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Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt, Reinbek
  • Originaltitel: The Gift of Time
  • Seitenzahl: 285
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 498g
  • ISBN-13: 9783498063337
  • ISBN-10: 3498063332
  • Artikelnr.: 24048728
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1999

Wunsch-Daumenpeilungen
Gespräche mit den pensionierten Pionieren der Abrüstung

Jonathan Schell: Am Scheideweg. Die Atomwaffen und die Zukunft der Erde. Deutsch von Petra Post und Andrea von Struve. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 286 Seiten, 42,- Mark.

Für den amerikanischen Publizisten Jonathan Schell hat es in den letzten Jahrzehnten zwei Terrorsysteme auf der Welt gegeben: das totalitäre Terrorsystem im Osten. Von dem haben sich die Menschen befreit. Und das nukleare Terrorsystem, unter dem wir alle leben und von dem sich zu befreien nun höchste Zeit sei. Man hört in dieser Begriffsverwirrung einen Unterton von Panik und die aktivistischen Obertöne. Schell hatte 1982 mit seinem internationalen Bestseller "Das Schicksal der Erde" die apokalyptische Fraktion unter den Nuklearwaffen-Gegnern in der amerikanischen "Nuclear Freeze"- und den westeuropäischen Friedensbewegungen reichlich mit eigenen und anderswoher genommenen Argumenten versorgt. In "Am Scheideweg" konstatiert er nun einen maßgeblichen Einfluss dieser sozialen Bewegungen auf die Wende in der Rüstungspolitik zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Das ist so plausibel wie das Gegenteil. Entsprechend behaupten die Anhänger der nuklearen Abschreckung im Ost-West-Konflikt, diese habe den entscheidenden, den mit Atomwaffen geführten Krieg verhindert, während die Gegner dieser Doktrin der festen Meinung sind, der Atomkrieg sei trotz und nicht wegen der nuklearen Abschreckung bisher ausgeblieben. Alles Spiegelfechtereien.

Welche Rolle Nuklearwaffen für Krieg und Frieden in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wirklich gespielt haben, ist offen. Dass sie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hätten abgeschafft werden können und müssen, zumindest noch viel drastischer reduziert werden, das ist die Meinung fast aller der hier zur Sprache kommenden politischen und militärischen Autoritäten. Schells Langreportage ist eine durchkomponierte Folge von Gesprächsaufzeichnungen, ganz im Stile von "The New Yorker". Zu den prominenten Gesprächspartnern gehören Robert McNamara und Alan Cranston, Helmut Schmidt, Lord Carver und Michail Gorbatschow. Ein umfangreiches Kapitel ist den Anschauungen von General George Lee Butler gewidmet, dem Oberbefehlshaber der strategischen Streitkräfte Washingtons zu Beginn der neunziger Jahre. Hohe Militärs, die sich gegen Nuklearwaffen aussprechen, genießen bei Schell besondere Glaubwürdigkeit (die anderen nicht).

Die befragten politischen und Strategie-Fachleute aus Amerika, Europa und Russland befürworten das Ziel, die Nuklearwaffen möglichst rasch abzuschaffen. Ihre Argumente und Vorschläge variieren beträchtlich, und nicht alle lassen sich miteinander kombinieren. Schell betrachtet seine Gewährsleute dennoch alle mehr oder weniger als "Pioniere" auf dem Gebiet der vollständigen Abrüstung; seine Hoffnung ist, dass diesen Pionieren bald "Siedler" folgen, die das neue Gedankengut weiterverarbeiten und -verbreiten, so dass schließlich ein "neues Establishment" es irgendwann aufnehmen und zur Basis seiner Politik machen wird.

Dieser appellierende und aktivistische Grundton durchzieht das ganze Buch. Das schon bestehende Netz der Nuklearwaffen-Gegner soll weiter und weiter geknüpft werden. Bis jetzt sind die meisten der Schell'schen Pioniere ja Pensionäre. Das diskreditiert zwar nicht ihre Gedanken, gibt ihnen aber häufig (im Falle der ehemaligen Politiker) einen Anstrich von Volkspädagogik und (im Falle der ehemaligen Berufssoldaten) einen von professionellem Außenseitertum. Jedoch verhindert das nicht, dass die Lektüre an vielen Stellen nutzbringend ist. Man erfährt einiges über neue Rüstungskontroll-Konzepte für Nuklearwaffen, zusammengefasst als "horizontale Abrüstung", bei der es zuvörderst nicht um die Reduzierung der Zahlen von Nuklearwaffen, sondern um die Herabsetzung ihrer Einsatzfähigkeit geht.

Eines der Hauptargumente von Nuklearwaffen-Befürwortern, das Vertragsbruch-Argument, wird kritisch hin- und hergewendet und schließlich doch verworfen. Es besagt, dass keine noch so genaue Verifikation nuklearer Abrüstung sicher verhindern kann, dass später irgendein Akteur, ein Außenseiter-Staat etwa oder eine kriminelle Bande, das ausgehandelte Verbot heimlich unterläuft und so, auch noch als einziger, in den Besitz von Nuklearwaffen kommt. Wie lautet das Gegenargument dazu? Es ist eigentlich keines, sondern eine Wunsch-Daumenpeilung: Die Gefahr, die von einem solchen Vertragsbrecher ausgeht, sei letztlich geringer als die Gefahr der Existenz Hunderter und Aberhunderter von Nuklearwaffen in den Händen der jetzigen und künftigen Nuklearwaffenstaaten.

Es mag sein, dass in fernerer Zukunft Nuklearwaffen als militärische und politische Instrumente so gut wie abgeschafft werden. Die Voraussetzung ist, dass sie militärisch und politisch bedeutungslos geworden sind. Die heutigen Nuklearwaffen-Gegner behaupten, sie seien auch heute schon bedeutungslos, aber das stimmt leider nicht. Zwar streben viele Staaten, die es erfolgreich könnten, nicht nach dem Besitz von Nuklearwaffen, aber andere eben doch. Das Proliferations-Problem lässt sich jedenfalls nicht mit dem Hinweis auf den scheinbar unwiderlegbaren Beweis lösen, Nuklearwaffenbesitz bringe nichts ein.

Wer über die Zukunft dieser Waffen ernsthaft reflektiert, muss sie in den größeren Zusammenhang moderner Rüstungstechnologie, künftiger Kriegsbilder und politischer Konfliktmuster in der Welt von morgen stellen. Nur so und nicht in einseitiger Konzentration auf nukleare Waffensysteme lassen sich Konzepte ihrer quantitativen und qualitativen Entschärfung finden und durchsetzen.

WILFRIED VON BREDOW

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