Zum Kilimandscharo reist in diesem wundersamen Buch der Ich-Erzähler, hinter dem sein Autor Arnold Stadler gut zu erkennen ist. Eine Reportage soll er schreiben, aber er will weder auf den Gipfel noch auf Safari gehen. Im Gegenteil: Er hat Angst vor wilden Tieren und einen Smoking und Lackschuhe im Gepäck, weil er ja anschließend eine Einladung nach Bremen hat ... Und es genügt ihm völlig, einfach den wunderbaren Berg anzuschauen, der als Ölgemälde in der elterlichen Wohnstube hing und seither sein Sehnsuchtsziel ist.
Die Reise nach Afrika wird für den Erzähler zu einer tragikomischen Tour de Force durch deutsche Gegenwart, koloniale Vergangenheit und touristische Träume. Und, wie könnte es anders sein bei diesem Autor, zu einer kurvenreichen Erkundung des eigenen Inneren und des ganzen menschlichen Lebens. »Am siebten Tag flog ich zurück« ist ein poetisches Plädoyer, in einer sich wandelnden Welt das eigene Ich zu erhalten, die eigenen Wege zu gehen - und auf dem Glück zu bestehen.
Die Reise nach Afrika wird für den Erzähler zu einer tragikomischen Tour de Force durch deutsche Gegenwart, koloniale Vergangenheit und touristische Träume. Und, wie könnte es anders sein bei diesem Autor, zu einer kurvenreichen Erkundung des eigenen Inneren und des ganzen menschlichen Lebens. »Am siebten Tag flog ich zurück« ist ein poetisches Plädoyer, in einer sich wandelnden Welt das eigene Ich zu erhalten, die eigenen Wege zu gehen - und auf dem Glück zu bestehen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2021Trotz Flugscham am Gipfel
Arnold Stadler reist zum Kilimandscharo und landet in Bremen
Vor vier Jahren, als das Wünschen noch geholfen hat, durfte der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Arnold Stadler sich im Auftrag der Reisebeilage einer großen Wochenzeitung ein „Sehnsuchtsziel“ aussuchen. Er hätte, räumt er ein, auch die Graf-Ludwig-Hütte im Wald von Schwackenreute nennen können oder den Garten seines Sommerhäuschens in Sallahn an der Elbe. Aber dann wurde es der Kilimandscharo. Denn dessen schneebedeckter Gipfel Kibo, 1929 in Öl verewigt von dem Stuttgarter Maler Fritz Lang, fand einst den Weg in Stadlers Elternhaus in Rast bei Meßkirch, das er bis heute bewohnt, und hat von der Esszimmerwand aus die Fantasie des Knaben Arnold für ein ganzes Leben beflügelt.
So kam es, dass der Autor, trotz Flugangst (und Flugscham, hätte es das Wort da schon gegeben), am Tag der Heiligen Drei Könige des Jahres 2017 nach Tansania aufbrach, eine Woche blieb und wenig später den Text verfasste, mit dem die kooperierende Reiseagentur seither auf ihrer Website wirbt. Der mit der Schöpfungsgeschichte flirtende Schlusssatz der Reportage, „Am siebten Tag flog ich zurück“, ergab dann den Titel für das Buch, das sich als Projekt damals schon abzeichnete: So funktioniert, in der harmlosesten Variante, das global regierende Win-win-Prinzip, gegen das der Anti-Utilitarist Stadler im „Präludium vor der Abreise“ zornig wettert.
Das Vorspiel ist ein Kapitel für sich und markiert in einem mäandernden Rundumschlag den Horizont der Erzählung, an dem Stadler-Leser sogleich Vertrautes sichten: das oberschwäbische Kindheitsmilieu, die ironisch gebrochene Selbstinszenierung des Dichters als Narr und Schmerzensmann, seine ewige Sehnsucht nach Weltaneignung, die sogar über das Klima-Gewissen siegt, seine Neigung zu Anekdoten und Aphorismen, Abschweifungen und Arabesken. Elegant wird das Thema Hemingway abgehakt: Weder die berühmte Kurzgeschichte „The Snows Of Kilimanjaro“ noch deren Verfilmung mit Gregory Peck haben im Buch eine Spur hinterlassen, denn mit dem Großwild- und Frauenjäger Ernest hat Stadler, außer dem Faible für Zigarren, nichts gemein. Stattdessen schildert er seine Besuche bei Leicester Hemingway, dem jüngeren Bruder, der in Miami lebte, auf einem Floß vor Jamaika die Mikro-Republik New Atlantis gründete und sich mit 67 Jahren in guter Familientradition die Kugel gab. Ihn schätzte Stadler als glänzenden Erzähler und menschenfreundlichen Spinner, und ihm verdankt er die Lebensmaxime, die ihn auch auf dem Kilimandscharo-Trip begleitet: „immer das tun, was ich für richtig hielte“.
Nach Miami gereist war er als junger Mensch, noch nicht wissend, „dass das Leben aus Holzwegen und Ausflügen besteht“, wegen eines gewissen Jim, dem er später in dem Roman „Komm, gehen wir“ ein Denkmal setzte. So geht es fließend vom Hölzchen aufs Stöckchen, getreu der Erkenntnis, die am „Ersten Tag“ auf der Aussichtsveranda einer Lodge in Tansania formuliert wird: „Meine Erinnerungen leben von meinen Wiederholungen und Melodien und Ohrwürmern.“
Stadlers Œuvre wiederum lebt vom Aufschreiben, Um- und Fortschreiben dieser kreiselnden Erinnerungen; es ist, ganz im Sinne Robert Walsers, ein „mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch“. Im neuen Werk kann das Ich sich ungezwungener bewegen, weil es nicht in einer Romanhandlung steckt. Doch fragt man sich, warum die Erinnerung hier manchmal unnötig neben der Realität vorbeischrammt, so als solle die haarspalterische Trennung von „Autor“ und „Ich-Erzähler“ durch Schein-Fiktionalisierung beglaubigt werden. Etwa dann, wenn das „Präludium vor der Abreise“ durch die Erwähnung bestimmter Ereignisse ins Jahr 2019 verlegt wird, obwohl ansonsten explizit vom Januar 2017 die Rede ist, jenem Datum, das überdies den Running Gag des Reiseberichts liefert.
Denn: „Lachen Sie nicht“, schreibt Stadler, „die Final Destination meiner Reise war Bremen.“ Bald nach seiner Rückkehr aus Tansania war er nämlich, verbürgtermaßen, Ehrengast beim Stiftungsfest der Bremer „Eiswette“, einer seit 1829 tradierten Herrenclub-Veranstaltung, die schon diverse lokalhistorische Skandälchen zeugte, zuletzt wegen hartnäckiger Frauen-Exklusion. Die eigentliche Wette, ein entferntes Pendant zum Murmeltiertag in Pennsylvania, findet zu Dreikönig am Weserufer statt, das Braunkohl-Festmahl mit Prominenz aber erst am dritten Januarsamstag. Es kann also nicht stimmen, wenn der Autor behauptet, er habe „am Abend des siebten Tages“ dort erscheinen müssen, aber dass er es zwischen Rückflug und Fest nicht mehr nach Hause geschafft hätte und deshalb die Abendgarderobe im Afrika-Gepäck mitführte, will man ihm gern glauben, und dass ein Schimpanse den Smoking samt einem Lackschuh auf einen Flammenbaum verschleppte, ist zu schön, um erfunden zu sein.
Apropos Bremen: Nicht erst „einige Monate“ vor Stadlers Besuch, sondern schon ein Vierteljahrhundert früher wurde dort das „Kolonial-Ehrenmal“ aus dem Jahr 1931 zum Anti-Kolonialismus-Denkmal umgewidmet. Aber ein wenig Konfusion kann sich ein reisender Schriftsteller leisten, der so viel Poetisches und Prophetisches, Politisches und Polemisches in seinem „linkshändig verdrehten Kopf“ bewegt, sei es im Kolonialmuseum von Arusha, sei es angesichts seines Sehnsuchtsberges, den er, anders als die „Fun-Fraktion“ der „Reise-Darwinisten“, nicht erobern, nur still betrachten möchte. Und irgendwo in dieser Wundertüte von Buch fällt beiläufig der Satz: „Mit all den schönen Reisen konnte es ganz schnell aus sein.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Arnold Stadler:
Am siebten Tag flog ich zurück.
Meine Reise
zum Kilimandscharo.
S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021.
240 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Arnold Stadler reist zum Kilimandscharo und landet in Bremen
Vor vier Jahren, als das Wünschen noch geholfen hat, durfte der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Arnold Stadler sich im Auftrag der Reisebeilage einer großen Wochenzeitung ein „Sehnsuchtsziel“ aussuchen. Er hätte, räumt er ein, auch die Graf-Ludwig-Hütte im Wald von Schwackenreute nennen können oder den Garten seines Sommerhäuschens in Sallahn an der Elbe. Aber dann wurde es der Kilimandscharo. Denn dessen schneebedeckter Gipfel Kibo, 1929 in Öl verewigt von dem Stuttgarter Maler Fritz Lang, fand einst den Weg in Stadlers Elternhaus in Rast bei Meßkirch, das er bis heute bewohnt, und hat von der Esszimmerwand aus die Fantasie des Knaben Arnold für ein ganzes Leben beflügelt.
So kam es, dass der Autor, trotz Flugangst (und Flugscham, hätte es das Wort da schon gegeben), am Tag der Heiligen Drei Könige des Jahres 2017 nach Tansania aufbrach, eine Woche blieb und wenig später den Text verfasste, mit dem die kooperierende Reiseagentur seither auf ihrer Website wirbt. Der mit der Schöpfungsgeschichte flirtende Schlusssatz der Reportage, „Am siebten Tag flog ich zurück“, ergab dann den Titel für das Buch, das sich als Projekt damals schon abzeichnete: So funktioniert, in der harmlosesten Variante, das global regierende Win-win-Prinzip, gegen das der Anti-Utilitarist Stadler im „Präludium vor der Abreise“ zornig wettert.
Das Vorspiel ist ein Kapitel für sich und markiert in einem mäandernden Rundumschlag den Horizont der Erzählung, an dem Stadler-Leser sogleich Vertrautes sichten: das oberschwäbische Kindheitsmilieu, die ironisch gebrochene Selbstinszenierung des Dichters als Narr und Schmerzensmann, seine ewige Sehnsucht nach Weltaneignung, die sogar über das Klima-Gewissen siegt, seine Neigung zu Anekdoten und Aphorismen, Abschweifungen und Arabesken. Elegant wird das Thema Hemingway abgehakt: Weder die berühmte Kurzgeschichte „The Snows Of Kilimanjaro“ noch deren Verfilmung mit Gregory Peck haben im Buch eine Spur hinterlassen, denn mit dem Großwild- und Frauenjäger Ernest hat Stadler, außer dem Faible für Zigarren, nichts gemein. Stattdessen schildert er seine Besuche bei Leicester Hemingway, dem jüngeren Bruder, der in Miami lebte, auf einem Floß vor Jamaika die Mikro-Republik New Atlantis gründete und sich mit 67 Jahren in guter Familientradition die Kugel gab. Ihn schätzte Stadler als glänzenden Erzähler und menschenfreundlichen Spinner, und ihm verdankt er die Lebensmaxime, die ihn auch auf dem Kilimandscharo-Trip begleitet: „immer das tun, was ich für richtig hielte“.
Nach Miami gereist war er als junger Mensch, noch nicht wissend, „dass das Leben aus Holzwegen und Ausflügen besteht“, wegen eines gewissen Jim, dem er später in dem Roman „Komm, gehen wir“ ein Denkmal setzte. So geht es fließend vom Hölzchen aufs Stöckchen, getreu der Erkenntnis, die am „Ersten Tag“ auf der Aussichtsveranda einer Lodge in Tansania formuliert wird: „Meine Erinnerungen leben von meinen Wiederholungen und Melodien und Ohrwürmern.“
Stadlers Œuvre wiederum lebt vom Aufschreiben, Um- und Fortschreiben dieser kreiselnden Erinnerungen; es ist, ganz im Sinne Robert Walsers, ein „mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch“. Im neuen Werk kann das Ich sich ungezwungener bewegen, weil es nicht in einer Romanhandlung steckt. Doch fragt man sich, warum die Erinnerung hier manchmal unnötig neben der Realität vorbeischrammt, so als solle die haarspalterische Trennung von „Autor“ und „Ich-Erzähler“ durch Schein-Fiktionalisierung beglaubigt werden. Etwa dann, wenn das „Präludium vor der Abreise“ durch die Erwähnung bestimmter Ereignisse ins Jahr 2019 verlegt wird, obwohl ansonsten explizit vom Januar 2017 die Rede ist, jenem Datum, das überdies den Running Gag des Reiseberichts liefert.
Denn: „Lachen Sie nicht“, schreibt Stadler, „die Final Destination meiner Reise war Bremen.“ Bald nach seiner Rückkehr aus Tansania war er nämlich, verbürgtermaßen, Ehrengast beim Stiftungsfest der Bremer „Eiswette“, einer seit 1829 tradierten Herrenclub-Veranstaltung, die schon diverse lokalhistorische Skandälchen zeugte, zuletzt wegen hartnäckiger Frauen-Exklusion. Die eigentliche Wette, ein entferntes Pendant zum Murmeltiertag in Pennsylvania, findet zu Dreikönig am Weserufer statt, das Braunkohl-Festmahl mit Prominenz aber erst am dritten Januarsamstag. Es kann also nicht stimmen, wenn der Autor behauptet, er habe „am Abend des siebten Tages“ dort erscheinen müssen, aber dass er es zwischen Rückflug und Fest nicht mehr nach Hause geschafft hätte und deshalb die Abendgarderobe im Afrika-Gepäck mitführte, will man ihm gern glauben, und dass ein Schimpanse den Smoking samt einem Lackschuh auf einen Flammenbaum verschleppte, ist zu schön, um erfunden zu sein.
Apropos Bremen: Nicht erst „einige Monate“ vor Stadlers Besuch, sondern schon ein Vierteljahrhundert früher wurde dort das „Kolonial-Ehrenmal“ aus dem Jahr 1931 zum Anti-Kolonialismus-Denkmal umgewidmet. Aber ein wenig Konfusion kann sich ein reisender Schriftsteller leisten, der so viel Poetisches und Prophetisches, Politisches und Polemisches in seinem „linkshändig verdrehten Kopf“ bewegt, sei es im Kolonialmuseum von Arusha, sei es angesichts seines Sehnsuchtsberges, den er, anders als die „Fun-Fraktion“ der „Reise-Darwinisten“, nicht erobern, nur still betrachten möchte. Und irgendwo in dieser Wundertüte von Buch fällt beiläufig der Satz: „Mit all den schönen Reisen konnte es ganz schnell aus sein.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Arnold Stadler:
Am siebten Tag flog ich zurück.
Meine Reise
zum Kilimandscharo.
S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021.
240 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Oliver Jungen hat sich gern von Arnold Stadler, dem laut Kritiker vielleicht "katholischsten deutschen Schriftsteller", auf eine Pilgerreise zum Kilimandscharo mitnehmen lassen. Wobei der Roman dann doch eher eine Reise ins Innere ist, fährt der Rezensent fort, der hier ein ganzes Füllhorn an Gedanken, Analysen und poetischen Assoziationen vorfindet. Erinnerungen des Autors verbinden sich mit Referenzen auf dessen eigene Werke und kulturhistorischen Exkursen, aber auch mit Reflexionen über Kolonialismus, Geschichtsvergessenheit, "Sündenstolz" oder "Flugscham", klärt Jungen auf. Und wenn Stadlers misanthropischer Ich-Erzähler erstmal richtig loslegt, herrlich böse und "saukomisch", muss der Kritiker bei aller Besinnung auch herzlich lachen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2021Eine antiwilhelminische Donquichotterie
Der Berg ruft, und der Prophet gibt klein bei: Arnold Stadler reist zum Kilimandscharo und setzt dessen erhabenem Pathos ein kleines, schiefes Ich entgegen
Jede Reise ist auch eine Reise nach innen, in jene Echokammer, in der seit Kindertagen die Sehnsucht nach der Fremde, das Abenteurertum und all die bunten Vorurteile um die Wette tönen. Was nun Arnold Stadler, trotz aller Ironie und Theologiekritik des ehemaligen Priesteranwärters vielleicht der katholischste deutsche Schriftsteller (gegen die historisch-kritische Exegese hält er am Mysterium fest), mit seinem als Kilimandscharo-Reisebericht getarnten Besinnungs- und Bezichtigungsbuch, das einmal gar mit dem Titel "Reise nach innen" spielt, unternimmt, ist eine Inventur dieser intimen Kammer - aber zugleich doch viel mehr. Das umgestülpte Innere erweist sich als Rutschbahn in eine tragikomische, radikale Analyse postkolonialer Aporien. Lässt sich noch "ich" sagen, ohne damit schon schuldig zu werden? Siegen die Stärkeren einfach weiter? Ist unser aller Heimat der Tod?
Der Klappentext verspricht zunächst (und nicht falsch) den Abgleich einer kindlichen Paradiesvorstellung, die sich ihrerseits einem Abbild verdankt, einem Kilimandscharo-Gemälde des Stuttgarter Malers Fritz Lang aus dem Jahre 1931, das bis heute in Stadlers Elternhaus bei Meßkirch hängt, mit dem Urbild dieses Garten Eden: Der Autor sucht und findet die Stelle, an der Lang etwa gestanden haben muss. Just das hatte Stadler bereits im Januar 2017 getan, und zwar für die Reisebeilage einer Wochenzeitung. In dieser vier Jahre zurückliegenden Reportage näherte er sich sechs Tage lang, einem Pilger gleich, dem Ziel an, das ihm schließlich ein Epiphanie-Erlebnis bescherte, die Ahnung, "wie schön etwas sein könnte, das nicht vergeht". Für diese Lebenszäsur fand der Autor Worte vom Range eines Novalis: "dass die Sehnsucht nach diesem Berg, der so lange meine Zukunft war, nun in der Erinnerung mein Heimweh ist". So weit, so romantisch.
Auf den ersten Blick scheint das Buch, das dem Schlusssatz der Reportage auch seinen Titel verdankt (und den Genesis-Anklang noch ausweitet: "Und ich sah, dass es gut war"), eine poetisch-assoziative Ausfaltung dieser Vorlage zu sein. Der Bericht von der Pilgerreise umfasst jetzt zusätzlich köstliche Nahbeobachtungen eines geführten Touristen, hintersinnige Aperçus ("Der Mensch ist kein Baum, sondern ein Mensch, er hat auch keine Wurzeln"), Erinnerungen des Erzählers, der in Afrika viele Parallelen zu seiner Dorfherkunft entdeckt (virtuos bereits der Einstieg, der das Verschwinden der heimischen Feldwege unter dem Teer des nach John McAdam benannten Makadams zum Symbol einer ganz privaten Weltauslöschung macht), Verweise auf Stadler-Werke wie "Komm, gehen wir" oder "Salvatore", Überlegungen zum Kolonialismus, zur Geschichtsvergessenheit ("von Königgrätz wusste kein Schwein mehr") oder zur Vergänglichkeit. Zudem finden sich kulturgeschichtliche Exkurse, so zu Pascal Danels verträumtem Chanson von 1967, die aber eigensinnig bleiben, etwa Ernest Hemingway und die Verfilmung von "The Snows of Kilimanjaro" weitgehend ignorieren, dafür jedoch breit von Hemingways Bruder Leicester und dessen New-Atlantis-Gründung erzählen.
Und doch haben wir keinen handelsüblichen Reiseessay vor uns, sondern einen "Roman". Dort darf sich entfalten, was dem straffen Magazintext fehlte: der charakteristische Stadler-Sound, changierend zwischen kindlich entwaffnender Direktheit und dem Schwackenreuter Barock aus biblischer Devotion ("als wäre ich Moses"), Meßkircher Ontologie und erdfeuchtem Idiom, das mit Lust das Groteske streift. Stilistisch handelt es sich, wie gern bei Stadler, um eine meditative Litanei, die um einige variierte Basissätze herum wuchert. Inhaltlich schließlich ist das Buch vor allem ein Schelmenstück, eine Pikaro-Reise ins (immer noch schlagende) Herz des Kolonialismus.
Ein starkes Opfer war dazu nötig, das des Helden. Der skrupulöse, kulturmasochistische, alle Reisebekanntschaften mit misanthropischen Redeschwällen in die Flucht schlagende Ich-Erzähler, der nur "schauen", das Massiv aber gar nicht "bezwingen" will, der inmitten der Safari-Begeisterten einen Smoking und Lackschuhe durch Afrika schleppt, weil ihn der Rückflug gleich zur Eiswette in Bremen bringen soll, seine "Final Destination" also eine angestaubte Herrenclub-Sause ist (bis ihm schließlich, welch eine Pointe, Affen den Anzug und einen der Schuhe klauen), unterläuft programmatisch alles, was an heroischen Fantasien mit dem höchsten Berg Afrikas, der einige Jahrzehnte lang "Kaiser-Wilhelm-Spitze" hieß, einhergeht.
Das ist wunderbar bösartig und zugleich saukomisch. In der Fünf-Sterne-Lodge bringt den Erzähler die Angst vor Hyänen um den Schlaf. Die Safari hätte er am liebsten abgesagt und ist dann alles andere als begeistert, als er nach Stunden des Umhergefahrenwerdens eine Löwin ein Zebra abnagen sieht ("Das hätte aber dem Sultan von Sansibar gefallen, dem Kaiser Wilhelm ohnehin, Erich und Margot auch). Sein ganzes Leben, sein ganzer Glaube laufe jedoch auf den Einspruch dagegen hinaus, "dass die Mächtigen über die Ohnmächtigen triumphieren". Dass er selbst ein "Überlebender" sei, ein Erfolgsmensch aus dem reichen Europa, soll ihn nicht davon abhalten, selbst in der Steppe gegen den Darwinismus zu opponieren oder, schräg kombiniert, die Ceausescu-Hinrichtung zu billigen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, den dieser Don Quichotte führt, aber ein nobler gleichwohl, leidet die Welt doch bis heute unter Windmühlenkriegern (wie Wilhelm zwo).
Doch auch zu den neuen Leitfiguren, in deren Kampfbegriffen wie "Flugscham" und "ökologischer Fußabdruck" auftrumpfende Askese mitschwingt (nah am "Sündenstolz"), will dieser Antiheld, "einer, der noch ,ich' sagte", nicht gehören. Er nähert sich "seinem Berg" nicht eisern wie Reinhold Messner, aber auch nicht mit dem geduckt taxierenden Blick des Teilnehmers einer an sich wenig ökologischen Weltklimakonferenz, sondern andächtig. Seit je zähle man ihn, einen "Taugenichts" ohne "Kampfgeist", zu denen, "die nicht zählten". Von dieser alleruntersten Warte aus, "als ein nicht überlebensfähiger Irrtum" im "Struggle for life", zieht der Protagonist hier - und zwar gerade hier, so nah am Paradies - allem aufgeblasen Heroischen und (Neo-)Kolonialistischen den Stöpsel, auf dass es in sich zusammenschrumpele: ein geradezu urchristlich gestimmter Angriff auf das endlose Machtspiel im Diesseits. Subversion durch Demut. Die Erhabenheit des unvergänglichen Bergmassivs (respektive Gottes) demonstriert dem Menschen in diesem denn doch besinnlichen Buch vor allem die eigene Kleinheit: "Es war ein schöner Anblick. Und ich sah, dass es gut war."
OLIVER JUNGEN
Arnold Stadler: "Am siebten Tag flog ich zurück". Meine Reise zum Kilimandscharo. Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 240 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Berg ruft, und der Prophet gibt klein bei: Arnold Stadler reist zum Kilimandscharo und setzt dessen erhabenem Pathos ein kleines, schiefes Ich entgegen
Jede Reise ist auch eine Reise nach innen, in jene Echokammer, in der seit Kindertagen die Sehnsucht nach der Fremde, das Abenteurertum und all die bunten Vorurteile um die Wette tönen. Was nun Arnold Stadler, trotz aller Ironie und Theologiekritik des ehemaligen Priesteranwärters vielleicht der katholischste deutsche Schriftsteller (gegen die historisch-kritische Exegese hält er am Mysterium fest), mit seinem als Kilimandscharo-Reisebericht getarnten Besinnungs- und Bezichtigungsbuch, das einmal gar mit dem Titel "Reise nach innen" spielt, unternimmt, ist eine Inventur dieser intimen Kammer - aber zugleich doch viel mehr. Das umgestülpte Innere erweist sich als Rutschbahn in eine tragikomische, radikale Analyse postkolonialer Aporien. Lässt sich noch "ich" sagen, ohne damit schon schuldig zu werden? Siegen die Stärkeren einfach weiter? Ist unser aller Heimat der Tod?
Der Klappentext verspricht zunächst (und nicht falsch) den Abgleich einer kindlichen Paradiesvorstellung, die sich ihrerseits einem Abbild verdankt, einem Kilimandscharo-Gemälde des Stuttgarter Malers Fritz Lang aus dem Jahre 1931, das bis heute in Stadlers Elternhaus bei Meßkirch hängt, mit dem Urbild dieses Garten Eden: Der Autor sucht und findet die Stelle, an der Lang etwa gestanden haben muss. Just das hatte Stadler bereits im Januar 2017 getan, und zwar für die Reisebeilage einer Wochenzeitung. In dieser vier Jahre zurückliegenden Reportage näherte er sich sechs Tage lang, einem Pilger gleich, dem Ziel an, das ihm schließlich ein Epiphanie-Erlebnis bescherte, die Ahnung, "wie schön etwas sein könnte, das nicht vergeht". Für diese Lebenszäsur fand der Autor Worte vom Range eines Novalis: "dass die Sehnsucht nach diesem Berg, der so lange meine Zukunft war, nun in der Erinnerung mein Heimweh ist". So weit, so romantisch.
Auf den ersten Blick scheint das Buch, das dem Schlusssatz der Reportage auch seinen Titel verdankt (und den Genesis-Anklang noch ausweitet: "Und ich sah, dass es gut war"), eine poetisch-assoziative Ausfaltung dieser Vorlage zu sein. Der Bericht von der Pilgerreise umfasst jetzt zusätzlich köstliche Nahbeobachtungen eines geführten Touristen, hintersinnige Aperçus ("Der Mensch ist kein Baum, sondern ein Mensch, er hat auch keine Wurzeln"), Erinnerungen des Erzählers, der in Afrika viele Parallelen zu seiner Dorfherkunft entdeckt (virtuos bereits der Einstieg, der das Verschwinden der heimischen Feldwege unter dem Teer des nach John McAdam benannten Makadams zum Symbol einer ganz privaten Weltauslöschung macht), Verweise auf Stadler-Werke wie "Komm, gehen wir" oder "Salvatore", Überlegungen zum Kolonialismus, zur Geschichtsvergessenheit ("von Königgrätz wusste kein Schwein mehr") oder zur Vergänglichkeit. Zudem finden sich kulturgeschichtliche Exkurse, so zu Pascal Danels verträumtem Chanson von 1967, die aber eigensinnig bleiben, etwa Ernest Hemingway und die Verfilmung von "The Snows of Kilimanjaro" weitgehend ignorieren, dafür jedoch breit von Hemingways Bruder Leicester und dessen New-Atlantis-Gründung erzählen.
Und doch haben wir keinen handelsüblichen Reiseessay vor uns, sondern einen "Roman". Dort darf sich entfalten, was dem straffen Magazintext fehlte: der charakteristische Stadler-Sound, changierend zwischen kindlich entwaffnender Direktheit und dem Schwackenreuter Barock aus biblischer Devotion ("als wäre ich Moses"), Meßkircher Ontologie und erdfeuchtem Idiom, das mit Lust das Groteske streift. Stilistisch handelt es sich, wie gern bei Stadler, um eine meditative Litanei, die um einige variierte Basissätze herum wuchert. Inhaltlich schließlich ist das Buch vor allem ein Schelmenstück, eine Pikaro-Reise ins (immer noch schlagende) Herz des Kolonialismus.
Ein starkes Opfer war dazu nötig, das des Helden. Der skrupulöse, kulturmasochistische, alle Reisebekanntschaften mit misanthropischen Redeschwällen in die Flucht schlagende Ich-Erzähler, der nur "schauen", das Massiv aber gar nicht "bezwingen" will, der inmitten der Safari-Begeisterten einen Smoking und Lackschuhe durch Afrika schleppt, weil ihn der Rückflug gleich zur Eiswette in Bremen bringen soll, seine "Final Destination" also eine angestaubte Herrenclub-Sause ist (bis ihm schließlich, welch eine Pointe, Affen den Anzug und einen der Schuhe klauen), unterläuft programmatisch alles, was an heroischen Fantasien mit dem höchsten Berg Afrikas, der einige Jahrzehnte lang "Kaiser-Wilhelm-Spitze" hieß, einhergeht.
Das ist wunderbar bösartig und zugleich saukomisch. In der Fünf-Sterne-Lodge bringt den Erzähler die Angst vor Hyänen um den Schlaf. Die Safari hätte er am liebsten abgesagt und ist dann alles andere als begeistert, als er nach Stunden des Umhergefahrenwerdens eine Löwin ein Zebra abnagen sieht ("Das hätte aber dem Sultan von Sansibar gefallen, dem Kaiser Wilhelm ohnehin, Erich und Margot auch). Sein ganzes Leben, sein ganzer Glaube laufe jedoch auf den Einspruch dagegen hinaus, "dass die Mächtigen über die Ohnmächtigen triumphieren". Dass er selbst ein "Überlebender" sei, ein Erfolgsmensch aus dem reichen Europa, soll ihn nicht davon abhalten, selbst in der Steppe gegen den Darwinismus zu opponieren oder, schräg kombiniert, die Ceausescu-Hinrichtung zu billigen. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, den dieser Don Quichotte führt, aber ein nobler gleichwohl, leidet die Welt doch bis heute unter Windmühlenkriegern (wie Wilhelm zwo).
Doch auch zu den neuen Leitfiguren, in deren Kampfbegriffen wie "Flugscham" und "ökologischer Fußabdruck" auftrumpfende Askese mitschwingt (nah am "Sündenstolz"), will dieser Antiheld, "einer, der noch ,ich' sagte", nicht gehören. Er nähert sich "seinem Berg" nicht eisern wie Reinhold Messner, aber auch nicht mit dem geduckt taxierenden Blick des Teilnehmers einer an sich wenig ökologischen Weltklimakonferenz, sondern andächtig. Seit je zähle man ihn, einen "Taugenichts" ohne "Kampfgeist", zu denen, "die nicht zählten". Von dieser alleruntersten Warte aus, "als ein nicht überlebensfähiger Irrtum" im "Struggle for life", zieht der Protagonist hier - und zwar gerade hier, so nah am Paradies - allem aufgeblasen Heroischen und (Neo-)Kolonialistischen den Stöpsel, auf dass es in sich zusammenschrumpele: ein geradezu urchristlich gestimmter Angriff auf das endlose Machtspiel im Diesseits. Subversion durch Demut. Die Erhabenheit des unvergänglichen Bergmassivs (respektive Gottes) demonstriert dem Menschen in diesem denn doch besinnlichen Buch vor allem die eigene Kleinheit: "Es war ein schöner Anblick. Und ich sah, dass es gut war."
OLIVER JUNGEN
Arnold Stadler: "Am siebten Tag flog ich zurück". Meine Reise zum Kilimandscharo. Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 240 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist ein herrlich spitzes, spöttisches Buch Georg Patzer Badische Neueste Nachrichten 20210819