlöser von David abstammen; Joseph hätte demnach sein leiblicher Vater sein müssen, was der Botschaft von der Jungfrauengeburt Marias widersprach. Mit diesem Problem rangen die Gelehrten jahrhundertelang, bis Jesu Mutter statt ihres Bräutigams davidische Wurzeln zugeschrieben werden konnten. Mußten sich die herkunftsstolzen Männer des Mittelalters davor fürchten, daß ihre Frauen mit Maria als Vorbild auf ihren Rang pochten?
Wie man sieht, nimmt Geary bisweilen zu kühnen Spekulationen Zuflucht, weil er die geschlechtergeschichtlichen Kontexte seiner Zeugnisse nur allgemein beschreiben kann; die Gefahr des Zirkelschlusses liegt nahe, wo er den angeblichen maskulinen Frauendiskurs besser kennt als die äußeren Umstände, in denen seine Texte entstanden sind. Andererseits hat er sich in einem Fall eine glänzende Bestätigung seines Deutungsansatzes entgehen lassen, weil er zu eng auf die Herkunftssagen von Völkern und Familien fixiert war.
Die Rede ist von der "Chronik der Böhmen", die der Prager Domkleriker Cosmas in den Jahren vor seinem Tod 1125 verfaßt hat. Auch in der Vorgeschichte der Böhmen spielten demnach Amazonen eine Rolle, vor allem aber die tugendhafte Seherin Libuse. Eines Tages hätten die Männer, so berichtet Cosmas, Libuse als Richterin nicht mehr ertragen und verlangt, wie die anderen Nationen von einem Mann regiert zu werden. Libuse kam verärgert dem Wunsch nach, gründete mit dem Bauern Premysl die noch immer regierende Herzogsdynastie sowie die Stadt Prag; und da gleichzeitig die jungen böhmischen Männer die Stadt der Amazonen eroberten, konnte Cosmas resümieren: "Seit jener Zeit und dem Tod unserer Fürstin Libuse stehen die Frauen unter der Herrschaft der Männer."
Doch warum erzählt der Chronist diese Geschichte? Geary verweist richtig darauf, daß Cosmas aus seiner Lebenszeit eine Analogie kannte, die ihn nachhaltig beschäftigte. Im Jahr 1074 habe die italienische Markgräfin Mathilde in Rom Papst Gregor VII. dazu bewegen können, einen Ausgleich zwischen Bischof Jaromir von Prag und dessen Bruder, dem Herzog Vratislav, herzustellen. Zwischen Mathilde, der "klugen Beraterin der römischen Kirche", und Libuse waren die Parallelen offensichtlich, denn als Erbin ihres Vaters beherrschte sie weite Gebiete der Toskana und der Lombardei und hatte als Gattin des Herzogs Gottfried Anteil an der Herrschaft von Niederlothringen. Mit Gottfried, einem verwachsenen Menschlein, wurde sie unglücklich, aber der Papst verweigerte ihr eben im Jahr 1074 die Ehescheidung.
Nachdem Cosmas die erfolgreiche Vermittlung Mathildes zwischen den rivalisierenden Premysliden geschildert hatte, bricht sein Erzählgang ab; schon lange ist aufgefallen, daß er für die Jahre zwischen 1074 und 1082 fast nichts zu sagen hat, obwohl sich damals Welthistorisches ereignete: der dramatische Konflikt zwischen König Heinrich IV. und Gregor VII., bei dem die Markgräfin Mathilde eine Schlüsselrolle spielte. Es war ja Mathildes Burg Canossa, in der der Papst Schutz fand und vor der Heinrich kniefällig um die Wiederaufnahme in die Kirche flehte (27. Januar 1077). Wie zwischen Bischof Jaromir und dem Herzog hatte Mathilde zwischen König und Papst zu vermitteln gesucht, aber statt hier anzuknüpfen, erzählt Cosmas von ihr eine andere Geschichte, die erst ins Jahr 1089 gehört.
Damals war Mathilde aus politischen Gründen eine zweite Ehe eingegangen, eine anstößige Liaison, weil die Markgräfin bereits 42, ihr Bräutigam, der bayerische Herzogsohn Welf, aber nur 16 Jahre alt war. Cosmas stellt Mathilde vor wie Libuse: Sie sei mutig und mannhaft, eine in vielen Kriegen siegreiche Jungfrau gewesen, die ihrem Gemahl reiche Güter zuführte. Auch habe sie wie die sagenhafte Seherin um ihren Bräutigam geworben, weil es keinen Unterschied mache, ob der Mann oder die Frau in der Liebe den ersten Schritt tue. In der Hochzeitsnacht blieb Welf allerdings "ohne Venus", und als sich das Malheur in der folgenden Nacht wiederholte, argwöhnte der junge Mann Zaubermittel in Mathildes Kleidern. Splitternackt habe sich die Gräfin deshalb ausgezogen, sei auf ein Podest gestiegen und habe sich Welf von jeder Seite dargeboten, so daß er kein verstecktes magisches Accessoire entdecken konnte. Welf aber "stand da und ließ die Ohren hängen wie ein störrischer Esel", und als Mathildes Werben, "wie eine Gans mit dem Bürzel wackelnd", vergeblich blieb, warf sie ihn hinaus. Von dieser Katastrophe habe sich Welf nie erholt, auf Lebenszeit verurteilt zur Impotenz.
Am Schluß entschuldigt sich Cosmas, er hätte die schlüpfrige Geschichte nicht erzählen sollen, aber genügt seine Motivation vom Beginn, daß er den Leser vor Langweile bewahren wollte? Gewiß werden die Prager Domherren bei Cosmas' Vortrag oder der Lektüre seiner Chronik herzlich über Welf gelacht haben, weil sie wußten, gegen solches Versagen ihrer Manneskraft gewappnet zu sein! Die scheinbare Aberration des Autors ist aber verräterisch: Geleitet vom Motiv der politischen Vermittlung und in Erinnerung an die gescheiterte Trennung Mathildes von Herzog Gottfried breitete Cosmas die Geschichte der Vermählung mit dem jugendlichen Welf aus, um über das Geschehen von Canossa hinweggehen zu können. Hier hatte der Friedensstifter in den Händeln des Prager Herzogshauses, Gregor VII., König Heinrich als den Herrn der Reichskirche, der auch das Prager Bistum angehörte, so gedemütigt, daß es die Zeitgenossen als Umsturz der Weltordnung empfanden - und ausgerechnet Mathilde, der die Premysliden ihren (temporären) Ausgleich verdankten, hatte dem Papst Unterschlupf gewährt, statt ihn dem König auszuliefern!
Direkte Kritik an allen drei Protagonisten des Geschehens von Canossa verbot sich aus Prager Perspektive, aber mit der Erzählung von Mathilde und Welf konnte der Autor verdeutlichen, wohin es führte, wenn sich Frauen in die große Politik einmischten: ins totale Chaos. So betrachtet, greift Gearys Deutung für den Rekurs auf Libuse zu kurz. Es ging nicht nur darum, mit dem Gegenbeispiel der Mathilde von Tuszien die böhmischen Herzöge zu einem harten Regiment anzuhalten, sondern darum, vor Gefahr für das Weltganze zu warnen, die bei femininen Eingriffen in Herrschaftsbelange drohten.
Patrick J. Geary: "Am Anfang waren die Frauen". Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. Verlag C. H. Beck, München 2006. 135 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Rezensentin Sarah Elsing fühlt sich von den Ausführungen des Mediävisten Patrick J. Geary zur Rolle der Frauen in den europäischen Ursprungsmythen ebenso gut unterhalten wie informiert. Sein Ansatz ist nicht, den Wahrheitsgehalt einiger durch patriarchial geprägte Überlieferung in den Hintergrund gedrängter Geschichten in Erfahrung zu bringen, sondern an einigen beispielhaften Fällen die Entstehung von identitätsbildenden Mythen zu untersuchen. Die Darstellung gefällt Elsing außerordentlich gut, von Antike bis Mittelalter. Besonders angenehm wird die Lektüre zudem durch die "klare, einfache Sprache" Gearys, stellt die Rezensentin fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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