Der Tag vor der Katastrophe: Der 16-jährige Michel fährt mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Gemeinsam fühlen sie sich unbesiegbar. Am Tag darauf kommen bei einem Grubenunglück 42 Bergmänner aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung ums Leben - Joseph stirbt infolge seiner Verletzungen. Michel flüchtet sich nach Paris, auch um die Worte des Vaters zu vergessen: »Du musst uns rächen!« Sein Schmerz aber vergeht nicht, und so beginnt Michel Jahre später einen Rachefeldzug. Noch weiß er nicht, dass die Nacht vor dem Unglück anders war, als er es in Erinnerung hat.
Ein erschütternder Roman über Schuld, Verdrängung und zwei Brüder, die einander bewunderten.
Ein erschütternder Roman über Schuld, Verdrängung und zwei Brüder, die einander bewunderten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2019Auch Staublungen töten, nur langsamer
Im Geiste Zolas, aber nicht so überzeugend: Sorj Chalandon erzählt von den Menschen am Rand Frankreichs
Sorj Chalandon ist ein Autor, der offenbar alles richtig macht: Er erzählt mitreißende Geschichten mit brisantem gesellschaftlichem Hintergrund; seine Charaktere lassen keinen kalt, sie rühren an oder schrecken ab. Kein Wunder, dass er dem breiten Publikum in Frankreich schon länger ein Begriff ist und für große Preise nominiert wird (Prix Goncourt, zweimal) oder diese gewinnt (Prix Médicis). So viel Erfolg hat seine Kehrseiten: Chalandon, 1952 in Tunis geboren, früher Journalist bei "Libération", heute beim Satire-Magazin "Le Canard enchaîné", hat eine journalistische Schreibweise im mitunter schlechten Sinne. Nicht alle Figuren sind komplex, manche Handlung ist linear-schlicht, der Stil kurzatmig, pointenorientiert; das Setting tendiert zu plakativem Lokalkolorit. Das alles trifft auf "Rückkehr nach Killybegs" zu, einen Roman über einen IRA-Verräter, der 2011 den Grand prix du roman der Académie française erhalten hat - eine Institution variablen Geschmacks, die mal anspruchsvolle Autoren wie Pierre Michon oder Hédi Kaddour auszeichnet, mal Schreiberlinge vom Schlage eines Joël Dicker.
"Am Tag davor" hat von all den Fehlern etwas, ist zudem rührselig. Trotzdem handelt es sich um einen packenden Roman, der ein großes Thema der "France périphérique", des geographisch-sozialen Rands Frankreichs, anpackt, nämlich die Kohleminen im Norden. Brisant ist deren Geschichte deshalb, weil der Betreiber - in der Nachkriegszeit der Staat - dem Roman zufolge Profit über Sicherheit gestellt hat. Der zweifelhaften Priorität sind zahlreiche Todesfälle zuzuschreiben, ob durch Unglücke oder miserable Arbeitsbedingungen; auch Staublungen töten, nur langsamer. Einen davon, so scheint es, greift Chalandon heraus: Joseph Flavent, Jojo, Bruder des Erzählers Michel, der am 27. Dezember 1974 in Schacht 3b der Grube Saint-Amé in Liévin (Departement Pas-de-Calais) schwer verletzt wird und wenige Wochen später stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben - das 43. Opfer einer historisch belegten Explosion, die minimale Sicherheitsmaßnahmen verhindert hätten. Der gut dokumentierte Roman ist auf dieser Ebene eine Anklage gegen die Hierarchie, ja gegen die kollektive Indifferenz: "Das Land teilte unsere Trauer nicht."
Chalandon lässt Michel die Geschichte im Rückblick erzählen: Der Mittfünfziger hat gerade seine Frau, die Lehrerin Cécile, an Krebs verloren. Er erinnert sich an den Tod seines Bruders, dem er in der Garage ein Museum eingerichtet hat, und an die fatalen Folgen: den Wegzug der Witwe, den Suizid seines Vaters, den Verkauf des elterlichen Bauernhofs, Umzug und Tod seiner Mutter, seine eigene Flucht nach Paris. Nun, da sein Eheleben ganz und sein Arbeitsleben fast beendet ist, kehrt der Fernfahrer zurück. Im Auftrag seines Vaters, dessen Abschiedsbrief ein Racheauftrag war, will er späte Vergeltung üben: Er will den Skandal ausräumen, dass trotz eklatanter Versäumnisse kein Schuldspruch erfolgte. Als Missetäter hat er Lucien Dravelle ausgemacht, den Steiger, der die Verantwortung für die Sicherheit hatte. Michel nähert sich, gewinnt Dravelles Sympathie, versucht, ihn zu töten. Neben seinem Opfer liegend wird er verhaftet, nackt, kohlebeschmiert. Aude Boulfroy, eine talentierte junge Anwältin, übernimmt Michels Verteidigung: Beide wollen der Mine nach 40 Jahren endlich den Prozess machen.
Bis zu diesem Punkt - bis Seite 218, um genau zu sein - wirkt der Roman so konventionell, wie "Rückkehr nach Killybegs" befürchten ließ, mit aufrechten Kumpels und bösen Bossen. Aber die Gerichtsverhandlung, die zu Michels Gunsten begonnen hatte, erhält eine unerwartete Wendung: Die Ermittlungen graben die Wahrheit des Jahres 1974 aus und stürzen alle Gewissheiten um. Jojo ist gar nicht im Grubenunglück tödlich verletzt worden, sondern eben "am Tag davor". Das "schöne Arbeitermärchen" platzt wie eine rußige Seifenblase: Dem Mordversuch fehlt die direkte Legitimität, und die Verantwortlichkeiten sind ganz anders verteilt, als es den Anschein hatte. Hinzu kommt, dass Dravelle, der überlebt hat, die Tat verzeiht, weil er sie für prinzipiell nachvollziehbar hält. Michel hingegen entpuppt sich als Verstrickter und Lügner, als Täter und Opfer zugleich: Chalandon rettet sein Thema, indem er seine Hauptfigur opfert. Und indem er die Frage nach Verantwortung einbettet in eine menschenverachtende Situation, in der man so oder so stirbt.
"Am Tag davor" stellt sich einem großen Vorbild engagierter Literatur, das eine Figur eingangs scherzhaft erwähnt: ",Germinal' ist jetzt vollautomatisch", sagt der Kumpel zur Mechanisierung, und bringt als Bezug Émile Zolas Bergbauroman (1885) ins Spiel. Weitere Verweise verstärken den Eindruck einer Nachfolge. Nun steht außer Frage, dass Chalandons Roman die epische, sprachliche oder symbolische Kraft des naturalistischen Vorbilds nicht erreicht; es gibt kein Äquivalent zu Zolas Förderturm "Le Voreux", der komplexe Sachverhalte grandios verdichtet. Was Chalandon mit Zola jedoch teilt, ist die Frage nach Verantwortung in einer Ausbeutungssituation. Und diejenige, ob es jenseits konkreter Schuld nicht eine Form allgemeiner Verantwortung gibt, eine Frage, die er (anders als Zola) nicht wohlfeil durch poetische Gerechtigkeit einlöst. Chalandon entwickelt eine intrikate ethische Problematik: In diesem Punkt kann "Am Tag davor" voll und ganz überzeugen.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon:
"Am Tag davor". Roman.
Aus dem Französischen
von Brigitte Große.
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2019. 318 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Geiste Zolas, aber nicht so überzeugend: Sorj Chalandon erzählt von den Menschen am Rand Frankreichs
Sorj Chalandon ist ein Autor, der offenbar alles richtig macht: Er erzählt mitreißende Geschichten mit brisantem gesellschaftlichem Hintergrund; seine Charaktere lassen keinen kalt, sie rühren an oder schrecken ab. Kein Wunder, dass er dem breiten Publikum in Frankreich schon länger ein Begriff ist und für große Preise nominiert wird (Prix Goncourt, zweimal) oder diese gewinnt (Prix Médicis). So viel Erfolg hat seine Kehrseiten: Chalandon, 1952 in Tunis geboren, früher Journalist bei "Libération", heute beim Satire-Magazin "Le Canard enchaîné", hat eine journalistische Schreibweise im mitunter schlechten Sinne. Nicht alle Figuren sind komplex, manche Handlung ist linear-schlicht, der Stil kurzatmig, pointenorientiert; das Setting tendiert zu plakativem Lokalkolorit. Das alles trifft auf "Rückkehr nach Killybegs" zu, einen Roman über einen IRA-Verräter, der 2011 den Grand prix du roman der Académie française erhalten hat - eine Institution variablen Geschmacks, die mal anspruchsvolle Autoren wie Pierre Michon oder Hédi Kaddour auszeichnet, mal Schreiberlinge vom Schlage eines Joël Dicker.
"Am Tag davor" hat von all den Fehlern etwas, ist zudem rührselig. Trotzdem handelt es sich um einen packenden Roman, der ein großes Thema der "France périphérique", des geographisch-sozialen Rands Frankreichs, anpackt, nämlich die Kohleminen im Norden. Brisant ist deren Geschichte deshalb, weil der Betreiber - in der Nachkriegszeit der Staat - dem Roman zufolge Profit über Sicherheit gestellt hat. Der zweifelhaften Priorität sind zahlreiche Todesfälle zuzuschreiben, ob durch Unglücke oder miserable Arbeitsbedingungen; auch Staublungen töten, nur langsamer. Einen davon, so scheint es, greift Chalandon heraus: Joseph Flavent, Jojo, Bruder des Erzählers Michel, der am 27. Dezember 1974 in Schacht 3b der Grube Saint-Amé in Liévin (Departement Pas-de-Calais) schwer verletzt wird und wenige Wochen später stirbt, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben - das 43. Opfer einer historisch belegten Explosion, die minimale Sicherheitsmaßnahmen verhindert hätten. Der gut dokumentierte Roman ist auf dieser Ebene eine Anklage gegen die Hierarchie, ja gegen die kollektive Indifferenz: "Das Land teilte unsere Trauer nicht."
Chalandon lässt Michel die Geschichte im Rückblick erzählen: Der Mittfünfziger hat gerade seine Frau, die Lehrerin Cécile, an Krebs verloren. Er erinnert sich an den Tod seines Bruders, dem er in der Garage ein Museum eingerichtet hat, und an die fatalen Folgen: den Wegzug der Witwe, den Suizid seines Vaters, den Verkauf des elterlichen Bauernhofs, Umzug und Tod seiner Mutter, seine eigene Flucht nach Paris. Nun, da sein Eheleben ganz und sein Arbeitsleben fast beendet ist, kehrt der Fernfahrer zurück. Im Auftrag seines Vaters, dessen Abschiedsbrief ein Racheauftrag war, will er späte Vergeltung üben: Er will den Skandal ausräumen, dass trotz eklatanter Versäumnisse kein Schuldspruch erfolgte. Als Missetäter hat er Lucien Dravelle ausgemacht, den Steiger, der die Verantwortung für die Sicherheit hatte. Michel nähert sich, gewinnt Dravelles Sympathie, versucht, ihn zu töten. Neben seinem Opfer liegend wird er verhaftet, nackt, kohlebeschmiert. Aude Boulfroy, eine talentierte junge Anwältin, übernimmt Michels Verteidigung: Beide wollen der Mine nach 40 Jahren endlich den Prozess machen.
Bis zu diesem Punkt - bis Seite 218, um genau zu sein - wirkt der Roman so konventionell, wie "Rückkehr nach Killybegs" befürchten ließ, mit aufrechten Kumpels und bösen Bossen. Aber die Gerichtsverhandlung, die zu Michels Gunsten begonnen hatte, erhält eine unerwartete Wendung: Die Ermittlungen graben die Wahrheit des Jahres 1974 aus und stürzen alle Gewissheiten um. Jojo ist gar nicht im Grubenunglück tödlich verletzt worden, sondern eben "am Tag davor". Das "schöne Arbeitermärchen" platzt wie eine rußige Seifenblase: Dem Mordversuch fehlt die direkte Legitimität, und die Verantwortlichkeiten sind ganz anders verteilt, als es den Anschein hatte. Hinzu kommt, dass Dravelle, der überlebt hat, die Tat verzeiht, weil er sie für prinzipiell nachvollziehbar hält. Michel hingegen entpuppt sich als Verstrickter und Lügner, als Täter und Opfer zugleich: Chalandon rettet sein Thema, indem er seine Hauptfigur opfert. Und indem er die Frage nach Verantwortung einbettet in eine menschenverachtende Situation, in der man so oder so stirbt.
"Am Tag davor" stellt sich einem großen Vorbild engagierter Literatur, das eine Figur eingangs scherzhaft erwähnt: ",Germinal' ist jetzt vollautomatisch", sagt der Kumpel zur Mechanisierung, und bringt als Bezug Émile Zolas Bergbauroman (1885) ins Spiel. Weitere Verweise verstärken den Eindruck einer Nachfolge. Nun steht außer Frage, dass Chalandons Roman die epische, sprachliche oder symbolische Kraft des naturalistischen Vorbilds nicht erreicht; es gibt kein Äquivalent zu Zolas Förderturm "Le Voreux", der komplexe Sachverhalte grandios verdichtet. Was Chalandon mit Zola jedoch teilt, ist die Frage nach Verantwortung in einer Ausbeutungssituation. Und diejenige, ob es jenseits konkreter Schuld nicht eine Form allgemeiner Verantwortung gibt, eine Frage, die er (anders als Zola) nicht wohlfeil durch poetische Gerechtigkeit einlöst. Chalandon entwickelt eine intrikate ethische Problematik: In diesem Punkt kann "Am Tag davor" voll und ganz überzeugen.
NIKLAS BENDER
Sorj Chalandon:
"Am Tag davor". Roman.
Aus dem Französischen
von Brigitte Große.
Deutscher Taschenbuchverlag, München 2019. 318 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sorj Chalandon erzählt eindringlich davon, wie unerbittlich Schuld und Verdrängung ein ganzes Leben bestimmen können. Andreas Wirthensohn WDR 3 20190923