Das Schlimmste am Heiraten ist die Hochzeitsnacht. Zumindest für Edward und Florence, 1962 im prüden England. Begierde und Befangenheit, Anziehung und Angst sind miteinander im Widerstreit in der Hochzeitssuite mit Blick aufs Meer. Die Nacht verändert das Schicksal der Liebenden für immer.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Am Ende ist Rezensent Lothar Müller doch etwas enttäuscht - und dass, obwohl Ian McEwans neuer Roman so verheißungsvoll begann. Müller stört einfach, dass die Erzählung überfrachtet ist, mit Hinweisen auf ein von der eigentlichen Geschichte "abgetrenntes Geheimnis" - und dass, was damit im Zusammenhang steht, der familiäre Hintergrund seiner Protagonistin nur "stereotyp" geschildert wird. Diesen Verweis auf ein Geheimnis bräuchte es Müllers Meinung nach nicht wirklich, denn die Geschichte - eine "Novelle über eine missglückte Hochzeitsnacht" -, trägt auch so. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, das McEwan sich darauf versteht, "Details", die alles verändern können, mit "anatomischer Präzision" in Szene zu setzen. Aber etwas kann der Rezensent vorbehaltlos loben: Bernhard Robbens Übersetzung ist "gewohnt souverän".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2007Und dann klemmt der Reißverschluss
Letzter Triumph des Puritanismus: „Am Strand”, das neue Buch von Ian McEwan, ist die Novelle einer missglückten Hochzeitsnacht mit eingebautem zeithistorischem Roman
Es könnte so einfach sein: „Seine Hand war dort, weil er ihr Mann war; und sie ließ sie dort, weil sie seine Frau war.” Es ist aber nichts einfach in dieser Hochzeitsnacht in einem Strandhotel an der Küste von Dorset, England, im Jahre 1962. Ein Muskel zuckt, und schon zieht sich die Hand zurück. Eine Hand greift im falschen Moment zu, und schon ist die Katastrophe da. Die Ehe, die Florence und Edward am Tag geschlossen haben, wird diese Nacht nicht überleben.
So will es der Autor Ian McEwan, geboren 1948 in London, ausgewiesen im Konstruieren von Handlungen, in denen kleine Missgeschicke große Konsequenzen haben und verschwiegene Wahrheiten ihren Tribut vom Leben fordern. In seinem neuen Roman „Chesil Beach”, der nun unter dem Titel „Am Strand” in der gewohnt souveränen Übersetzung von Bernhard Robben auf deutsch erschienen ist, hat McEwan sein junges Hochzeitspaar zu tragikomischen Helden des sexuellen Ungeschicks gemacht.
Weil McEwan ein erklärter Liebhaber des Details, der anatomischen Präzision ist, wird daraus ein trauriger, physiologischer Slapstick, in dem ein einziges vorwitziges Schamhaar eine entscheidende Rolle spielt: „Wie konnte er wissen, daß, während seine Hand ihr Bein befingerte, die Daumenspitze gegen jenes einsame Haar stieß, das unter dem Gummiband ihreas Höschens hervorlugte, es vor und zurück wippen ließ, seine Wurzel erregte und entlang des Haarbalgnervs die bloße Ahnung eines Gefühls weckte, ein fast abstrakter Anfang, so unendlich klein wie ein geometrischer Punkt, der zu einem winzigen Fleck abschwoll, dessen Ränder immer weiter zerflossen.”
Bei allen komödiantischen Verführern erhöht der Widerstand der spröden Schönen, wenn er denn endlich gebrochen ist, den Reiz der Liebe. Edward aber ist kein Komödienheld, und Florence ist keine Spröde, die sich ziert. Sie ist eine Liebende, die nicht kann, wie sie will. So wie Edward von der Begierde wird sie von der Panik regiert, vom Ekel, der sie erfasst, sobald seine Hand an ihren Schenkeln oder seine Zunge in ihrem Mund auf Eroberung ausgeht. Dass der Reißverschluss an ihrem Kleid klemmt, gehört zur Choreographie des Ungeschicks, ist aber zugleich Verschnaufpause in der Klimax der Katastrophe.
Anders als seine Protagonisten ist Ian McEwan sehr geschickt mit Reißverschlüssen. In die Novelle der missglückten Hochzeitsnacht fädelt er in rekapitulierenden Kapiteln einen zeithistorischen Roman ein. Darin ist Harold Macmillan Ministerpräsident, das Empire bröckelt, einstige Kolonien werden in die Unabhängigkeit entlassen, man debattiert über Rüstungswettlauf und Atomteststopabkommen. Und der Nahblick auf Berührungsreize und Haarbalgnerven weicht dem Panoramablick auf eine Umbruchzeit, die noch nicht recht begonnen hat. In London, wo Edward am University College Geschichte und Florence am Royal College of Music Violine studiert hat, gibt es schon Vorboten der sexuellen Liberalisierung. In Oxford, wo das gutbürgerliche Elternhaus von Florence steht und in dessen Nähe Edward seine kleinbürgerliche Kindheit auf dem Lande verbracht hat, verteilen Studenten Flugblätter über die Wasserstoffbombe.
Beide, Florence wie Edward, gehören der Antiatombewegung an. Er ist Anhänger des elektrischen Blues von John Mayall und Alexis Korner, sie ist der Kopf ihres Streichquartetts, spielt Mozart und Schubert. In ihrem Elternhaus gibt es schon Joghurt und Salat mit Öl-Zitronen-Dressing, was für ihn Premieren sind. Aber sie könnten – Klassengegensätze hin, feine kulturelle Unterschiede her – zueinander kommen, wäre da nicht das sexuelle Ungeschick.
Dieses Ungeschick, so gibt der Erzähler zu verstehen, verdanken sie dem Unglück, „Gefangene ihrer Zeit” zu sein, „einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren”. Ein großes, kopfschüttelndes „damals” legt er über die Hochzeitsnacht. Florence und Edward, beide 1940 geboren, müssen noch diesseits der Befreiung des Sex erwachsen werden. Sie sind die letzten Kinder der noch ungeschleiften Bastion des Puritanismus. Darum ist Edward zwar schon ein erfahrener Adept der „Selbstverwöhnung”, aber zugleich noch so unerfahren mit Frauen, dass er sich auf die Hochzeitsnacht durch heroische Enthaltsamkeit vorbereitet. Und Florence hat sich durch ein Handbuch für Bräute vorbereitet, dessen sachdienliche Hinweise auf „Schleimhaut”, „Penisspitze” und vor allem „Penetration” („ein Wort, als ob jemand Fleisch mit einem Messer zerteilte”) vor allem ihre Übelkeit erregen.
Dieser Roman will das lustfreundliche Aufklärungsbuch sein, das seinen Protagonisten fehlt. Verführerisch lässt der Erzähler das Geräusch der Wellen durch die Hotelfenster dringen. Wo, wenn nicht an der Schwelle zwischen Land und Meer, entfaltet die Natur ihre Reize als Kupplerin, ermuntert sie dazu, die Hüllen einer prüden Gesellschaft abzustreifen? Aber je suggestiver diese Suggestionen das Paar umspülen, desto dramatischer entfaltet sich das Ungeschick: drastischer als in Chesil Beach kann eine Hochzeitsnacht nicht scheitern. Darum erreicht die Katastrophe im Hotel, in der Hochzeitssuite, ihren Zenit, aber sie erfüllt sich im offenen Streit am Strand: in der Wut Edwards, der „zu früh gekommen” ist und in der Panik von Florence, ihrem „Grauen davor, von einem anderen Körper mit Flüssigkeit bespritzt, mit Schleim überzogen zu werden”.
Nichts an dieser Klimax des sexuellen Ungeschicks ist spekulativ, zweideutig oder gar hämisch-voyeuristisch. Doch leidet dieser Roman an einer ästhetischen, erzählerischen Zweideutigkeit. Denn McEwan begnügt sich nicht mit dem Reißverschluss-Ineinander von physiologischer Novelle und zeitkritischem Roman. Wohl um seinen Ruf als Meister des psychologischen Realismus zu wahren, durchsetzt er die sexuelle Panik seiner weiblichen Hauptfigur mit Anspielungen auf ein „eingesperrtes Geheimnis” eine „abgetrennte Erinnerung”.
Vage zeichnet sich die nicht erzählte Geschichte sexueller Übergriffe des Vaters von Florence auf seine Tochter ab. Sie bleibt so unschlüssig wie unscharf. Denn nur die rührend liebevolle, mit einer unfallgeschädigten, geistesgestörten Mutter geschlagene Herkunftsfamilie Edwards schildert McEwan mit einigem Aufwand. Für die Upper-Class-Mutter von Florence, die total verkopfte Philosophiedozentin Violet, und ihren industriellen, schwadronierenden Gatten hat er nur Stereotypen übrig. Dass die Oberklasse Liebe und Sex trennen kann, gehört dazu. Aber der Befund steht hier erzählerisch beziehungslos neben der Panik, die von Florence die Trennung ihrer Liebe vom Sex verlangt. Dass McEwan auf den letzten Seiten Edwards Lebensgeschichte im Zeitraffer bis in die Gegenwart verfolgt, entschädigt für diesen Mangel nicht. So lässt dieser Roman, der so verheißungsvoll begann, den Leser am Ende unbefriedigt zurück. LOTHAR MÜLLER
IAN McEWAN: Am Strand. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 208 Seiten, 18,90 Euro.
Berühmt wegen seiner Kiesel und bis zum Erscheinen von Ian McEwans Roman „Chesil Beach” („Am Strand”) auch als Hochzeitsparadies attraktiv: Chesil Beach in Dorset, England Foto: Mark Bolton/Corbis
Ian McEwan Foto: Jonathan Cape
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Letzter Triumph des Puritanismus: „Am Strand”, das neue Buch von Ian McEwan, ist die Novelle einer missglückten Hochzeitsnacht mit eingebautem zeithistorischem Roman
Es könnte so einfach sein: „Seine Hand war dort, weil er ihr Mann war; und sie ließ sie dort, weil sie seine Frau war.” Es ist aber nichts einfach in dieser Hochzeitsnacht in einem Strandhotel an der Küste von Dorset, England, im Jahre 1962. Ein Muskel zuckt, und schon zieht sich die Hand zurück. Eine Hand greift im falschen Moment zu, und schon ist die Katastrophe da. Die Ehe, die Florence und Edward am Tag geschlossen haben, wird diese Nacht nicht überleben.
So will es der Autor Ian McEwan, geboren 1948 in London, ausgewiesen im Konstruieren von Handlungen, in denen kleine Missgeschicke große Konsequenzen haben und verschwiegene Wahrheiten ihren Tribut vom Leben fordern. In seinem neuen Roman „Chesil Beach”, der nun unter dem Titel „Am Strand” in der gewohnt souveränen Übersetzung von Bernhard Robben auf deutsch erschienen ist, hat McEwan sein junges Hochzeitspaar zu tragikomischen Helden des sexuellen Ungeschicks gemacht.
Weil McEwan ein erklärter Liebhaber des Details, der anatomischen Präzision ist, wird daraus ein trauriger, physiologischer Slapstick, in dem ein einziges vorwitziges Schamhaar eine entscheidende Rolle spielt: „Wie konnte er wissen, daß, während seine Hand ihr Bein befingerte, die Daumenspitze gegen jenes einsame Haar stieß, das unter dem Gummiband ihreas Höschens hervorlugte, es vor und zurück wippen ließ, seine Wurzel erregte und entlang des Haarbalgnervs die bloße Ahnung eines Gefühls weckte, ein fast abstrakter Anfang, so unendlich klein wie ein geometrischer Punkt, der zu einem winzigen Fleck abschwoll, dessen Ränder immer weiter zerflossen.”
Bei allen komödiantischen Verführern erhöht der Widerstand der spröden Schönen, wenn er denn endlich gebrochen ist, den Reiz der Liebe. Edward aber ist kein Komödienheld, und Florence ist keine Spröde, die sich ziert. Sie ist eine Liebende, die nicht kann, wie sie will. So wie Edward von der Begierde wird sie von der Panik regiert, vom Ekel, der sie erfasst, sobald seine Hand an ihren Schenkeln oder seine Zunge in ihrem Mund auf Eroberung ausgeht. Dass der Reißverschluss an ihrem Kleid klemmt, gehört zur Choreographie des Ungeschicks, ist aber zugleich Verschnaufpause in der Klimax der Katastrophe.
Anders als seine Protagonisten ist Ian McEwan sehr geschickt mit Reißverschlüssen. In die Novelle der missglückten Hochzeitsnacht fädelt er in rekapitulierenden Kapiteln einen zeithistorischen Roman ein. Darin ist Harold Macmillan Ministerpräsident, das Empire bröckelt, einstige Kolonien werden in die Unabhängigkeit entlassen, man debattiert über Rüstungswettlauf und Atomteststopabkommen. Und der Nahblick auf Berührungsreize und Haarbalgnerven weicht dem Panoramablick auf eine Umbruchzeit, die noch nicht recht begonnen hat. In London, wo Edward am University College Geschichte und Florence am Royal College of Music Violine studiert hat, gibt es schon Vorboten der sexuellen Liberalisierung. In Oxford, wo das gutbürgerliche Elternhaus von Florence steht und in dessen Nähe Edward seine kleinbürgerliche Kindheit auf dem Lande verbracht hat, verteilen Studenten Flugblätter über die Wasserstoffbombe.
Beide, Florence wie Edward, gehören der Antiatombewegung an. Er ist Anhänger des elektrischen Blues von John Mayall und Alexis Korner, sie ist der Kopf ihres Streichquartetts, spielt Mozart und Schubert. In ihrem Elternhaus gibt es schon Joghurt und Salat mit Öl-Zitronen-Dressing, was für ihn Premieren sind. Aber sie könnten – Klassengegensätze hin, feine kulturelle Unterschiede her – zueinander kommen, wäre da nicht das sexuelle Ungeschick.
Dieses Ungeschick, so gibt der Erzähler zu verstehen, verdanken sie dem Unglück, „Gefangene ihrer Zeit” zu sein, „einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren”. Ein großes, kopfschüttelndes „damals” legt er über die Hochzeitsnacht. Florence und Edward, beide 1940 geboren, müssen noch diesseits der Befreiung des Sex erwachsen werden. Sie sind die letzten Kinder der noch ungeschleiften Bastion des Puritanismus. Darum ist Edward zwar schon ein erfahrener Adept der „Selbstverwöhnung”, aber zugleich noch so unerfahren mit Frauen, dass er sich auf die Hochzeitsnacht durch heroische Enthaltsamkeit vorbereitet. Und Florence hat sich durch ein Handbuch für Bräute vorbereitet, dessen sachdienliche Hinweise auf „Schleimhaut”, „Penisspitze” und vor allem „Penetration” („ein Wort, als ob jemand Fleisch mit einem Messer zerteilte”) vor allem ihre Übelkeit erregen.
Dieser Roman will das lustfreundliche Aufklärungsbuch sein, das seinen Protagonisten fehlt. Verführerisch lässt der Erzähler das Geräusch der Wellen durch die Hotelfenster dringen. Wo, wenn nicht an der Schwelle zwischen Land und Meer, entfaltet die Natur ihre Reize als Kupplerin, ermuntert sie dazu, die Hüllen einer prüden Gesellschaft abzustreifen? Aber je suggestiver diese Suggestionen das Paar umspülen, desto dramatischer entfaltet sich das Ungeschick: drastischer als in Chesil Beach kann eine Hochzeitsnacht nicht scheitern. Darum erreicht die Katastrophe im Hotel, in der Hochzeitssuite, ihren Zenit, aber sie erfüllt sich im offenen Streit am Strand: in der Wut Edwards, der „zu früh gekommen” ist und in der Panik von Florence, ihrem „Grauen davor, von einem anderen Körper mit Flüssigkeit bespritzt, mit Schleim überzogen zu werden”.
Nichts an dieser Klimax des sexuellen Ungeschicks ist spekulativ, zweideutig oder gar hämisch-voyeuristisch. Doch leidet dieser Roman an einer ästhetischen, erzählerischen Zweideutigkeit. Denn McEwan begnügt sich nicht mit dem Reißverschluss-Ineinander von physiologischer Novelle und zeitkritischem Roman. Wohl um seinen Ruf als Meister des psychologischen Realismus zu wahren, durchsetzt er die sexuelle Panik seiner weiblichen Hauptfigur mit Anspielungen auf ein „eingesperrtes Geheimnis” eine „abgetrennte Erinnerung”.
Vage zeichnet sich die nicht erzählte Geschichte sexueller Übergriffe des Vaters von Florence auf seine Tochter ab. Sie bleibt so unschlüssig wie unscharf. Denn nur die rührend liebevolle, mit einer unfallgeschädigten, geistesgestörten Mutter geschlagene Herkunftsfamilie Edwards schildert McEwan mit einigem Aufwand. Für die Upper-Class-Mutter von Florence, die total verkopfte Philosophiedozentin Violet, und ihren industriellen, schwadronierenden Gatten hat er nur Stereotypen übrig. Dass die Oberklasse Liebe und Sex trennen kann, gehört dazu. Aber der Befund steht hier erzählerisch beziehungslos neben der Panik, die von Florence die Trennung ihrer Liebe vom Sex verlangt. Dass McEwan auf den letzten Seiten Edwards Lebensgeschichte im Zeitraffer bis in die Gegenwart verfolgt, entschädigt für diesen Mangel nicht. So lässt dieser Roman, der so verheißungsvoll begann, den Leser am Ende unbefriedigt zurück. LOTHAR MÜLLER
IAN McEWAN: Am Strand. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 208 Seiten, 18,90 Euro.
Berühmt wegen seiner Kiesel und bis zum Erscheinen von Ian McEwans Roman „Chesil Beach” („Am Strand”) auch als Hochzeitsparadies attraktiv: Chesil Beach in Dorset, England Foto: Mark Bolton/Corbis
Ian McEwan Foto: Jonathan Cape
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2007Im Käfig der Liebe
Ian McEwans neuer Roman "Am Strand" erzählt vom Scheitern einer jungen Liebe: ein bewegender Hochzeitsnachtskatastrophenroman und eine geniale Tragödie der Verkennungen.
Von Hubert Spiegel
Ein kleines Malheur: Wenn der Reißverschluss, der geöffnet werden soll, damit dünner Stoff an glatter Haut heruntergleite, nicht mit der linken Hand ein wenig gestrafft wird, kann ihn die rechte nicht öffnen. Das muss man lernen. Sonst ist Faltenwurf die Folge, und der Reißverschluss verhakt sich. Erst wird genestelt, dann gezerrt, dann geflucht. Schon ist er vorüber, der magische Moment des Übergangs zur Nacktheit. Und der dünne Stoff des Sommerkleids hat sich wieder in eine Rüstung verwandelt, durchscheinend und undurchdringlich.
Für Florence und Edward ist dieses kleine Malheur Teil einer großen Katastrophe. Sie hat sich angebahnt seit jenem Augenblick, da die beiden einander zufällig bei einer Veranstaltung der Anti-Atom-Gruppe in Oxford begegnet sind. Sie reicht ihm ein Flugblatt, das erklärt, was passiert, wenn eine Wasserstoffbombe auf die Stadt fällt, und er bildet sich ein, dass es kein Zufall sein könne, dass dabei ihre Finger über die Innenseite seines Handgelenks streichen. Aber natürlich ist es ein Zufall, denn nichts liegt Florence ferner als erotische Avancen.
Ian McEwan verliert kein Wort mehr über diesen Moment, er kommentiert ihn nicht und schmückt ihn nicht aus. Er zeigt nur beiläufig, dass es keineswegs allein der Zufall ist, der unser Schicksal zu beeinflussen vermag. Viel entscheidender ist unsere Neigung, zufällige Begebenheiten falsch zu verstehen. Eine verpasste Gelegenheit, so lehrt uns dieses Buch, kann tausend Mal besser sein als ein glücklicher Zufall, den wir nicht richtig zu deuten wissen.
Florence und Edward verbindet fortan zweierlei: eine junge, zarte, ebenso scheue wie tiefe Liebe und eine lange, vielfach gewundene Kette von Zufällen, Missverständnissen und Debakeln, die in eine Katastrophe münden. "Am Strand" ist ein Hochzeitsnachtskatastrophenroman: Beklemmender kann man das Desaster zweier sich verfehlender Liebender kaum schildern. Dabei hätte auch der Roman selbst leicht im Desaster enden können, denn McEwan wagt viel. Was er sich vorgenommen hat, ist die Schilderung einer missglückten Hochzeitsnacht und ihrer Vorgeschichte bis ins kleinste Detail. Nicht genüsslich, sondern gnadenlos werden Scham und Verlangen und die Wege von Zungen und Händen, werden Lust und Not und Ekel beschrieben, ohne dass McEwan seine Leser darüber zu Voyeuren werden ließe. Bernhard Robben hat dies klar, hart und einfühlsam ins Deutsche übersetzt.
Wie in der klassischen Tragödie konstruiert McEwan eine ausweglose Situation, die nicht gut enden kann, nicht für dieses Paar und nicht in dieser Zeit. Denn wichtiger noch als die persönliche Vorgeschichte von Florence, der zarten und zielstrebigen Violinistin aus gutem Hause, und Edward, dem sensiblen, manchmal zur Derbheit neigenden Jungen vom Land, ist der Zeitpunkt ihrer Begegnung. Es sind die frühen sechziger Jahre in England: Groß sind die Klassenunterschiede, hoch die Schranken zwischen den Geschlechtern. Sex vor der Ehe ist in den Kreisen von Florence ebenso wie für den harmlosen Edward eines jener Gerüchte, die ebensogut aus dem Reich der Fabel kommen könnten: undenkbar für sie, unerreichbar für ihn. Dass es Sex gibt, wissen beide, aber dass keine Sprache existiert, in der sie miteinander darüber sprechen können, ist etwas, dass sie erst schmerzlich erfahren müssen. Ihr Kleid, in dem Florence gefangen ist, solange der Reißverschluss klemmt, kann sie schließlich abstreifen. Aber auch nackt bleiben beide Gefangene ihrer Zeit.
McEwan hat seine geniale Tragödie der Verkennungen ins Jahr 1962 verlegt, in das Jahr also vor jenem "Annus Mirabilis", von dem Philip Larkins gleichnamiges Gedicht spricht: "sexual intercourse began / in nineteen sixty-three". Das gilt auch für dieses Paar: Die Ehe wird nicht vollzogen. Denn Florence empfindet einen unüberwindlichen Ekel vor dem Geschlechtlichen. Dass dies womöglich mit einem Missbrauch durch ihren Vater zu tun haben könnte, bleibt eine Andeutung: McEwan gibt uns keine schlüssige Begründung für das, was seine Figuren nicht einmal ansatzweise verstehen können. Edwards körperliche Nähe, sein Verlangen, das Florence bedrängt, ihr Schuldgefühl, ihm nicht geben zu können, was ihm zuzustehen scheint und was allen anderen als natürlich und selbstverständlich gilt, die Unmöglichkeit, mit ihrem künftigen Ehemann darüber zu sprechen, all das treibt sie in die größte Not. Während bei ihr Panik mit Ekel wechselt und Ekel mit Panik, deutet Edward alle Signale falsch: Als sie stöhnt vor Übelkeit und Angst, sich in den Mund des Geliebten übergeben zu müssen, glaubt Edward ihr Verlangen sei entbrannt. Und als sie tatsächlich für einige Sekunden aufkommende Erregung verspürt, zum ersten und einzigen Mal, zieht er sich zurück.
Kühl und mit einer Präzision, die ans Bösartige grenzt, verfolgt McEwan in dieser genialen Tragödie der Verkennungen, wie zwei Liebende einander immer wieder verfehlen, um Millimeter nur und am Ende endgültig. Sich lieben, so steht es in einem Gedicht von Hans-Ulrich Treichel, heißt auch sich verpassen - um eine Sekunde, ein Wort, die Winzigkeit einer Geste, den Hauch einer Berührung. Florence ahnt dies, und sie ahnt auch, dass es immer so bleiben wird. Aus ihrem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: Edward, so ihr Vorschlag, soll frei sein für Affären und ihr so eine Liebe ermöglichen, die frei wäre von Sex. Das ist der Moment, in dem Florence ihre Käfigtür weit aufstößt und das Gefängnis ihrer Zeit verlassen will. Aber auch Edward ist gefangen und versteht sie nicht. Sich lieben, so lautet die Definition, die McEwan uns mit diesem Buch andient, hieße aus zwei Käfigen einen zu machen. Ob daraus Glück folgen kann, ist eine Frage des Zufalls und seiner Interpretation.
- Ian McEwan: "Am Strand". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 208 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ian McEwans neuer Roman "Am Strand" erzählt vom Scheitern einer jungen Liebe: ein bewegender Hochzeitsnachtskatastrophenroman und eine geniale Tragödie der Verkennungen.
Von Hubert Spiegel
Ein kleines Malheur: Wenn der Reißverschluss, der geöffnet werden soll, damit dünner Stoff an glatter Haut heruntergleite, nicht mit der linken Hand ein wenig gestrafft wird, kann ihn die rechte nicht öffnen. Das muss man lernen. Sonst ist Faltenwurf die Folge, und der Reißverschluss verhakt sich. Erst wird genestelt, dann gezerrt, dann geflucht. Schon ist er vorüber, der magische Moment des Übergangs zur Nacktheit. Und der dünne Stoff des Sommerkleids hat sich wieder in eine Rüstung verwandelt, durchscheinend und undurchdringlich.
Für Florence und Edward ist dieses kleine Malheur Teil einer großen Katastrophe. Sie hat sich angebahnt seit jenem Augenblick, da die beiden einander zufällig bei einer Veranstaltung der Anti-Atom-Gruppe in Oxford begegnet sind. Sie reicht ihm ein Flugblatt, das erklärt, was passiert, wenn eine Wasserstoffbombe auf die Stadt fällt, und er bildet sich ein, dass es kein Zufall sein könne, dass dabei ihre Finger über die Innenseite seines Handgelenks streichen. Aber natürlich ist es ein Zufall, denn nichts liegt Florence ferner als erotische Avancen.
Ian McEwan verliert kein Wort mehr über diesen Moment, er kommentiert ihn nicht und schmückt ihn nicht aus. Er zeigt nur beiläufig, dass es keineswegs allein der Zufall ist, der unser Schicksal zu beeinflussen vermag. Viel entscheidender ist unsere Neigung, zufällige Begebenheiten falsch zu verstehen. Eine verpasste Gelegenheit, so lehrt uns dieses Buch, kann tausend Mal besser sein als ein glücklicher Zufall, den wir nicht richtig zu deuten wissen.
Florence und Edward verbindet fortan zweierlei: eine junge, zarte, ebenso scheue wie tiefe Liebe und eine lange, vielfach gewundene Kette von Zufällen, Missverständnissen und Debakeln, die in eine Katastrophe münden. "Am Strand" ist ein Hochzeitsnachtskatastrophenroman: Beklemmender kann man das Desaster zweier sich verfehlender Liebender kaum schildern. Dabei hätte auch der Roman selbst leicht im Desaster enden können, denn McEwan wagt viel. Was er sich vorgenommen hat, ist die Schilderung einer missglückten Hochzeitsnacht und ihrer Vorgeschichte bis ins kleinste Detail. Nicht genüsslich, sondern gnadenlos werden Scham und Verlangen und die Wege von Zungen und Händen, werden Lust und Not und Ekel beschrieben, ohne dass McEwan seine Leser darüber zu Voyeuren werden ließe. Bernhard Robben hat dies klar, hart und einfühlsam ins Deutsche übersetzt.
Wie in der klassischen Tragödie konstruiert McEwan eine ausweglose Situation, die nicht gut enden kann, nicht für dieses Paar und nicht in dieser Zeit. Denn wichtiger noch als die persönliche Vorgeschichte von Florence, der zarten und zielstrebigen Violinistin aus gutem Hause, und Edward, dem sensiblen, manchmal zur Derbheit neigenden Jungen vom Land, ist der Zeitpunkt ihrer Begegnung. Es sind die frühen sechziger Jahre in England: Groß sind die Klassenunterschiede, hoch die Schranken zwischen den Geschlechtern. Sex vor der Ehe ist in den Kreisen von Florence ebenso wie für den harmlosen Edward eines jener Gerüchte, die ebensogut aus dem Reich der Fabel kommen könnten: undenkbar für sie, unerreichbar für ihn. Dass es Sex gibt, wissen beide, aber dass keine Sprache existiert, in der sie miteinander darüber sprechen können, ist etwas, dass sie erst schmerzlich erfahren müssen. Ihr Kleid, in dem Florence gefangen ist, solange der Reißverschluss klemmt, kann sie schließlich abstreifen. Aber auch nackt bleiben beide Gefangene ihrer Zeit.
McEwan hat seine geniale Tragödie der Verkennungen ins Jahr 1962 verlegt, in das Jahr also vor jenem "Annus Mirabilis", von dem Philip Larkins gleichnamiges Gedicht spricht: "sexual intercourse began / in nineteen sixty-three". Das gilt auch für dieses Paar: Die Ehe wird nicht vollzogen. Denn Florence empfindet einen unüberwindlichen Ekel vor dem Geschlechtlichen. Dass dies womöglich mit einem Missbrauch durch ihren Vater zu tun haben könnte, bleibt eine Andeutung: McEwan gibt uns keine schlüssige Begründung für das, was seine Figuren nicht einmal ansatzweise verstehen können. Edwards körperliche Nähe, sein Verlangen, das Florence bedrängt, ihr Schuldgefühl, ihm nicht geben zu können, was ihm zuzustehen scheint und was allen anderen als natürlich und selbstverständlich gilt, die Unmöglichkeit, mit ihrem künftigen Ehemann darüber zu sprechen, all das treibt sie in die größte Not. Während bei ihr Panik mit Ekel wechselt und Ekel mit Panik, deutet Edward alle Signale falsch: Als sie stöhnt vor Übelkeit und Angst, sich in den Mund des Geliebten übergeben zu müssen, glaubt Edward ihr Verlangen sei entbrannt. Und als sie tatsächlich für einige Sekunden aufkommende Erregung verspürt, zum ersten und einzigen Mal, zieht er sich zurück.
Kühl und mit einer Präzision, die ans Bösartige grenzt, verfolgt McEwan in dieser genialen Tragödie der Verkennungen, wie zwei Liebende einander immer wieder verfehlen, um Millimeter nur und am Ende endgültig. Sich lieben, so steht es in einem Gedicht von Hans-Ulrich Treichel, heißt auch sich verpassen - um eine Sekunde, ein Wort, die Winzigkeit einer Geste, den Hauch einer Berührung. Florence ahnt dies, und sie ahnt auch, dass es immer so bleiben wird. Aus ihrem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: Edward, so ihr Vorschlag, soll frei sein für Affären und ihr so eine Liebe ermöglichen, die frei wäre von Sex. Das ist der Moment, in dem Florence ihre Käfigtür weit aufstößt und das Gefängnis ihrer Zeit verlassen will. Aber auch Edward ist gefangen und versteht sie nicht. Sich lieben, so lautet die Definition, die McEwan uns mit diesem Buch andient, hieße aus zwei Käfigen einen zu machen. Ob daraus Glück folgen kann, ist eine Frage des Zufalls und seiner Interpretation.
- Ian McEwan: "Am Strand". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 208 S., geb., 18,90 [Euro].
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»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern