Sebnem Isigüzel erzählt von dem Einfluss, den Familie und Gesellschaft auf den einzelnen Menschen ausüben - und damit sein Unglück besiegeln können. Dabei schafft sie einen kunstvoll konstruierten Roman über eine Stadt, die auf eine dreitausendjährige Geschichte zurückblickt und deren Gesichter gegensätzlicher nicht sein könnten.
Eine Mülldeponie am Rande von Istanbul. Hier lebt Leyla, die von den Obdachlosen die Königin des Müllbergs" genannt wird, und hier versucht sie, ihr altes, makelloses Leben zu vergessen: Sie wuchs als Kind einer türkischen Diplomatenfamilie in Moskau auf und besuchte die Schachschule von Botwinnik, in der sie zu einer berühmten Schachspielerin ausgebildet wurde. Sie lernte sogar die Schachgenies Karpow und Kasparow kennen und trat gegen sie an. Kurz vor ihrer Einbürgerung musste Leyla nach Istanbul zu - rückkehren, um dort zu heiraten. Aber bald darauf richtete sich ihr Ehemann durch seine Alkoholsucht zugrunde. Leyla verließ die schöne Welt und schuf sich ein neues Leben - inmitten von Müll und in Vergessenheit geratenen Existenzen jenseits der Türme von Istanbul. Eines Tages findet Leyla auf einem ihrer Streifzüge einen fast toten Mann im Müll. Sie nimmt ihn mit in ihre provisorische Lehmhütte, kümmert sich liebevoll um ihn und stellt sich mit der Zeit auch endlich der Tragödie
ihres eigenen Lebens. S, ebnem Ûs, igüzel vereint in ihrem Roman zwei Welten: Sie beschreibt anhand von Leylas zerrissener Lebensgeschichte nicht nur die moderne glanzvolle Seite der Stadt, sondern auch den Teil, der von der rasanten Entwicklung, die Istanbul wie kaum eine andere Metropole erlebt, nicht berührt wurde. So bereisen wir die aufregendste Stadt der Welt, die so direkt, so unverblümt beschrieben wird, dass dieser Roman Seite für Seite ein Lesefest ist - und diese Autorin eine Entdeckung.
Eine Mülldeponie am Rande von Istanbul. Hier lebt Leyla, die von den Obdachlosen die Königin des Müllbergs" genannt wird, und hier versucht sie, ihr altes, makelloses Leben zu vergessen: Sie wuchs als Kind einer türkischen Diplomatenfamilie in Moskau auf und besuchte die Schachschule von Botwinnik, in der sie zu einer berühmten Schachspielerin ausgebildet wurde. Sie lernte sogar die Schachgenies Karpow und Kasparow kennen und trat gegen sie an. Kurz vor ihrer Einbürgerung musste Leyla nach Istanbul zu - rückkehren, um dort zu heiraten. Aber bald darauf richtete sich ihr Ehemann durch seine Alkoholsucht zugrunde. Leyla verließ die schöne Welt und schuf sich ein neues Leben - inmitten von Müll und in Vergessenheit geratenen Existenzen jenseits der Türme von Istanbul. Eines Tages findet Leyla auf einem ihrer Streifzüge einen fast toten Mann im Müll. Sie nimmt ihn mit in ihre provisorische Lehmhütte, kümmert sich liebevoll um ihn und stellt sich mit der Zeit auch endlich der Tragödie
ihres eigenen Lebens. S, ebnem Ûs, igüzel vereint in ihrem Roman zwei Welten: Sie beschreibt anhand von Leylas zerrissener Lebensgeschichte nicht nur die moderne glanzvolle Seite der Stadt, sondern auch den Teil, der von der rasanten Entwicklung, die Istanbul wie kaum eine andere Metropole erlebt, nicht berührt wurde. So bereisen wir die aufregendste Stadt der Welt, die so direkt, so unverblümt beschrieben wird, dass dieser Roman Seite für Seite ein Lesefest ist - und diese Autorin eine Entdeckung.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2008Türkisches Schachspiel, dekonstruiert
Der Müllberg als Geisterbahn: In ihrem Roman „Am Rand” flirtet Sebnem Isigüzel mit orientalischen Märchenonkeln, erzähltheoretischen Diskursen und Psychopathologien der blutigen Art Von Maike Albath
Für Leyla besteht das Leben aus Müll. Seit über fünfzehn Jahren lebt die ehemalige Schachmeisterin, die als Tochter türkischer Diplomaten in Moskau aufgewachsen ist, gemeinsam mit Garri Kasparow an einer Schachschule ausgebildet wurde und ihre Eltern bei einem mysteriösen Autounfall verlor, auf der Deponie von Istanbul. Am Rand der Abfallgrube fühlt sie sich glücklicher, als sie es in ihrem bürgerlichen Leben je war. Dennoch bewahrt sie einen Zeitungsartikel auf, der von ihrem letzten Spiel gegen Kasparow berichtet. Eines Tages findet Leyla auf der Spitze eines Müllberges einen halb verbrannten Mann, nimmt ihn mit in ihre Hütte und pflegt seine Wunden.
Leyla gilt als die Königin der Deponie, denn sie war einst die Frau von Dolch gewesen, dem Herrscher der Müllhalde. Der charismatische Dolch hatte eine Art Kommune mit bestimmten Regeln etabliert: seine Männer, die Tourist, Tolstoj oder Fehmi hießen, teilten ihre Beute, beschützten einander und respektierten Leyla. Doch jetzt ist Dolch schon lange verschwunden. Leyla möchte ihre Position durch einen anderen Mann an ihrer Seite festigen. Dieser Mann, der wegen eines Samuraischwertes bald „,Vollstrecker” getauft wird, soll ihr zum Verhängnis werden.
Es ist die Mischung aus Archaik und absoluter Zeitgenossenschaft, die an Sebnem Isigüzels Roman „Am Rand” unmittelbar fasziniert. Die Schriftstellerin, Jahrgang 1973, Anthropologin und in Istanbul zu Hause, installiert von Anfang an eine Erzählerin und mischt sich lautstark in das Geschehen ein. Sie umgarnt den Leser, siezt ihn höflich, imitiert den Gestus eines orientalischen Märchenonkels, fabuliert, schmückt aus und macht Andeutungen, um sich im nächsten Moment als Kennerin sämtlicher strukturalistischer Texttheorien zu offenbaren – kurzum, sie spielt ihr eigenes Spiel, und am Anfang geht die Rechnung auf. Das Ganze hat etwas von einer Geisterbahnfahrt. Leylas Geschichte wird nämlich kontrastiert durch ein zweites Frauenschicksal: Yildiz ist Musikwissenschaftlerin und arbeitet an einer Biographie über einen berühmten Dirigenten namens Karacan – eine Art türkischer Wiedergänger von Karajan, der gerade unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Sollte seine Biographin damit etwas zu tun haben?
Yildiz steht unter dem Fluch ihrer ebenfalls verschwundenen Mutter, von der sie seit frühester Kindheit drangsaliert wurde. Auch der japanische Käferforscher Akira, mit dem sie eine kurze, glückliche Ehe führte, konnte sie nicht aus ihrem Wahnsystem erlösen. Als ihm Yildiz beim Haareschneiden ein Ohr absäbelte, ergriff er die Flucht. Genussvoll mischt die Autorin Elemente aus Thrillern und Horrorfilmen in ihren Roman, bedient sich gleichzeitig bei Flaubert und Tolstoj und verfährt auf formaler Ebene nach dem Muster des Schachspiels: Ihre beiden Heldinnen kommen abwechselnd zum Zug. Der einen gehören die Kapitel mit den ungeraden Zahlen, der anderen die mit den geraden.
Psychopathologien und alle Formen von Misshandlung haben es Sebnem Isigüzel besonders angetan. Immer wieder geht es in „Am Rand” hart zur Sache: wenn Leyla von einem Obdachlosen vergewaltigt und fast zerfleischt wird, wenn Karacan sein Schwert schwingt und seinen Widersachern den Kopf abschlägt oder wenn Yildiz erst einen befreundeten Professor absticht und dann noch ein entführtes Kind zu Tode kommen lässt. Trotz ihrer bilderreichen Sprache vermeidet die Autorin billige Drastik, bemüht sich vielmehr, das Grauen nachvollziehbar zu machen. Ihr Bild von der Türkei bekommt einen beunruhigenden Untergrund: Der hochmoderne Glanz scheint vor allem an der Oberfläche zu herrschen. Umgangsformen sind kaum mehr als Camouflage, darunter wütet eine schwer kontrollierbare Gewalt.
Statt den Roman mit diesen Passagen enden zu lassen, die in ihrer Düsternis sehr kraftvoll wirken, wird Sebnem Isigüzel zum Opfer ihrer formalen Ambitioniertheit. Nach etwa dreihundert Seiten gewinnt die Erzählerstimme immer stärker an Penetranz und wird zum Störgeräusch, bis sich die Geschichten von Leyla und Yildiz schließlich überkreuzen und – wie die Stimme selbst moniert – eher brachial enden. Nun folgt auch noch ein über hundertseitiger Appendix mit Interviews von Beteiligten, in dem die Autorin das Spiel mit dem Leser auf die Spitze treibt. Da kommt der Großvater Abidin Isigüzel zu Wort, ein Schachkenner und Urheber des besagten Zeitungsartikels über Leylas Partie gegen Kasparow, da wird der Ex-Mann von Leyla befragt und die Mutter des entführten Kindes, sogar Kasparow darf seine Erinnerungen an Leyla ausbreiten, und am Ende obliegt es einem Staatsanwalt, die Angelegenheit bis ins letzte Detail aufzuklären.
Nach dem Muster berühmter Vorbilder, von Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht” über Paul Austers „New York Trilogie” bis zu Orhan Pamuks „Schnee”, dekonstruiert Isigüzel die erzählten Geschehnisse. Aber ihr koketter Flirt mit erzähltheoretischen Diskursen wirkt im Schlussteil allzu anbiedernd und macht die Intensität des Hauptteils zunichte. Da hätte Sebnem Isigüzel mehr auf das vertrauen sollen, was sie auszeichnet: auf die Eigenart ihrer Geschichte.
Sebnem Isigüzel
Am Rand
Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 431 Seiten, 22 Euro.
Umgangsformen sind kaum mehr als Camouflage, darunter wütet die Gewalt
Der Literatur eines Landes, das eine Stadt wie Istanbul hat, geht der Erzählstoff nie aus. Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Der Müllberg als Geisterbahn: In ihrem Roman „Am Rand” flirtet Sebnem Isigüzel mit orientalischen Märchenonkeln, erzähltheoretischen Diskursen und Psychopathologien der blutigen Art Von Maike Albath
Für Leyla besteht das Leben aus Müll. Seit über fünfzehn Jahren lebt die ehemalige Schachmeisterin, die als Tochter türkischer Diplomaten in Moskau aufgewachsen ist, gemeinsam mit Garri Kasparow an einer Schachschule ausgebildet wurde und ihre Eltern bei einem mysteriösen Autounfall verlor, auf der Deponie von Istanbul. Am Rand der Abfallgrube fühlt sie sich glücklicher, als sie es in ihrem bürgerlichen Leben je war. Dennoch bewahrt sie einen Zeitungsartikel auf, der von ihrem letzten Spiel gegen Kasparow berichtet. Eines Tages findet Leyla auf der Spitze eines Müllberges einen halb verbrannten Mann, nimmt ihn mit in ihre Hütte und pflegt seine Wunden.
Leyla gilt als die Königin der Deponie, denn sie war einst die Frau von Dolch gewesen, dem Herrscher der Müllhalde. Der charismatische Dolch hatte eine Art Kommune mit bestimmten Regeln etabliert: seine Männer, die Tourist, Tolstoj oder Fehmi hießen, teilten ihre Beute, beschützten einander und respektierten Leyla. Doch jetzt ist Dolch schon lange verschwunden. Leyla möchte ihre Position durch einen anderen Mann an ihrer Seite festigen. Dieser Mann, der wegen eines Samuraischwertes bald „,Vollstrecker” getauft wird, soll ihr zum Verhängnis werden.
Es ist die Mischung aus Archaik und absoluter Zeitgenossenschaft, die an Sebnem Isigüzels Roman „Am Rand” unmittelbar fasziniert. Die Schriftstellerin, Jahrgang 1973, Anthropologin und in Istanbul zu Hause, installiert von Anfang an eine Erzählerin und mischt sich lautstark in das Geschehen ein. Sie umgarnt den Leser, siezt ihn höflich, imitiert den Gestus eines orientalischen Märchenonkels, fabuliert, schmückt aus und macht Andeutungen, um sich im nächsten Moment als Kennerin sämtlicher strukturalistischer Texttheorien zu offenbaren – kurzum, sie spielt ihr eigenes Spiel, und am Anfang geht die Rechnung auf. Das Ganze hat etwas von einer Geisterbahnfahrt. Leylas Geschichte wird nämlich kontrastiert durch ein zweites Frauenschicksal: Yildiz ist Musikwissenschaftlerin und arbeitet an einer Biographie über einen berühmten Dirigenten namens Karacan – eine Art türkischer Wiedergänger von Karajan, der gerade unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Sollte seine Biographin damit etwas zu tun haben?
Yildiz steht unter dem Fluch ihrer ebenfalls verschwundenen Mutter, von der sie seit frühester Kindheit drangsaliert wurde. Auch der japanische Käferforscher Akira, mit dem sie eine kurze, glückliche Ehe führte, konnte sie nicht aus ihrem Wahnsystem erlösen. Als ihm Yildiz beim Haareschneiden ein Ohr absäbelte, ergriff er die Flucht. Genussvoll mischt die Autorin Elemente aus Thrillern und Horrorfilmen in ihren Roman, bedient sich gleichzeitig bei Flaubert und Tolstoj und verfährt auf formaler Ebene nach dem Muster des Schachspiels: Ihre beiden Heldinnen kommen abwechselnd zum Zug. Der einen gehören die Kapitel mit den ungeraden Zahlen, der anderen die mit den geraden.
Psychopathologien und alle Formen von Misshandlung haben es Sebnem Isigüzel besonders angetan. Immer wieder geht es in „Am Rand” hart zur Sache: wenn Leyla von einem Obdachlosen vergewaltigt und fast zerfleischt wird, wenn Karacan sein Schwert schwingt und seinen Widersachern den Kopf abschlägt oder wenn Yildiz erst einen befreundeten Professor absticht und dann noch ein entführtes Kind zu Tode kommen lässt. Trotz ihrer bilderreichen Sprache vermeidet die Autorin billige Drastik, bemüht sich vielmehr, das Grauen nachvollziehbar zu machen. Ihr Bild von der Türkei bekommt einen beunruhigenden Untergrund: Der hochmoderne Glanz scheint vor allem an der Oberfläche zu herrschen. Umgangsformen sind kaum mehr als Camouflage, darunter wütet eine schwer kontrollierbare Gewalt.
Statt den Roman mit diesen Passagen enden zu lassen, die in ihrer Düsternis sehr kraftvoll wirken, wird Sebnem Isigüzel zum Opfer ihrer formalen Ambitioniertheit. Nach etwa dreihundert Seiten gewinnt die Erzählerstimme immer stärker an Penetranz und wird zum Störgeräusch, bis sich die Geschichten von Leyla und Yildiz schließlich überkreuzen und – wie die Stimme selbst moniert – eher brachial enden. Nun folgt auch noch ein über hundertseitiger Appendix mit Interviews von Beteiligten, in dem die Autorin das Spiel mit dem Leser auf die Spitze treibt. Da kommt der Großvater Abidin Isigüzel zu Wort, ein Schachkenner und Urheber des besagten Zeitungsartikels über Leylas Partie gegen Kasparow, da wird der Ex-Mann von Leyla befragt und die Mutter des entführten Kindes, sogar Kasparow darf seine Erinnerungen an Leyla ausbreiten, und am Ende obliegt es einem Staatsanwalt, die Angelegenheit bis ins letzte Detail aufzuklären.
Nach dem Muster berühmter Vorbilder, von Italo Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht” über Paul Austers „New York Trilogie” bis zu Orhan Pamuks „Schnee”, dekonstruiert Isigüzel die erzählten Geschehnisse. Aber ihr koketter Flirt mit erzähltheoretischen Diskursen wirkt im Schlussteil allzu anbiedernd und macht die Intensität des Hauptteils zunichte. Da hätte Sebnem Isigüzel mehr auf das vertrauen sollen, was sie auszeichnet: auf die Eigenart ihrer Geschichte.
Sebnem Isigüzel
Am Rand
Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 431 Seiten, 22 Euro.
Umgangsformen sind kaum mehr als Camouflage, darunter wütet die Gewalt
Der Literatur eines Landes, das eine Stadt wie Istanbul hat, geht der Erzählstoff nie aus. Foto: Regina Schmeken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2009Königin der Müllhalde
Sebnem Isigüzel hat ein bizarres Märchen verfasst
Sie heißen Dolch, Tourist, Vollstrecker oder Meuterei, und ihre Herkunft ist so mysteriös wie die Bedeutung ihrer Namen. Ihre alten Namen haben sie verloren, als sie verschwanden, um jenseits der Gesellschaft wiederaufzutauchen: auf einer Mülldeponie in Istanbul. Eines Tages findet Leyla, die Königin der Müllhalde, einen halbverkohlten Mann. "Er lag dort auf dem Gipfel des Müllbergs, als sei er im Reich Gottes verwundet und dann hinabgeworfen worden, vom Himmel gefallen, von einem Toten nicht zu unterscheiden." So ergeht es den Figuren in Sebnem Isigüzels Roman "Am Rand": Bewusstlos vor Seelenpein sind sie kopfüber aus ihrer bürgerlichen Existenz gestürzt und im ewigen Jetzt derer, die die Welt ausgespien hat, wieder zu sich gekommen.
Dumpfe Erinnerungen an eine beheizbare Wohnung und gekochten Hummer hüten sie wie einen Schatz. Leylas Schatz ist ein vergilbter Zeitungsartikel. Das Bild zeigt die frühere Leyla, Diplomatentochter und Schachwunderkind, bei einer Partie gegen Garri Kasparow. "Am Rand" ist ein Märchen, das nicht zur Gutenachtgeschichte taugt: Als Leylas Eltern sterben, hinterlassen sie eine hochtalentierte, aber nicht lebenstaugliche Träumerin mit reinem Herzen. Ungeliebt von der tyrannischen Verwandtschaft, sucht sie Zuflucht auf der Straße. Dort findet sie den Prinzen, der ihren Feinden im Notfall auch den Kopf abschlägt.
Leylas Gegenspielerin heißt Yildiz und ist Musikprofessorin. Noch lange nach dem Verschwinden ihrer Mutter leidet Yildiz unter deren Hass und fällt darüber dem Wahnsinn anheim. Diese komplementären Handlungsstränge schiebt Isigüzel ineinander wie bei einem Schachspiel. "Die beiden Geschichten rücken mit entsprechenden Zügen gegeneinander vor." Hinter dieser Strategie steht weniger ein psychologisches als ein kriminologisches Interesse: Wer ist hier die Doppelgängerin der anderen? Wer ist Gespenst, wer Wirklichkeit? Oder sind alle Figuren nur Splitter des Bewusstseins der Erzählerin, die obendrein den Namen der Autorin trägt?
"Man blättert in Erinnerungen, als wühle man im Müll." Zwischen Gedächtnismüll und Erinnerungsschutt bewegt sich die Metaphorik im Kreis und gibt der Anamnese der Vergangenheitsflüchtigen ihre assoziativ-ziellose Methode vor. Doch die seitenlangen Betrachtungen über die Natur des Gedächtnisses ergeben nichts Neues; die zahlreichen Hinweise auf Marcel Proust, den Fluchtpunkt jedes Nachdenkens über das Erinnern, dienen in erster Linie der weltliterarischen Rahmung des anspielungsreichen Textes.
Die kulleräugig-weltfremden Schilderungen der Überlebenskämpfe von Leyla und Yildiz vermögen den Leser anfangs mit Macht in den Bann dieser bizarren Parallelwelt zu ziehen, in der stets das Böse triumphiert. Allerdings ist die Geschwätzigkeit des sehr mit sich selbst beschäftigten Romans, der sein psychiatrisch hochinteressantes Personal zuweilen links liegenlässt, über die Distanz von mehr als 430 Seiten ermüdend. Die anfängliche Begeisterung wird im Laufe der Lektüre von allerlei selbstreflexiven Erzählexperimenten verschüttet.
ARIANE BREYER
Sebnem Isigüzel: "Am Rand". Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sebnem Isigüzel hat ein bizarres Märchen verfasst
Sie heißen Dolch, Tourist, Vollstrecker oder Meuterei, und ihre Herkunft ist so mysteriös wie die Bedeutung ihrer Namen. Ihre alten Namen haben sie verloren, als sie verschwanden, um jenseits der Gesellschaft wiederaufzutauchen: auf einer Mülldeponie in Istanbul. Eines Tages findet Leyla, die Königin der Müllhalde, einen halbverkohlten Mann. "Er lag dort auf dem Gipfel des Müllbergs, als sei er im Reich Gottes verwundet und dann hinabgeworfen worden, vom Himmel gefallen, von einem Toten nicht zu unterscheiden." So ergeht es den Figuren in Sebnem Isigüzels Roman "Am Rand": Bewusstlos vor Seelenpein sind sie kopfüber aus ihrer bürgerlichen Existenz gestürzt und im ewigen Jetzt derer, die die Welt ausgespien hat, wieder zu sich gekommen.
Dumpfe Erinnerungen an eine beheizbare Wohnung und gekochten Hummer hüten sie wie einen Schatz. Leylas Schatz ist ein vergilbter Zeitungsartikel. Das Bild zeigt die frühere Leyla, Diplomatentochter und Schachwunderkind, bei einer Partie gegen Garri Kasparow. "Am Rand" ist ein Märchen, das nicht zur Gutenachtgeschichte taugt: Als Leylas Eltern sterben, hinterlassen sie eine hochtalentierte, aber nicht lebenstaugliche Träumerin mit reinem Herzen. Ungeliebt von der tyrannischen Verwandtschaft, sucht sie Zuflucht auf der Straße. Dort findet sie den Prinzen, der ihren Feinden im Notfall auch den Kopf abschlägt.
Leylas Gegenspielerin heißt Yildiz und ist Musikprofessorin. Noch lange nach dem Verschwinden ihrer Mutter leidet Yildiz unter deren Hass und fällt darüber dem Wahnsinn anheim. Diese komplementären Handlungsstränge schiebt Isigüzel ineinander wie bei einem Schachspiel. "Die beiden Geschichten rücken mit entsprechenden Zügen gegeneinander vor." Hinter dieser Strategie steht weniger ein psychologisches als ein kriminologisches Interesse: Wer ist hier die Doppelgängerin der anderen? Wer ist Gespenst, wer Wirklichkeit? Oder sind alle Figuren nur Splitter des Bewusstseins der Erzählerin, die obendrein den Namen der Autorin trägt?
"Man blättert in Erinnerungen, als wühle man im Müll." Zwischen Gedächtnismüll und Erinnerungsschutt bewegt sich die Metaphorik im Kreis und gibt der Anamnese der Vergangenheitsflüchtigen ihre assoziativ-ziellose Methode vor. Doch die seitenlangen Betrachtungen über die Natur des Gedächtnisses ergeben nichts Neues; die zahlreichen Hinweise auf Marcel Proust, den Fluchtpunkt jedes Nachdenkens über das Erinnern, dienen in erster Linie der weltliterarischen Rahmung des anspielungsreichen Textes.
Die kulleräugig-weltfremden Schilderungen der Überlebenskämpfe von Leyla und Yildiz vermögen den Leser anfangs mit Macht in den Bann dieser bizarren Parallelwelt zu ziehen, in der stets das Böse triumphiert. Allerdings ist die Geschwätzigkeit des sehr mit sich selbst beschäftigten Romans, der sein psychiatrisch hochinteressantes Personal zuweilen links liegenlässt, über die Distanz von mehr als 430 Seiten ermüdend. Die anfängliche Begeisterung wird im Laufe der Lektüre von allerlei selbstreflexiven Erzählexperimenten verschüttet.
ARIANE BREYER
Sebnem Isigüzel: "Am Rand". Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In einer Mehrfachbesprechung zu neuerer türkischer Literatur kommt Tobias Völker auch auf den Roman "Am Rand" der Schriftstellerin Sebnem Isigüzels zu sprechen. Völker sieht das Buch als Teil einer neuen "Post-1980er-Literatur" , die provozieren will und den rasanten kulturellen Wandel widerspiegelt, den die türkische Gesellschaft trotz politischer Verschlossenheit in den letzten 30 Jahren durchgemacht hat. Der Militärputsch von 1980, der viele Autoren ins Exil trieb, bewirkte dadurch auch eine Emanzipation der Literaturszene: Themen wie Geschlechterrollen und Sexualität wurden nun aufgegriffen, berichtet Völker, die Schriftsteller mischten Privates mit Politischem, ohne sich einer Ideologie zu verschreiben. Isigüzels Buch hält Völker für "kantig, geradezu schroff"; die Autorin schreibe reißerisch, schräg und anklagend. Es geht um das Schicksal und die Begegnung zweier Heldinnen, einer Obachlosen und einer psychisch Kranken. Völker bedauert zwar, dass die Autorin stellenweise ins Ironische abdriftet und damit, wie er meint, der Wucht ihrer Worte im Wege steht. Doch das sei, wie er gleich einräumt, kein durchgehendes Manko - ein "magischer Realismus" überwiege.
© Perlentaucher Medien GmbH
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