Lou fährt seinen unheilbar kranken Vater Larry zu einer Klinik in Zürich - sein Vater möchte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, was in seiner Heimat England gesetzlich verboten ist. Als nach vielen Kilometern in ihrem 80er- Jahre-VW Lous ältere Halbbrüder nach erstem Widerstand doch noch dazustoßen, deckt die Reise immer mehr innerfamiliäre Befindlichkeiten auf. Sie kämpfen, streiten, lachen, betrinken sich, philosophieren über das Leben und sich selbst - ein Roman, in dem sich jede Leserin und jeder Leser sofort finden wird!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2018Die Familie ist dunkle Materie
Letzte Reise mit zynischem Witz: Edward Docx schickt einen Vater mit drei Söhnen in die Schweiz zur Sterbehilfe
Larry Lasker weiß ziemlich genau, was er im Leben will - und was nicht. Der pensionierte Londoner Literaturwissenschaftler verbringt jeden einzelnen seiner Tage in nahezu mustergültiger Selbstbestimmtheit. Dann wird ihm eine Erkrankung an Amyotropher Lateralsklerose diagnostiziert, einer unheilbaren Krankheit des motorischen Nervensystems, die dafür sorgt, dass sich die Funktionsfähigkeit seiner Muskeln Stück für Stück abbaut. Larry möchte unter keinen Umständen zum Pflegefall werden und entscheidet sich deshalb für die einzige Alternative: Er möchte in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Seine drei Söhne Lou, Ralph und Jack wollen ihn auf diesem Weg begleiten. Und so begeben sie sich gemeinsam auf eine Reise, die in einer Züricher Klinik mit dem Tod enden soll und zugleich voller Leben steckt. Denn während das Männerquartett sich in einem klapprigen VW-Bus auf engstem Raum zusammenfindet, werden die vier zwangsläufig sowohl miteinander als auch mit sich selbst konfrontiert.
Edward Docx ergründet in seinem neuen Roman "Am Ende der Reise", der im englischen Original den Titel "Let Go My Hand" trägt, die Tiefen der Geschichte von Familie Lasker, die sich weitgehend auseinandergelebt hat und nun versucht, wieder zusammenzufinden. Der jüngste Sohn Lou führt den Leser als gewitzter und stellenweise höchst ironischer Erzähler, der auch häufig innehält, um in seine Kindheit zurückzublicken und über das Leben zu sinnieren, durch England, Frankreich, Deutschland und schließlich in die Schweiz.
In fünf Abschnitten, die unter anderem mit "Porträt eines Vaters" und "Porträt seiner Söhne" betitelt sind, zeichnet Edward Docx schwungvoll und in flüssiger Sprache Bilder der vier Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch durch ein entscheidendes Element, nämlich die Liebe zur Sprache, verbunden sind. Die Gestalt des Vaters Larry bildet den Dreh- und Angelpunkt in der Familie der Laskers. Der Literat hatte zwei große Lieben in seinem Leben: zum einen Carol, die depressive Mutter der Zwillinge Ralph und Jack, zum anderen Julia, die bereits verstorbene Mutter Lous, für die Larry Carol verlassen hat. Wie im Laufe des Romans ersichtlich wird, hat die Scheidung dem Familiengefüge tiefe Risse zugefügt.
Ungeachtet dessen lernt der Leser Ralph, Jack und Lou als lebensfrohe junge Männer kennen, die letztlich alle drei deutlich mehr von ihrem Vater geprägt sind, als es ihnen lieb ist, und dessen bevorstehender Verlust ihnen deshalb umso schwerer auf dem Herzen liegt. Wie Larry haben Ralph, ein studierter Anglist und Schauspieler mit einem Hang zu ironischer Selbstverherrlichung, sein Zwillingsbruder Jack, ein gesetzter Familienvater und Journalist, sowie Lou, ein Datenbankmanager, der eigentlich viel lieber Schriftsteller wäre, eine Vorliebe für literarische und philosophische Themen. Und so handeln viele der Gespräche, die den Hauptträger der Handlung bilden, von großen Emotionen. In scharfsinnigen Dialogen, die reich an zynischen Bemerkungen und witzigen Kommentaren sind, geht es um Angst und Verbitterung, um Liebe und Vertrauen. Vor allem aber lehrt Larry seine Söhne, das Glück der kleinen Dinge zu schätzen.
Wollte man die Grundthematik des Romans in einem Zitat zusammenfassen, wählte man am besten folgende Beobachtung Lous: "Ich weiß nicht, ob Tolstoi wirklich recht hatte. Hinter der Fassade jeder Familie, egal, ob sie glücklich oder unglücklich ist, verbirgt sich eine Menge dunkler Materie, mehr, als die Physik oder die Chemie bisher erforscht haben, eine Art dunkler Energie, die die einzelnen Mitglieder zusammenhält oder auseinandertreibt." Ebendiese dunkle Materie gilt es für die vier Männer auf ihrer Reise zu erforschen. Denn es sind gerade die Gedanken und Gefühle, die im Verborgenen liegen und manchmal mit Absicht versteckt gehalten werden, die erzählt, entdeckt und ergründet werden wollen. Mit jedem zurückgelegten Kilometer müssen Vater und Söhne erkennen, dass es dringend an der Zeit ist, ehrlich miteinander zu reden und unbequeme Wahrheiten ans Licht zu bringen, über die zu lange geschwiegen wurde.
Wie allerdings auch der klapprige VW-Bus an manchen Tagen Schwierigkeiten hat, in die Gänge zu kommen, stockt auch die Handlung streckenweise. Eine und damit vielleicht die einzige Schwäche des Werks liegt darin, dass die Erzählung erst von der zweiten Hälfte an Fahrt aufnimmt: Die Zwillingsbrüder gesellen sich in Frankreich zu Larry und Lou, wodurch der Roman dann entscheidend an Dynamik gewinnt.
Die Sterbehilfe, die den ernsten Ausgangspunkt des Geschehens bildet, wird erst in den letzten Kapiteln intensiv diskutiert, als der Moment, in dem Larry sich endgültig für oder gegen den begleiteten Suizid entscheiden muss, immer näher rückt. Die Idee, die Vorbereitung auf das eigene Sterben als Verlauf einer Reise bis zum Zeitpunkt des Todes zu gestalten, ist allerdings eine herausragende Stärke des Romans. Denn so bietet Docx den drei Söhnen in seiner Geschichte die Möglichkeit, eine entscheidende Frage zu beantworten: Welche Worte wählt man, um einen geliebten Menschen aus dem Leben zu verabschieden, wenn genügend Zeit bleibt, um alles zu sagen?
LAURA HENKEL
Edward Docx: "Am Ende der Reise". Roman.
Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer und Jenny Merling. Verlag
Kein & Aber, Zürich 2017. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Letzte Reise mit zynischem Witz: Edward Docx schickt einen Vater mit drei Söhnen in die Schweiz zur Sterbehilfe
Larry Lasker weiß ziemlich genau, was er im Leben will - und was nicht. Der pensionierte Londoner Literaturwissenschaftler verbringt jeden einzelnen seiner Tage in nahezu mustergültiger Selbstbestimmtheit. Dann wird ihm eine Erkrankung an Amyotropher Lateralsklerose diagnostiziert, einer unheilbaren Krankheit des motorischen Nervensystems, die dafür sorgt, dass sich die Funktionsfähigkeit seiner Muskeln Stück für Stück abbaut. Larry möchte unter keinen Umständen zum Pflegefall werden und entscheidet sich deshalb für die einzige Alternative: Er möchte in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Seine drei Söhne Lou, Ralph und Jack wollen ihn auf diesem Weg begleiten. Und so begeben sie sich gemeinsam auf eine Reise, die in einer Züricher Klinik mit dem Tod enden soll und zugleich voller Leben steckt. Denn während das Männerquartett sich in einem klapprigen VW-Bus auf engstem Raum zusammenfindet, werden die vier zwangsläufig sowohl miteinander als auch mit sich selbst konfrontiert.
Edward Docx ergründet in seinem neuen Roman "Am Ende der Reise", der im englischen Original den Titel "Let Go My Hand" trägt, die Tiefen der Geschichte von Familie Lasker, die sich weitgehend auseinandergelebt hat und nun versucht, wieder zusammenzufinden. Der jüngste Sohn Lou führt den Leser als gewitzter und stellenweise höchst ironischer Erzähler, der auch häufig innehält, um in seine Kindheit zurückzublicken und über das Leben zu sinnieren, durch England, Frankreich, Deutschland und schließlich in die Schweiz.
In fünf Abschnitten, die unter anderem mit "Porträt eines Vaters" und "Porträt seiner Söhne" betitelt sind, zeichnet Edward Docx schwungvoll und in flüssiger Sprache Bilder der vier Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch durch ein entscheidendes Element, nämlich die Liebe zur Sprache, verbunden sind. Die Gestalt des Vaters Larry bildet den Dreh- und Angelpunkt in der Familie der Laskers. Der Literat hatte zwei große Lieben in seinem Leben: zum einen Carol, die depressive Mutter der Zwillinge Ralph und Jack, zum anderen Julia, die bereits verstorbene Mutter Lous, für die Larry Carol verlassen hat. Wie im Laufe des Romans ersichtlich wird, hat die Scheidung dem Familiengefüge tiefe Risse zugefügt.
Ungeachtet dessen lernt der Leser Ralph, Jack und Lou als lebensfrohe junge Männer kennen, die letztlich alle drei deutlich mehr von ihrem Vater geprägt sind, als es ihnen lieb ist, und dessen bevorstehender Verlust ihnen deshalb umso schwerer auf dem Herzen liegt. Wie Larry haben Ralph, ein studierter Anglist und Schauspieler mit einem Hang zu ironischer Selbstverherrlichung, sein Zwillingsbruder Jack, ein gesetzter Familienvater und Journalist, sowie Lou, ein Datenbankmanager, der eigentlich viel lieber Schriftsteller wäre, eine Vorliebe für literarische und philosophische Themen. Und so handeln viele der Gespräche, die den Hauptträger der Handlung bilden, von großen Emotionen. In scharfsinnigen Dialogen, die reich an zynischen Bemerkungen und witzigen Kommentaren sind, geht es um Angst und Verbitterung, um Liebe und Vertrauen. Vor allem aber lehrt Larry seine Söhne, das Glück der kleinen Dinge zu schätzen.
Wollte man die Grundthematik des Romans in einem Zitat zusammenfassen, wählte man am besten folgende Beobachtung Lous: "Ich weiß nicht, ob Tolstoi wirklich recht hatte. Hinter der Fassade jeder Familie, egal, ob sie glücklich oder unglücklich ist, verbirgt sich eine Menge dunkler Materie, mehr, als die Physik oder die Chemie bisher erforscht haben, eine Art dunkler Energie, die die einzelnen Mitglieder zusammenhält oder auseinandertreibt." Ebendiese dunkle Materie gilt es für die vier Männer auf ihrer Reise zu erforschen. Denn es sind gerade die Gedanken und Gefühle, die im Verborgenen liegen und manchmal mit Absicht versteckt gehalten werden, die erzählt, entdeckt und ergründet werden wollen. Mit jedem zurückgelegten Kilometer müssen Vater und Söhne erkennen, dass es dringend an der Zeit ist, ehrlich miteinander zu reden und unbequeme Wahrheiten ans Licht zu bringen, über die zu lange geschwiegen wurde.
Wie allerdings auch der klapprige VW-Bus an manchen Tagen Schwierigkeiten hat, in die Gänge zu kommen, stockt auch die Handlung streckenweise. Eine und damit vielleicht die einzige Schwäche des Werks liegt darin, dass die Erzählung erst von der zweiten Hälfte an Fahrt aufnimmt: Die Zwillingsbrüder gesellen sich in Frankreich zu Larry und Lou, wodurch der Roman dann entscheidend an Dynamik gewinnt.
Die Sterbehilfe, die den ernsten Ausgangspunkt des Geschehens bildet, wird erst in den letzten Kapiteln intensiv diskutiert, als der Moment, in dem Larry sich endgültig für oder gegen den begleiteten Suizid entscheiden muss, immer näher rückt. Die Idee, die Vorbereitung auf das eigene Sterben als Verlauf einer Reise bis zum Zeitpunkt des Todes zu gestalten, ist allerdings eine herausragende Stärke des Romans. Denn so bietet Docx den drei Söhnen in seiner Geschichte die Möglichkeit, eine entscheidende Frage zu beantworten: Welche Worte wählt man, um einen geliebten Menschen aus dem Leben zu verabschieden, wenn genügend Zeit bleibt, um alles zu sagen?
LAURA HENKEL
Edward Docx: "Am Ende der Reise". Roman.
Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer und Jenny Merling. Verlag
Kein & Aber, Zürich 2017. 512 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main