Sebnem Isigüzel erzählt von dem Einfluss, den Familie und Gesellschaft auf den einzelnen Menschen ausüben - und damit sein Unglück besiegeln können. Dabei schafft sie einen kunstvoll konstruierten Roman über eine Stadt, die auf eine dreitausendjährige Geschichte zurückblickt und deren Gesichter gegensätzlicher nicht sein könnten.
Eine Mülldeponie am Rande von Istanbul. Hier lebt Leyla, die von den Obdachlosen die Königin des Müllbergs" genannt wird, und hier versucht sie, ihr altes, makelloses Leben zu vergessen: Sie wuchs als Kind einer türkischen Diplomatenfamilie in Moskau auf und besuchte die Schachschule von Botwinnik, in der sie zu einer berühmten Schachspielerin ausgebildet wurde. Sie lernte sogar die Schachgenies Karpow und Kasparow kennen und trat gegen sie an. Kurz vor ihrer Einbürgerung musste Leyla nach Istanbul zu - rückkehren, um dort zu heiraten. Aber bald darauf richtete sich ihr Ehemann durch seine Alkoholsucht zugrunde. Leyla verließ die schöne Welt und schuf sich ein neues Leben - inmitten von Müll und in Vergessenheit geratenen Existenzen jenseits der Türme von Istanbul. Eines Tages findet Leyla auf einem ihrer Streifzüge einen fast toten Mann im Müll. Sie nimmt ihn mit in ihre provisorische Lehmhütte, kümmert sich liebevoll um ihn und stellt sich mit der Zeit auch endlich der Tragödie
ihres eigenen Lebens. S, ebnem Ûs, igüzel vereint in ihrem Roman zwei Welten: Sie beschreibt anhand von Leylas zerrissener Lebensgeschichte nicht nur die moderne glanzvolle Seite der Stadt, sondern auch den Teil, der von der rasanten Entwicklung, die Istanbul wie kaum eine andere Metropole erlebt, nicht berührt wurde. So bereisen wir die aufregendste Stadt der Welt, die so direkt, so unverblümt beschrieben wird, dass dieser Roman Seite für Seite ein Lesefest ist - und diese Autorin eine Entdeckung.
Eine Mülldeponie am Rande von Istanbul. Hier lebt Leyla, die von den Obdachlosen die Königin des Müllbergs" genannt wird, und hier versucht sie, ihr altes, makelloses Leben zu vergessen: Sie wuchs als Kind einer türkischen Diplomatenfamilie in Moskau auf und besuchte die Schachschule von Botwinnik, in der sie zu einer berühmten Schachspielerin ausgebildet wurde. Sie lernte sogar die Schachgenies Karpow und Kasparow kennen und trat gegen sie an. Kurz vor ihrer Einbürgerung musste Leyla nach Istanbul zu - rückkehren, um dort zu heiraten. Aber bald darauf richtete sich ihr Ehemann durch seine Alkoholsucht zugrunde. Leyla verließ die schöne Welt und schuf sich ein neues Leben - inmitten von Müll und in Vergessenheit geratenen Existenzen jenseits der Türme von Istanbul. Eines Tages findet Leyla auf einem ihrer Streifzüge einen fast toten Mann im Müll. Sie nimmt ihn mit in ihre provisorische Lehmhütte, kümmert sich liebevoll um ihn und stellt sich mit der Zeit auch endlich der Tragödie
ihres eigenen Lebens. S, ebnem Ûs, igüzel vereint in ihrem Roman zwei Welten: Sie beschreibt anhand von Leylas zerrissener Lebensgeschichte nicht nur die moderne glanzvolle Seite der Stadt, sondern auch den Teil, der von der rasanten Entwicklung, die Istanbul wie kaum eine andere Metropole erlebt, nicht berührt wurde. So bereisen wir die aufregendste Stadt der Welt, die so direkt, so unverblümt beschrieben wird, dass dieser Roman Seite für Seite ein Lesefest ist - und diese Autorin eine Entdeckung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2009Königin der Müllhalde
Sebnem Isigüzel hat ein bizarres Märchen verfasst
Sie heißen Dolch, Tourist, Vollstrecker oder Meuterei, und ihre Herkunft ist so mysteriös wie die Bedeutung ihrer Namen. Ihre alten Namen haben sie verloren, als sie verschwanden, um jenseits der Gesellschaft wiederaufzutauchen: auf einer Mülldeponie in Istanbul. Eines Tages findet Leyla, die Königin der Müllhalde, einen halbverkohlten Mann. "Er lag dort auf dem Gipfel des Müllbergs, als sei er im Reich Gottes verwundet und dann hinabgeworfen worden, vom Himmel gefallen, von einem Toten nicht zu unterscheiden." So ergeht es den Figuren in Sebnem Isigüzels Roman "Am Rand": Bewusstlos vor Seelenpein sind sie kopfüber aus ihrer bürgerlichen Existenz gestürzt und im ewigen Jetzt derer, die die Welt ausgespien hat, wieder zu sich gekommen.
Dumpfe Erinnerungen an eine beheizbare Wohnung und gekochten Hummer hüten sie wie einen Schatz. Leylas Schatz ist ein vergilbter Zeitungsartikel. Das Bild zeigt die frühere Leyla, Diplomatentochter und Schachwunderkind, bei einer Partie gegen Garri Kasparow. "Am Rand" ist ein Märchen, das nicht zur Gutenachtgeschichte taugt: Als Leylas Eltern sterben, hinterlassen sie eine hochtalentierte, aber nicht lebenstaugliche Träumerin mit reinem Herzen. Ungeliebt von der tyrannischen Verwandtschaft, sucht sie Zuflucht auf der Straße. Dort findet sie den Prinzen, der ihren Feinden im Notfall auch den Kopf abschlägt.
Leylas Gegenspielerin heißt Yildiz und ist Musikprofessorin. Noch lange nach dem Verschwinden ihrer Mutter leidet Yildiz unter deren Hass und fällt darüber dem Wahnsinn anheim. Diese komplementären Handlungsstränge schiebt Isigüzel ineinander wie bei einem Schachspiel. "Die beiden Geschichten rücken mit entsprechenden Zügen gegeneinander vor." Hinter dieser Strategie steht weniger ein psychologisches als ein kriminologisches Interesse: Wer ist hier die Doppelgängerin der anderen? Wer ist Gespenst, wer Wirklichkeit? Oder sind alle Figuren nur Splitter des Bewusstseins der Erzählerin, die obendrein den Namen der Autorin trägt?
"Man blättert in Erinnerungen, als wühle man im Müll." Zwischen Gedächtnismüll und Erinnerungsschutt bewegt sich die Metaphorik im Kreis und gibt der Anamnese der Vergangenheitsflüchtigen ihre assoziativ-ziellose Methode vor. Doch die seitenlangen Betrachtungen über die Natur des Gedächtnisses ergeben nichts Neues; die zahlreichen Hinweise auf Marcel Proust, den Fluchtpunkt jedes Nachdenkens über das Erinnern, dienen in erster Linie der weltliterarischen Rahmung des anspielungsreichen Textes.
Die kulleräugig-weltfremden Schilderungen der Überlebenskämpfe von Leyla und Yildiz vermögen den Leser anfangs mit Macht in den Bann dieser bizarren Parallelwelt zu ziehen, in der stets das Böse triumphiert. Allerdings ist die Geschwätzigkeit des sehr mit sich selbst beschäftigten Romans, der sein psychiatrisch hochinteressantes Personal zuweilen links liegenlässt, über die Distanz von mehr als 430 Seiten ermüdend. Die anfängliche Begeisterung wird im Laufe der Lektüre von allerlei selbstreflexiven Erzählexperimenten verschüttet.
ARIANE BREYER
Sebnem Isigüzel: "Am Rand". Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sebnem Isigüzel hat ein bizarres Märchen verfasst
Sie heißen Dolch, Tourist, Vollstrecker oder Meuterei, und ihre Herkunft ist so mysteriös wie die Bedeutung ihrer Namen. Ihre alten Namen haben sie verloren, als sie verschwanden, um jenseits der Gesellschaft wiederaufzutauchen: auf einer Mülldeponie in Istanbul. Eines Tages findet Leyla, die Königin der Müllhalde, einen halbverkohlten Mann. "Er lag dort auf dem Gipfel des Müllbergs, als sei er im Reich Gottes verwundet und dann hinabgeworfen worden, vom Himmel gefallen, von einem Toten nicht zu unterscheiden." So ergeht es den Figuren in Sebnem Isigüzels Roman "Am Rand": Bewusstlos vor Seelenpein sind sie kopfüber aus ihrer bürgerlichen Existenz gestürzt und im ewigen Jetzt derer, die die Welt ausgespien hat, wieder zu sich gekommen.
Dumpfe Erinnerungen an eine beheizbare Wohnung und gekochten Hummer hüten sie wie einen Schatz. Leylas Schatz ist ein vergilbter Zeitungsartikel. Das Bild zeigt die frühere Leyla, Diplomatentochter und Schachwunderkind, bei einer Partie gegen Garri Kasparow. "Am Rand" ist ein Märchen, das nicht zur Gutenachtgeschichte taugt: Als Leylas Eltern sterben, hinterlassen sie eine hochtalentierte, aber nicht lebenstaugliche Träumerin mit reinem Herzen. Ungeliebt von der tyrannischen Verwandtschaft, sucht sie Zuflucht auf der Straße. Dort findet sie den Prinzen, der ihren Feinden im Notfall auch den Kopf abschlägt.
Leylas Gegenspielerin heißt Yildiz und ist Musikprofessorin. Noch lange nach dem Verschwinden ihrer Mutter leidet Yildiz unter deren Hass und fällt darüber dem Wahnsinn anheim. Diese komplementären Handlungsstränge schiebt Isigüzel ineinander wie bei einem Schachspiel. "Die beiden Geschichten rücken mit entsprechenden Zügen gegeneinander vor." Hinter dieser Strategie steht weniger ein psychologisches als ein kriminologisches Interesse: Wer ist hier die Doppelgängerin der anderen? Wer ist Gespenst, wer Wirklichkeit? Oder sind alle Figuren nur Splitter des Bewusstseins der Erzählerin, die obendrein den Namen der Autorin trägt?
"Man blättert in Erinnerungen, als wühle man im Müll." Zwischen Gedächtnismüll und Erinnerungsschutt bewegt sich die Metaphorik im Kreis und gibt der Anamnese der Vergangenheitsflüchtigen ihre assoziativ-ziellose Methode vor. Doch die seitenlangen Betrachtungen über die Natur des Gedächtnisses ergeben nichts Neues; die zahlreichen Hinweise auf Marcel Proust, den Fluchtpunkt jedes Nachdenkens über das Erinnern, dienen in erster Linie der weltliterarischen Rahmung des anspielungsreichen Textes.
Die kulleräugig-weltfremden Schilderungen der Überlebenskämpfe von Leyla und Yildiz vermögen den Leser anfangs mit Macht in den Bann dieser bizarren Parallelwelt zu ziehen, in der stets das Böse triumphiert. Allerdings ist die Geschwätzigkeit des sehr mit sich selbst beschäftigten Romans, der sein psychiatrisch hochinteressantes Personal zuweilen links liegenlässt, über die Distanz von mehr als 430 Seiten ermüdend. Die anfängliche Begeisterung wird im Laufe der Lektüre von allerlei selbstreflexiven Erzählexperimenten verschüttet.
ARIANE BREYER
Sebnem Isigüzel: "Am Rand". Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann. Berlin Verlag, Berlin 2008. 432 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
In einer Mehrfachbesprechung zu neuerer türkischer Literatur kommt Tobias Völker auch auf den Roman "Am Rand" der Schriftstellerin Sebnem Isigüzels zu sprechen. Völker sieht das Buch als Teil einer neuen "Post-1980er-Literatur" , die provozieren will und den rasanten kulturellen Wandel widerspiegelt, den die türkische Gesellschaft trotz politischer Verschlossenheit in den letzten 30 Jahren durchgemacht hat. Der Militärputsch von 1980, der viele Autoren ins Exil trieb, bewirkte dadurch auch eine Emanzipation der Literaturszene: Themen wie Geschlechterrollen und Sexualität wurden nun aufgegriffen, berichtet Völker, die Schriftsteller mischten Privates mit Politischem, ohne sich einer Ideologie zu verschreiben. Isigüzels Buch hält Völker für "kantig, geradezu schroff"; die Autorin schreibe reißerisch, schräg und anklagend. Es geht um das Schicksal und die Begegnung zweier Heldinnen, einer Obachlosen und einer psychisch Kranken. Völker bedauert zwar, dass die Autorin stellenweise ins Ironische abdriftet und damit, wie er meint, der Wucht ihrer Worte im Wege steht. Doch das sei, wie er gleich einräumt, kein durchgehendes Manko - ein "magischer Realismus" überwiege.
© Perlentaucher Medien GmbH
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