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Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Originaltitel: Down by the River
  • Seitenzahl: 350
  • Abmessung: 34mm x 136mm x 210mm
  • Gewicht: 510g
  • ISBN-13: 9783455057249
  • ISBN-10: 3455057241
  • Artikelnr.: 24239410
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.1999

Rostiger Nagel, stählerne Moral
Kreuzweg zur Freiheit: Edna O'Briens Roman "Am Fluss"

Der zur Zeit sehr gefragte Michel Houellebecq schreibt in seinem Roman "Elementarteilchen" über Irland: "Viele Leute hier sind katholisch. Aber das ändert sich allmählich. Irland wird moderner. Mehrere Hightech-Unternehmen haben sich hier niedergelassen, um die reduzierten Sozialabgaben und die Steuerermäßigungen auszunutzen. Die Leute gehen weniger zur Messe, die sexuelle Freiheit ist größer als vor ein paar Jahren, es gibt immer mehr Diskotheken und Antidepressiva. Na ja, das klassische Schema." Der Franzose geisselt die Erosion von Traditionen zugunsten einer immer stärkeren Liberalisierung. Denn, wo es keine Messe mehr gibt, denken die Leute vor allem an sich. Sie fahren in Selbstfindungs-Camps, während die Kinder zu Hause dreizehn Stunden lang fernsehen. Houellebecq schreibt gegen einen ungehemmten Individualismus und hat Sehnsucht nach einer handfesten Moral, die den Einzelnen in seine Schranken weist.

Bei Edna O'Brien ist es umgekehrt. Die gebürtige Irin kämpft gegen moralische Schranken und hofft auf den endgültigen Einzug der Moderne in ihre Heimat. Sie schätzt die Liberalisierung mit ihren Diskotheken, denn eine größere Freiheit ist für sie keine Gefahr, sondern Fortschritt. Sie befördert die Selbstbestimmung des Einzelnen, gegen Messe und Moral, für die der Kollege vom Festland so überraschende Sympathien hat. In ihrem jüngsten Roman literarisiert O'Brien den spektakulären Fall eines vierzehnjährigen Mädchens, das, vergewaltigt und schwanger, Anfang der neunziger Jahre von der Justiz daran gehindert wurde, das irische Abtreibungsverbot in England zu umgehen.

O'Brien verlegt den Fall von Dublin aufs Dorf. In sozialer Enge und landschaftlicher Weite lebt Mary, ein halbes Kind und doch schwanger. Die Nachbarin, die die Verzweifelte aus dem Fluss gezogen hat, sitzt mit ihr bereits im Wartezimmer eines Londoner Arztes, als zwei Frauen daheim im Papierkorb eine Beratungsbroschüre finden und ihre Schlussfolgerungen ziehen. Das Dorf und die Polizei sind schnell alarmiert: Mary und ihre Begleiterin müssen zurückkehren. Schon am Flughafen werden sie in Gewahrsam genommen, denn Marys Reise nach England bringt sie nicht nur mit dem Gesetz ihres Landes in Konflikt, sondern ihre Freiheit steht gegen dessen religiöse und moralische Grundlagen. Diese werden von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verkörpert und treten dem Mädchen in Gestalt von Ärzten, glaubensfesten Betreuerinnen und militanten Abtreibungsgegnerinnen entgegen: "Das Baby wird immer lebendig herausgenommen. Es bewegt sich, atmet und weint. Dann wird es abgeschlachtet; Der Kopf wird ihm abgerissen, der Unterleib wird mit einem scharfen Messer durchstochen, und dann lässt man es in einem Eimer verenden. Lies dies neunmal pro Stunde, und du wirst erlöst werden."

O'Brien lässt die Protagonistin schwach und schwächer werden, je tiefer sie getroffen ist, je mehr sie von außen bestimmt wird. Kraftlos und vergeblich versucht sie, sich mit einem rostigen Nagel die Pulsadern zu öffnen. Einige Wohlmeinende versorgen ihre Wunden und warten mit Mary auf den Prozess, der ihr Schicksal entscheiden soll. Je näher er rückt, desto mehr treten die Juristen in den Vordergrund. "Das ungeborene Leben darf nicht aus dem Zuständigkeitsbereich des Gerichts entfernt werden . . . So steht es geschrieben. Das ist sakrosankt . . . Wir sind ein christliches Land . . . Wir sind ein Vorbild für die ganze Welt." Ein alter Richter widerspricht dem jungen Kollegen: "Wir sind Heiden." "Wir haben heidnische Triebe in uns . . ., heidnische Liebe, heidnische Begierde, heidnischen Hass . . ., deshalb brauchen wir Gott ja so dringend." Hier klingt das moralische Paradox des Falles an: Um dem Mädchen zu helfen, muss nicht nur das Gesetz gebeugt werden, sondern auch die christliche Moral, die vor dem schützen soll, was Mary widerfahren ist - vor der heidnischen Begierde.

Von dieser Begierde handelt der erste Teil des Buches, in dem Edna O'Brien die Geschichte des Missbrauchs erzählt. Der Leser erfährt, was das Mädchen bis zuletzt zu verschweigen versucht: Sie ist das Opfer ihres Vaters. O'Brien schildert eine kranke Mutter, die sich wie alle anderen den Signalen des Mädchens verschließt, das verstört aus dem Moor zurückkommt, stumm und mit Erstickungsanfällen vor dem Kamin liegt. Mary will fort und gerät doch immer wieder in den Bannkreis des Vaters, der mit seiner brutal umschlagenden Zärtlichkeit eine vielschichtige Figur ist. Die Macht, die er über seine Tochter hat, ist erschreckend. Sie gehört zu den subtilen Elementen des Buches, das sich hier, im Motiv des Inzests, von seiner Vorlage löst. Die einschneidende Veränderung erleichtert die Wertung des Falles, soll aber hinter der Illustration der Gegenwartsdiskussion auch ein archaisches Muster aufscheinen lassen. Dort, wo dieser Anspruch zu stark in den Vordergrund rückt, kommt es zu einer literarischen Überinstrumentierung.

Für Mary löst sich ihr Problem auf ganz natürliche Weise. Der Ausgang des Verfahrens spielt für das Schicksal der Protagonistin am Ende des Romans keine Rolle mehr. Die Entscheidung der Richter bleibt offen, aber alles deutet auf zunehmende Freiheit, wie in der Realität, in der dem vierzehnjährigen Mädchen die Ausreise aus Irland nicht verweigert werden durfte. O'Brien begrüßt diese Freiheit, schreibt für die Selbstbestimmung der Einzelnen, während Houellebecqs Stimme aus dem emanzipierten Frankreich vor Liberalisierung, Egoismus und Untergang warnt. Das Gleichzeitige ist ungleichzeitig und Europa noch lange nicht einig.

SANDRA KERSCHBAUMER

Edna O'Brien: "Am Fluss". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 352 S., geb., 39,90 DM.

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