Ein Nachmittag am See – tiefgründig, leise und wundervoll erzählt.
Leise, relativ unspektakulär, erscheint uns ein kleines Ereignis, welches sich eines Sonntagnachmittags am See ereignet. Nichts großartiges, könnte man meinen, und dennoch verändert es die Welt der zwölfjährigen Nora grundlegend.
Es ist ihr Abschied aus der Kindheit, ein Eintauchen in die Welt der Erwachsenen, mit all ihren…mehrEin Nachmittag am See – tiefgründig, leise und wundervoll erzählt.
Leise, relativ unspektakulär, erscheint uns ein kleines Ereignis, welches sich eines Sonntagnachmittags am See ereignet. Nichts großartiges, könnte man meinen, und dennoch verändert es die Welt der zwölfjährigen Nora grundlegend. Es ist ihr Abschied aus der Kindheit, ein Eintauchen in die Welt der Erwachsenen, mit all ihren kleinen und nicht ganz so kleinen Problemen.
Nora freut sich immer auf die Sonntage, denn dann fährt sie mit der Bahn zum großen Stausee in den Pyrenäen, zusammen mit ein paar Erwachsenen, und dem fünfjährigen Quim, der sich als notorischer Quälgeist entpuppt. Die Erwachsenen sind untereinander verwandt, oder verbindet sonstige alltägliche Begegnungen. Sie werden uns vorgestellt in Kapiteln, kommen uns näher, stehen und leben vor unserem geistigen Auge wie reale Personen. Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen Ich-Erzähung von Nora. Meistens geht es um jenen Nachmittag, der so viel Grund gibt, die kleine Gesellschaft vor uns zu entblättern.
Der See ist tief, von Pappeln gesäumt, welche Schatten bieten, Sitzgelegenheiten, oder Halt im Wasser am Ufer. Jeden Sonntag, sobald es die Witterung erlaubt, zieht es die Gruppe Menschen an den See – ein Stausee, einst der größte von Europa, mit gefluteten Ruinen in seinen Tiefen.
Maria Barbal zeichnet ein intensives Bild dieser wenigen Personen. Wie im See, schlummern in den Tiefen der Seelen Ängste, Sorgen, Hoffnungen. Meist ist die Oberfläche ruhig, nur gekräuselt. Manchmal rumort es in den Herzen wie im See.
Lídia, Tonis Frau, ist mit dabei. Und Toni, der nicht schwimmen kann, kommt jedes mal mit seinem roten Seat nach, verweilt zum Mittagessen am See, verschwindet wieder, nimmt kaum aktiv Teil. Außer an jenem Nachmittag. Er betreibt einen Schuhgeschäft, ist dabei nicht sehr glücklich. Das Knien vor der Kundschaft beim Anprobieren der Schuhe empfindet er demütigend. Am liebsten wäre er Bauer am Hof seiner verstorbenen Eltern, aber das Zerwürfnis mit seiner Schwester … und seine Unstimmigkeiten mit Senor Joaquim, ein Verkäufer in seinem Laden, der immer mit am See ist.
Vieles geschieht aus dem Blickwinkel von Nora, die die Sicht der Welt aus drei Generationen erfährt. Ihre Eltern, welche niemals mit an den See kommen, treten in den Hintergrund, und haben dennoch ein wachendes Auge auf ihre Tochter.
Die Autorin versteht es sehr gekonnt, mit wenigen Worten großartige Bilder zu malen. Sie nimmt uns mit an das Ufer, lässt uns an den Gedanken ihrer Protagonist:innen teilhaben, erlaubt uns, sie näher kennenzulernen. Man könnte fast meinen, immer schon mit ihnen die Sonntage am See verbracht zu haben. Eindrücklich, sanft! Und dennoch bleibt viel Ungesagtes zwischen den Zeilen hängen, wie die Blätter der Pappeln am See.
S.132: „Die Pappeln scheinen dann im Sonnenlicht zu träumen, das Wasser ist wärmer als am Morgen und es herrscht eine tiefe Stille.“
Ganz große Erzählkunst und absolute Leseempfehlung für diesen wundervollen Roman, er reiht sich ein in die All-time Favorites.
Einziges Kritikpunkt meinerseits: das Cover passt nicht so recht zum Inhalt.