1000 Seiten, fünf Bände - ein Roman. In Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen erzählt Philipp Weiss von der Verwandlung der Welt im Anthropozän - jener Epoche der Erdgeschichte, in welcher der Mensch zur zentralen gestaltenden Kraft geworden ist. Zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, in Form von Enzyklopädie, Erzählung, Notizheft, Audiotranskription und Comic entwirft dieser kühne Roman ein Panoptikum unserer fliehenden Wirklichkeit.
Die siebzehnjährige Paulette erlebt im Jahr 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, bereist als eine der ersten europäischen Frauen das Japan der Meiji-Ära und liegt über hundertdreißig Jahre im Eis der französischen Alpen geborgen. Die Klimaforscherin Chantal, ihre Ururenkelin, folgt ihren Spuren nach Fernost, entwirft eine zynische Geschichte des Universums und entflieht zugleich einer Liebe und deren umstülpender Kraft. Der von ihr zurückgelassene Künstler Jona begibt sich auf die Suche, findet in Japan aber nicht Chantal, sondern eine vielfache Katastrophe: ein Erdbeben, eine Welle, einen Atomunfall. Der neunjährige Akio läuft tagelang durch zerstörtes Gebiet. Trost findet er bei Satoshi, einem obdachlosen Tagelöhner und AKW-Nomaden, der langsam an den Folgen der Strahlung stirbt. Durch einen Phantomschmerz getrieben, irrt die junge Japanerin Abra durch Tokio und verliert sich in den einsamen Schleifen ihres virtualisierten Selbst.
Die siebzehnjährige Paulette erlebt im Jahr 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, bereist als eine der ersten europäischen Frauen das Japan der Meiji-Ära und liegt über hundertdreißig Jahre im Eis der französischen Alpen geborgen. Die Klimaforscherin Chantal, ihre Ururenkelin, folgt ihren Spuren nach Fernost, entwirft eine zynische Geschichte des Universums und entflieht zugleich einer Liebe und deren umstülpender Kraft. Der von ihr zurückgelassene Künstler Jona begibt sich auf die Suche, findet in Japan aber nicht Chantal, sondern eine vielfache Katastrophe: ein Erdbeben, eine Welle, einen Atomunfall. Der neunjährige Akio läuft tagelang durch zerstörtes Gebiet. Trost findet er bei Satoshi, einem obdachlosen Tagelöhner und AKW-Nomaden, der langsam an den Folgen der Strahlung stirbt. Durch einen Phantomschmerz getrieben, irrt die junge Japanerin Abra durch Tokio und verliert sich in den einsamen Schleifen ihres virtualisierten Selbst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2018Ein Haus, das Kopfstand macht
Die Katastrophe als Signum unserer Zeit: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" von Philipp Weiss hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt. Kann er das auf 1000 Seiten einlösen?
Schon lange ist kein Romandebüt mehr so hoch gehandelt worden wie Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Und wenn man die insgesamt fünf Bände vor sich hat, kann man tatsächlich erst einmal nur staunen. Diese Ausgabe ist aufsehenerregend schön. Sie ist aufwendig gestaltet und wartet mit klugen typographischen Lösungen auf. Da eine der wichtigsten Eigenschaften von Weiss' Erzählen ist, dass sich die verschiedensten Erzählweisen, Ebenen, Stimmen und Materialien überlagern, verschränken die einzelnen Buchseiten die differenten Textelemente kunstvoll ineinander.
Die Gestalterin Pauline Altmann hat eine atemberaubend abwechslungsreiche Textlandschaft geschaffen. Zumal sie einzelne Seiten mit handschriftlichen Passagen und feinen Vignetten illustriert hat. Höchste Ansprüche erhebt auch die erzählerische Konstruktion. Philipp Weiss hat eine literarische Enzyklopädie vorgelegt. Was darunter zu verstehen ist, geht auf Ezra Pound zurück, der anhand von Flauberts "Bouvard und Pecuchet" und Joyce' "Ulysses" zwei Charakteristika festmachte: Zum einen legen es diese Romane darauf an, das Wissen und die Mentalität einer ganzen Epoche in sich zu vereinen.
Zum anderen reflektieren sie die enzyklopädischen Verfahren, mit denen Wissen formiert und präsentiert wird. Um den enzyklopädischen Anspruch von Philipp Weiss' tausendseitiger Großerzählung zu erkennen, reicht es, jenen Band zur Hand nehmen, der einer fiktiven Paulette Blanchard zugeschrieben ist.
Die Erzählung trägt den Titel "Enzyklopädien eines Ichs". Sie ist in zwölf Alphabete eingeteilt und buchstabiert ihre Geschichte anhand einschlägiger Lemmata aus. Und Paulettes Lieblingsbuch ist d'Alemberts und Diderots Encyclopédie. Als habe es Lyotards Warnung vor der grand récit nie gegeben, formiert Weiss alle Arten von Wissen aus der Anthropologie, Geologie, Physik, Geschichte, Archäologie und Philosophie zu einer Großerzählung. Deren Pointe erschließt sich dadurch, dass vier der Bände auf denselben Moment zulaufen: Das wildwuchernde Tagebuch der französischen Klimaforscherin Chantal Blanchard, der Reisebericht des Wiener Künstlers Jona Jonas, die Skripte zu den Tonbandaufzeichnungen des neunjährigen Akio und der mit einer eigenwilligen Bildsprache hervorstechende Manga, der die junge Japanerin Abra Aoki zur Protagonistin hat, drehen sich alle um das Erdbeben und den Tsunami, die 2011 im japanischen Fukushima einen atomaren Super-GAU auslösten.
In dieser Katastrophe macht Philipp Weiss die Signatur unserer Gegenwart aus. Während seine grand récit die Weltgeschichte aus der Spannung zwischen der Technologisierung einerseits und dem unvermeidlichen Kontrollverlust andererseits erwachsen lässt. Dieser Konflikt treibt auch jene Geschichte an, die das Erzählquartett um eine weibliche Genealogie erweitert: Paulette Blanchard ist die Ururgroßmutter der Physikerin Chantal Blanchard. Und die "Enzyklopädien des Ichs" erzählen Paulettes Lebensgeschichte, von der ersten Liebe über den Aufstand der Pariser Kommune 1871, die Weltausstellung in Wien bis zu ihrer scheiternden Ehe in Japan. Weiss' Roman hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt.
Jonas' Suche nach seiner verlorenen Freundin sowie der von Raffaela Schöbitz gezeichnete Manga bieten Mind-Game-Literatur vom Feinsten. Doch drei der fünf Bände lassen ihre Leser konsterniert zurück. Das liegt an der Art, wie hier erzählt wird. Jeder der Bände entwirft eine Erzählerfigur, an deren Bewusstsein die erzählte Welt vollständig gebunden ist. Ohne das Gegengewicht durch eine andere Instanz geht alles in ihrer Sichtweise auf. Genau das entwickelt sich aber zum Problem. Am pointiertesten sieht man das bei Paulette Blanchard. Sie wirkt, als müsste sie alle Klischees des neunzehnten Jahrhunderts in sich vereinen. Vom Bankrott des Vaters gebeutelt, von dessen Affären erschüttert, von der Mutter alleingelassen, hat das Fräuleinwunder dennoch Verstand und Herz auf dem rechten Fleck. Man muss allerdings aushalten, dass man dieser Figur extrem nahe kommt und an Gedankenwelten teilhat, von denen man nicht unbedingt wissen will: "Wie töricht ich mir vorkommen muss! Wie lächerlich! Es hat ganz offenbar ein Spuk von mir Besitz ergriffen, ein listiges Fieber, dessentwegen ich jedenfalls Mühe habe, noch einen anderen Gedanken zu fassen als ebendiesen: Eugène! So laufe ich bereits den ganzen Morgen unruhig auf und ab, wechsle Kleider und Frisuren und Frisuren und Kleider."
Paulettes Sprache ist ein manierierter Graus, in der "manche neckische Weide gar den Nacken berührt" oder die Verfasserin, ihre "sonderbare kleine Schrift" dem Herausgeber "mit der vorlauten Bitte" zukommen lässt, "Ihren versierten Geist darauf zu wenden, diese zu prüfen."
Als Wissensinstanz wollen ihr nicht die kleinsten Unterscheidungen glücken. Gleich zu Beginn differenziert sie zwischen dem Schönen und dem Hübschen: "Man bewundert am Schönen das Edle und Regelmäßige, am Hübschen hingegen die geistreiche Eigenart. Ja, ich glaube, dass ich hübsch bin und dass mir am Schönen, was mich selbst betrifft, gar nichts liegt!" Paulette ist also besonders, ihre Schriften sind "sonderbar" und beide bemerkenswerte Singularitäten. Im Deutschen jedoch hat das Wort hübsch nichts mit geistreicher Eigenart zu tun. Es leitet sich ab vom mittelhochdeutschen hövesch und bezeichnet das Feine und Zierliche, das den höfischen Sitten gemäße.
Hübsch heißt, dem Hofe angepasst zu sein, und meint also das Gegenteil davon, was die bürgerliche Paulette gerne wahrhaben würde. Ist das Ironie? Wird Paulette mit ihrer Fehleinschätzung vorgeführt? Mag sein. Doch die weitere Erzählung geht vollkommen in der Rollenprosa auf und hält den Leser noch dreihundert Seiten in dieser Sprache und in diesem Bewusstsein gefangen. Daher hat später die Ururenkelin Chantal recht, wenn sie bei der Lektüre von Paulettes "Enzyklopädie" ausruft: "Naives Ding! Scheußliches, lächerliches Wesen! Schon zwei Mal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert." Da erkennt man sich als Leser wieder.
Leider löst sich das Rollenprosa-Problem auch nicht, wenn der Roman die Gegenwart erreicht. Die Physikerin Chantal hat sich ihrerseits in ein zählebiges Gespinst aus postmoderner Philosophie, Evolutionstheorie und Klima-Knowhow eingesponnen. Unter anderem ist sie davon überzeugt, die Allgemeinheit kranke daran, nichts von der Quantenphysik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verstanden zu haben. Deshalb holt sie das jetzt in ihren "Cahiers" unter dem aufmunternden Titel "Zerstört euch" auf dem Niveau von Hausaufgabe und Strafarbeit nach. Bei aller Montagefinesse entfaltet auch der Band klaustrophobische Wirkung: Man will da raus. Zumal Chantals Wille zur Belehrung die Fiktion der superschlauen Spitzenforscherin unterläuft. Grundlagenphysik zu büffeln scheint doch eher aus dem Geiste der Didaktik von Eliteforschern geboren zu sein. Nach diesen beiden Fehlschlägen misslingt tatsächlich auch jener Band auf analoge Weise, in dem Weiss die Katastrophe von Fukushima aus der Sicht des neunjährigen Akio schildert. Wo für den Erwachsenen nur Tod und Verwüstung zu erkennen sind, gewinnt das Kind den Schrecken eine tragikomische Poesie ab: "Ein Lastwagen, der sich wie ein Äffchen um eine Ampel windet. Oder ein Fischerboot, das im 3. Stock ankert. Ein Haus, das Kopfstand macht. Wir haben wirklich die komischsten Sachen gesehen."
Philipp Weiss lässt die Welt zwar kopfstehen, ohne dass aber Erkenntnis daraus folgt. Zumal sich bei der Bewusstseinsmimikry im Fall von Akio in besonderer Weise die Frage nach den kulturellen Differenzen stellt. Selbst wenn sich das Kind nach seinen Eltern sehnt oder sich von einem verqueren Anblick angeblich fasziniert zeigt, fragt man sich, ob es diese Konzepte im Japanischen überhaupt gibt. Faszination und Sehnsucht, selbst wenn die japanische Kultur diese europäischen Modelle adaptiert haben sollte, dürften sie mit unseren Vorstellungen nicht einfach kompatibel sein. Gibt es da nicht eine Grenze, über die hinaus sich ein deutschsprachiger Autor nicht in das Bewusstsein eines japanischen Jungen einschreiben kann? Dieser Tausendseiter ist ein beeindruckendes Debüt. Aber es schmerzt, diesem Romanriesen zuzusehen, wie er auf einem Bein tänzelnd versucht, Balance zu halten.
CHRISTIAN METZ
Philipp Weiss: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und
lachen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 5 Bände im Schuber, zs. 1064 S., br., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Katastrophe als Signum unserer Zeit: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" von Philipp Weiss hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt. Kann er das auf 1000 Seiten einlösen?
Schon lange ist kein Romandebüt mehr so hoch gehandelt worden wie Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Und wenn man die insgesamt fünf Bände vor sich hat, kann man tatsächlich erst einmal nur staunen. Diese Ausgabe ist aufsehenerregend schön. Sie ist aufwendig gestaltet und wartet mit klugen typographischen Lösungen auf. Da eine der wichtigsten Eigenschaften von Weiss' Erzählen ist, dass sich die verschiedensten Erzählweisen, Ebenen, Stimmen und Materialien überlagern, verschränken die einzelnen Buchseiten die differenten Textelemente kunstvoll ineinander.
Die Gestalterin Pauline Altmann hat eine atemberaubend abwechslungsreiche Textlandschaft geschaffen. Zumal sie einzelne Seiten mit handschriftlichen Passagen und feinen Vignetten illustriert hat. Höchste Ansprüche erhebt auch die erzählerische Konstruktion. Philipp Weiss hat eine literarische Enzyklopädie vorgelegt. Was darunter zu verstehen ist, geht auf Ezra Pound zurück, der anhand von Flauberts "Bouvard und Pecuchet" und Joyce' "Ulysses" zwei Charakteristika festmachte: Zum einen legen es diese Romane darauf an, das Wissen und die Mentalität einer ganzen Epoche in sich zu vereinen.
Zum anderen reflektieren sie die enzyklopädischen Verfahren, mit denen Wissen formiert und präsentiert wird. Um den enzyklopädischen Anspruch von Philipp Weiss' tausendseitiger Großerzählung zu erkennen, reicht es, jenen Band zur Hand nehmen, der einer fiktiven Paulette Blanchard zugeschrieben ist.
Die Erzählung trägt den Titel "Enzyklopädien eines Ichs". Sie ist in zwölf Alphabete eingeteilt und buchstabiert ihre Geschichte anhand einschlägiger Lemmata aus. Und Paulettes Lieblingsbuch ist d'Alemberts und Diderots Encyclopédie. Als habe es Lyotards Warnung vor der grand récit nie gegeben, formiert Weiss alle Arten von Wissen aus der Anthropologie, Geologie, Physik, Geschichte, Archäologie und Philosophie zu einer Großerzählung. Deren Pointe erschließt sich dadurch, dass vier der Bände auf denselben Moment zulaufen: Das wildwuchernde Tagebuch der französischen Klimaforscherin Chantal Blanchard, der Reisebericht des Wiener Künstlers Jona Jonas, die Skripte zu den Tonbandaufzeichnungen des neunjährigen Akio und der mit einer eigenwilligen Bildsprache hervorstechende Manga, der die junge Japanerin Abra Aoki zur Protagonistin hat, drehen sich alle um das Erdbeben und den Tsunami, die 2011 im japanischen Fukushima einen atomaren Super-GAU auslösten.
In dieser Katastrophe macht Philipp Weiss die Signatur unserer Gegenwart aus. Während seine grand récit die Weltgeschichte aus der Spannung zwischen der Technologisierung einerseits und dem unvermeidlichen Kontrollverlust andererseits erwachsen lässt. Dieser Konflikt treibt auch jene Geschichte an, die das Erzählquartett um eine weibliche Genealogie erweitert: Paulette Blanchard ist die Ururgroßmutter der Physikerin Chantal Blanchard. Und die "Enzyklopädien des Ichs" erzählen Paulettes Lebensgeschichte, von der ersten Liebe über den Aufstand der Pariser Kommune 1871, die Weltausstellung in Wien bis zu ihrer scheiternden Ehe in Japan. Weiss' Roman hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt.
Jonas' Suche nach seiner verlorenen Freundin sowie der von Raffaela Schöbitz gezeichnete Manga bieten Mind-Game-Literatur vom Feinsten. Doch drei der fünf Bände lassen ihre Leser konsterniert zurück. Das liegt an der Art, wie hier erzählt wird. Jeder der Bände entwirft eine Erzählerfigur, an deren Bewusstsein die erzählte Welt vollständig gebunden ist. Ohne das Gegengewicht durch eine andere Instanz geht alles in ihrer Sichtweise auf. Genau das entwickelt sich aber zum Problem. Am pointiertesten sieht man das bei Paulette Blanchard. Sie wirkt, als müsste sie alle Klischees des neunzehnten Jahrhunderts in sich vereinen. Vom Bankrott des Vaters gebeutelt, von dessen Affären erschüttert, von der Mutter alleingelassen, hat das Fräuleinwunder dennoch Verstand und Herz auf dem rechten Fleck. Man muss allerdings aushalten, dass man dieser Figur extrem nahe kommt und an Gedankenwelten teilhat, von denen man nicht unbedingt wissen will: "Wie töricht ich mir vorkommen muss! Wie lächerlich! Es hat ganz offenbar ein Spuk von mir Besitz ergriffen, ein listiges Fieber, dessentwegen ich jedenfalls Mühe habe, noch einen anderen Gedanken zu fassen als ebendiesen: Eugène! So laufe ich bereits den ganzen Morgen unruhig auf und ab, wechsle Kleider und Frisuren und Frisuren und Kleider."
Paulettes Sprache ist ein manierierter Graus, in der "manche neckische Weide gar den Nacken berührt" oder die Verfasserin, ihre "sonderbare kleine Schrift" dem Herausgeber "mit der vorlauten Bitte" zukommen lässt, "Ihren versierten Geist darauf zu wenden, diese zu prüfen."
Als Wissensinstanz wollen ihr nicht die kleinsten Unterscheidungen glücken. Gleich zu Beginn differenziert sie zwischen dem Schönen und dem Hübschen: "Man bewundert am Schönen das Edle und Regelmäßige, am Hübschen hingegen die geistreiche Eigenart. Ja, ich glaube, dass ich hübsch bin und dass mir am Schönen, was mich selbst betrifft, gar nichts liegt!" Paulette ist also besonders, ihre Schriften sind "sonderbar" und beide bemerkenswerte Singularitäten. Im Deutschen jedoch hat das Wort hübsch nichts mit geistreicher Eigenart zu tun. Es leitet sich ab vom mittelhochdeutschen hövesch und bezeichnet das Feine und Zierliche, das den höfischen Sitten gemäße.
Hübsch heißt, dem Hofe angepasst zu sein, und meint also das Gegenteil davon, was die bürgerliche Paulette gerne wahrhaben würde. Ist das Ironie? Wird Paulette mit ihrer Fehleinschätzung vorgeführt? Mag sein. Doch die weitere Erzählung geht vollkommen in der Rollenprosa auf und hält den Leser noch dreihundert Seiten in dieser Sprache und in diesem Bewusstsein gefangen. Daher hat später die Ururenkelin Chantal recht, wenn sie bei der Lektüre von Paulettes "Enzyklopädie" ausruft: "Naives Ding! Scheußliches, lächerliches Wesen! Schon zwei Mal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert." Da erkennt man sich als Leser wieder.
Leider löst sich das Rollenprosa-Problem auch nicht, wenn der Roman die Gegenwart erreicht. Die Physikerin Chantal hat sich ihrerseits in ein zählebiges Gespinst aus postmoderner Philosophie, Evolutionstheorie und Klima-Knowhow eingesponnen. Unter anderem ist sie davon überzeugt, die Allgemeinheit kranke daran, nichts von der Quantenphysik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verstanden zu haben. Deshalb holt sie das jetzt in ihren "Cahiers" unter dem aufmunternden Titel "Zerstört euch" auf dem Niveau von Hausaufgabe und Strafarbeit nach. Bei aller Montagefinesse entfaltet auch der Band klaustrophobische Wirkung: Man will da raus. Zumal Chantals Wille zur Belehrung die Fiktion der superschlauen Spitzenforscherin unterläuft. Grundlagenphysik zu büffeln scheint doch eher aus dem Geiste der Didaktik von Eliteforschern geboren zu sein. Nach diesen beiden Fehlschlägen misslingt tatsächlich auch jener Band auf analoge Weise, in dem Weiss die Katastrophe von Fukushima aus der Sicht des neunjährigen Akio schildert. Wo für den Erwachsenen nur Tod und Verwüstung zu erkennen sind, gewinnt das Kind den Schrecken eine tragikomische Poesie ab: "Ein Lastwagen, der sich wie ein Äffchen um eine Ampel windet. Oder ein Fischerboot, das im 3. Stock ankert. Ein Haus, das Kopfstand macht. Wir haben wirklich die komischsten Sachen gesehen."
Philipp Weiss lässt die Welt zwar kopfstehen, ohne dass aber Erkenntnis daraus folgt. Zumal sich bei der Bewusstseinsmimikry im Fall von Akio in besonderer Weise die Frage nach den kulturellen Differenzen stellt. Selbst wenn sich das Kind nach seinen Eltern sehnt oder sich von einem verqueren Anblick angeblich fasziniert zeigt, fragt man sich, ob es diese Konzepte im Japanischen überhaupt gibt. Faszination und Sehnsucht, selbst wenn die japanische Kultur diese europäischen Modelle adaptiert haben sollte, dürften sie mit unseren Vorstellungen nicht einfach kompatibel sein. Gibt es da nicht eine Grenze, über die hinaus sich ein deutschsprachiger Autor nicht in das Bewusstsein eines japanischen Jungen einschreiben kann? Dieser Tausendseiter ist ein beeindruckendes Debüt. Aber es schmerzt, diesem Romanriesen zuzusehen, wie er auf einem Bein tänzelnd versucht, Balance zu halten.
CHRISTIAN METZ
Philipp Weiss: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und
lachen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 5 Bände im Schuber, zs. 1064 S., br., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.10.2018Und weiter wirbelt das Kunsthandwerk
Philipp Weiss will in seinem Debütromanprojekt „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ das große Ganze erzählen –
von der Entstehung des Kosmos bis zum Ende des Individuums. Es wird kein Sprachereignis daraus
VON INSA WILKE
Leben!Leben!Leben! Das ist der Beat des dicksten Debüts der Saison, auch wenn an der Oberfläche die Ratio dirigiert. Philipp Weiss, Wiener Theaterautor und Romandebütant, ist sympathischerweise ein Emphatiker, dessen Herz für das Wissen, die Kunst und das philosophische Denken schlägt. So viel ist schnell klar, wenn man zwei bis drei Blicke in die drei kompakten und zwei schmalen Hefte wirft, die er unter dem starken, schön nietzeanisch-vitalen Titel „Am Weltenrand sitzt der Mensch und lacht“ in den Schuber hat schieben lassen.
Moment, ein Schuber für einen mehrbändigen Debütroman? Yes, Sir, der Verlag hatte die Spendierhosen an. Ein Schuber ist teuer, weil es noch keine Maschinen gibt, die einzelne Bände in Schuber schieben können, das müssen Menschen machen. Kostspielig dürfte auch die Arbeit von Pauline Altmann gewesen sein, der preisgekrönten Berliner Buchgestalterin, die man sofort wieder auszeichnen muss, weil es meisterhaft ist, wie sie mit den unterschiedlichen Typografien und all den kreiselnden, Seiten überspannenden, Bilder umfließenden, mal sich vergrößernden, mal verblassenden Zeilen, den handschriftlichen Einschüben, der individuellen Anpassung von Seitenrändern auf eine Weise umgeht, die Laurence Sterne vor Neid zappeln lassen würde.
Billig sind an diesem Buch jedenfalls nur das herrlich offene Papier und die einfache Klebebindung, die für die angenehme Haptik und den Gebrauchsbuchgeruch sorgen, ganz im Manufactum-Trend, der ja auch für das, was da auf den Seiten steht, eine Rolle spielt. Nun musste man als Kritikerin aber erst einmal mit den Fahnen vorliebnehmen und bekam das gedruckte Buch spät in die Hände. Das hat einen wichtigen Effekt: Man verfällt nicht dem Sinnenrausch, sondern ist ganz nüchtern mit dem puren Text konfrontiert.
Die fünf Hefte kann man in beliebiger Reihenfolge lesen. Das petrolfarbene Heft ist eine fiktive Autobiografie in Form einer Enzyklopädie. Die fiktive Autorin: Paulette Blanchard, Verwandtschaften mit dem Klang des Namens eines berühmten französischen Denkers dürften durchaus beabsichtigt sein. Der Gedanke drängt sich erst recht auf, wenn man zu einem zweiten dicken, dem schwarzen Heft greift, dem siebten „Cahier“ von Chantal Blanchard aus dem Jahr 2010/2011, der ebenfalls fiktiven Urenkelin ebenjener Paulette, die sich 1870 den Kämpfern für die Dritte Republik anschließt, die Weltausstellung in Wien besucht und nach Japan heiratet, um sich schließlich auf den Spuren der ersten Menschen zu verlieren.
Chantal versucht auf andere Weise als ihre Urgroßmutter Ordnung ins Leben zu bringen. Während die vorwitzige Paulette ihre Autobiografie in eine enzyklopädische Ordnung zu bringen versucht (und man lese bitte „Die Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault oder Ann Cottens Buch über Listen, um etwas von den die Ordnung unterlaufenden und dem Zufall die Türen öffnenden Tücken einer Enzyklopädie zu erahnen), vertraut Chantal dem Fragment, der Notiz, dem automatischen Schreiben, dem Wahnsinn. Dabei ist sie auf der Suche nach der Weltformel, dem Algorithmus der totalen Kontrolle über Klima, Liebe und das Ich. Eine Suche, die auf das Verschwinden, die große Null, das weiße Blatt hinausläuft.
Ein drittes, lavendelfarbenes Heft heißt „Terrain vague“. Diese Erzählung stammt von einer weiteren Figur, von Jona Jonas, dem jungen Geliebten von Chantal, einem Menschen mit uneindeutigem Geschlecht und Familienspuren, die nach Theresienstadt führen. Er begibt sich auf die Suche nach seiner Geliebten und reist bis nach Japan, wo er 2011 das Erdbeben erlebt, das die Katastrophe von Fukushima auslöst. Jona ist Fotograf und arbeitet – offensichtlich angelehnt an Thomas Demand – unter anderem (Achtung: Poetologie!) an Kunstprojekten, die „Weltrissminiaturen“ und „Imaginäre Landschaften“ heißen und für die er mit Originalmaterialien von Orten wie Prypjat/Tschernobyl arbeitet. Chantal sei das zu „sophisticated“ gewesen. Mit „Terrain vague“ befinden wir uns also auf unklarem Gelände, aber in guter künstlerischer und philosophischer Gesellschaft.
Jona wiederum begegnet Abra in Japan, deren Autorschaft ein Manga-Comic untergeschoben wird, gezeichnet von Raffalea Schöbitz und getextet und erdacht von Philipp Weiss. Abra ist ein Cyborg und durch einen Autounfall traumatisiert, sie arbeitet als Stripperin und driftet hinter die Spiegel, wo Menschen an ihren Ursprung, zum reinen Geist zurückgeführt werden. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an die Netflix-Serie „The Expansion“ und also an die ästhetische Tradition, die mit „Blade Runner“ einsetzte. Und schließlich ist da noch der Junge Akio. Akios Form im apricotfarbenen Heft Nummer fünf ist das Transkript, er bespricht Tonbänder und versichert sich so, dass es ihn noch gibt.
Philipp Weiss hat in einem Interview, das der Verlag dem Schuber beigelegt hat, aufgezählt, was seine Absicht war beim Schreiben: der Entgrenzung und dem Kontrollverlust eine Form zu geben, von Verlust und Aufbruch zu erzählen, nach der Zukunft zu fragen, Japan als Komplement und Projektionsfläche des Westens zu zeigen, die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen zu erforschen, das lineare Narrativ durch einen symbolischen Hyperraum zu ersetzen, und die Utopie der Ordnung und Totalität ins rechte Licht zu bringen. Und um all diese Themen habe er eine Klammer spannen wollen: die fünf „Aggregatzustände“ des Ich als Geschichte vom Aufstieg und Ende des Individuums. Oder, ganz bescheiden: Das Ganze sei bloß das Lebens-Resümee eines Dreißigjährigen. Man könnte auch denken, der gute Mann hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.
Es ist also eigentlich wirklich alles drin, in diesen fünf Heften. Nur eines nicht: der gute Satz. Auf insgesamt rund 1041 Seiten findet sich kein Satz, den man einrahmen und über den Schreibtisch hängen möchte. Kein Satz, der einen ins Mark trifft und ein Leben oder wenigstens ein paar Tage lang begleitet, der einen die Welt plötzlich erkennen, und der den eigenen Stand darin zugleich fragwürdig und sicherer werden lässt. Ein Satz, für den es sich zu lesen lohnt. Ein Satz, der einem erzählt, was man noch nicht wusste oder immer wusste, aber noch nie so formulieren konnte.
Wozu all dieser dramaturgische, gestalterische und Rechercheaufwand, wenn nicht ein einziger Satz dieser Qualität auf diesen Seiten steht? Paulette schreibt: „Wenn man den unermesslichen Stoff eines Menschenlebens überblickt, erkennt man deutlich nur eines: nämlich dass er sich keinesfalls in einer einzigen Enzyklopädie finden kann.“ – Eine Banalität, und man wird in ihrer auch im Ton vollkommen unglaubwürdig historisierenden Enzyklopädie keinen Satz finden, der einen weiteren Horizont hat. Das soll wohl so sein, sowohl die Anti-Authentizität als auch die Banalität, aber wozu dann das alles? Wozu, wenn selbst das „Experiment“, die scheinsubjektive Form des Tagebuchs mit der scheinobjektiven Form der Enzyklopädie zu verschränken, nichts anderes als Pseudo-Avantgarde ist?
Bei Jona steht ein Satz von Abra, die neben Chantal und Paulette für eine dritte, die vollkommen ungezügelte Variante des euphorischen Sprechens steht: „Weißt du, was du bist? Nein? … Amour fou! Große Kunst!“ Aber den hohen Ton der behaupteten Plötzlichkeit zu treffen und das Schweigen zu schreiben, von dem ständig die Rede ist, gelingt Jona nicht. Dabei ist er doch zutiefst erschüttert und der Stille im Auge des Orkans stets zu nah. „Wie steht man, wenn der Boden nicht trägt?“, fragt er auf den Spuren seiner Ur-Angst, die ihm das Gehör geraubt hat, aber trotzdem leider nach Papier schmeckt und einem weder nahegeht noch durch Distanz zu neuen Erkenntnissen bringt. Und ein Erkenntnisinstrument soll dieses Projekt doch sein.
Geschwätzig ist auch Chantal, die das Buch ihrer Urgroßmutter „sentimentalen, humanistischen Kitsch“ nennt und damit also erstens anzeigt, dass das Subjekt seinen Zenit überschritten hat und zweitens, dass der Autor weiß, was er tut. Chantal ruft die Menschheit ob ihrer Verkommenheit zur Selbstauslöschung auf und spricht ihren Monolog übrigens zu einem Knochen. Von ihr liest man schmissige Sätze wie: „Nichts brachte mehr Kreativität in die Welt als die Grausamkeit.“ Oder: „Alle Menschen sind klein.“ „Und weiter wirbelt das Kunstwerk,“ steht auch in Chantals Notizen, die mit Ernst Haeckel den Kunstformen der Natur huldigen, „bis es irgendwann, mit Formen übersättigt, zu schwer wird und hinunterstürzt auf die Erde.“
Philipp Weiss ist ein angehender Theatermann, der es vielleicht schon gewohnt ist, anstelle von Substanz Impulse zu setzen, aus denen dann Substanzielles folgen kann, was ja auch in der Tat nicht wenig ist. Aber im Roman funktioniert das nicht wie auf dem Theater, so, wie es immer wieder unbefriedigend ist, wenn Texte auf die Bühne gebracht werden, die nicht für die Bühne bestimmt sind. Die fünf Hefte arbeiten mit Effekten, erzeugen aber keine.
Liegt es an dieser Verwechslung, dass man bei diesem ambitionierten und auch mit Verve geschriebenen Debüt den Eindruck hat, es bereits mit dem Nachbau des nachgebauten Modells zu tun zu haben – des Modells einer Kulisse aus Papier? Dekorativen Schiebewänden? Einem Text, dessen Autor sich nicht wirklich für seine Figuren interessiert, der auch keine Leerstellen produziert oder eben „gute“ Sätze. Ist diese Leichtfertigkeit im Umgang mit der Romanform der Grund, dass man bei der Lektüre von Paulettes plappernden Ausführungen sehnsüchtig an die genaue Spracharbeit von Angela Steidele denkt, die in ihrem Roman „Rosenstengel“ die Sprachen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Leben erweckt und sich auf eine sehr viel kritischere, angemessen gründliche Weise mit der brutalen Geschichte der Medizin auseinandergesetzt hat, als Philipp Weiss es mit der flüchtigen Bemerkung zur „Ovarienpresse“ tut? Und dass man bei den Exkursen zur Entstehung der Welt und des Menschen, die bei Chantal wie eine Art oberflächlicher Science Slam in den Fachgebieten der Astrophysik und Paläoanthropologie wirken, lieber zu Raoul Schrotts wahnwitzigem „Erste Erde Epos“ greifen möchte oder eben, wenn es um die Veranschaulichung von Wissen geht, gleich zur BBC-Serie „Unser Kosmos“?
„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ eignet sich sehr gut, um zu diskutieren, wie aus einem Text Literatur wird – oder eben auch nicht. Man kann diese Frage an Stellen diskutieren, die plötzlich diese Stille erzeugen, die man bei Jona meistens vermisst. Wenn Philipp Weiss nämlich mal das große Ganze aus den Augen verliert und seinen Jona sich in einer kleinen, beiläufigen und wunderbaren Szene an einen Mann aus der Menge hängen lässt mit der Bemerkung, dieser sei in dem Moment das Vertrauteste, was er auf der Welt habe. Oder wenn er sehr charmant seinem kleinen Akio die Eigenschaft gibt, bei Aufregung am Hintern zu schwitzen.
Die Geschichten, die Philipp Weiss über Ich und Welt, Schönheit und Schrecken, Herkunft und Zukunft, Liebe und Leiden erfindet, sind gar nicht so schlecht. Nur leidet ihre Ausführung an einer angehäuften Fülle, die leer ist. Und wenn das der Witz sein soll, dann ist das Opfer an Lebenszeit, das in der Lektüre dafür erbracht werden muss, doch etwas viel verlangt. Vom Weltenrand, und das ist ja die Sehnsucht, die solche Schreibprojekte in der Regel treibt, stürzt man auf diese Weise nicht. Er kommt nicht einmal in Sichtweite.
Die fünf Hefte, aus denen dieser
Roman besteht, kann man in
beliebiger Reihenfolge lesen
Den hohen Ton der behaupteten
Plötzlichkeit zu treffen,
das gelingt hier nicht
Man hat das Gefühl, es mit
dem Modell einer Kulisse
aus Papier zu tun zu haben
Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1064 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Philipp Weiss will in seinem Debütromanprojekt „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ das große Ganze erzählen –
von der Entstehung des Kosmos bis zum Ende des Individuums. Es wird kein Sprachereignis daraus
VON INSA WILKE
Leben!Leben!Leben! Das ist der Beat des dicksten Debüts der Saison, auch wenn an der Oberfläche die Ratio dirigiert. Philipp Weiss, Wiener Theaterautor und Romandebütant, ist sympathischerweise ein Emphatiker, dessen Herz für das Wissen, die Kunst und das philosophische Denken schlägt. So viel ist schnell klar, wenn man zwei bis drei Blicke in die drei kompakten und zwei schmalen Hefte wirft, die er unter dem starken, schön nietzeanisch-vitalen Titel „Am Weltenrand sitzt der Mensch und lacht“ in den Schuber hat schieben lassen.
Moment, ein Schuber für einen mehrbändigen Debütroman? Yes, Sir, der Verlag hatte die Spendierhosen an. Ein Schuber ist teuer, weil es noch keine Maschinen gibt, die einzelne Bände in Schuber schieben können, das müssen Menschen machen. Kostspielig dürfte auch die Arbeit von Pauline Altmann gewesen sein, der preisgekrönten Berliner Buchgestalterin, die man sofort wieder auszeichnen muss, weil es meisterhaft ist, wie sie mit den unterschiedlichen Typografien und all den kreiselnden, Seiten überspannenden, Bilder umfließenden, mal sich vergrößernden, mal verblassenden Zeilen, den handschriftlichen Einschüben, der individuellen Anpassung von Seitenrändern auf eine Weise umgeht, die Laurence Sterne vor Neid zappeln lassen würde.
Billig sind an diesem Buch jedenfalls nur das herrlich offene Papier und die einfache Klebebindung, die für die angenehme Haptik und den Gebrauchsbuchgeruch sorgen, ganz im Manufactum-Trend, der ja auch für das, was da auf den Seiten steht, eine Rolle spielt. Nun musste man als Kritikerin aber erst einmal mit den Fahnen vorliebnehmen und bekam das gedruckte Buch spät in die Hände. Das hat einen wichtigen Effekt: Man verfällt nicht dem Sinnenrausch, sondern ist ganz nüchtern mit dem puren Text konfrontiert.
Die fünf Hefte kann man in beliebiger Reihenfolge lesen. Das petrolfarbene Heft ist eine fiktive Autobiografie in Form einer Enzyklopädie. Die fiktive Autorin: Paulette Blanchard, Verwandtschaften mit dem Klang des Namens eines berühmten französischen Denkers dürften durchaus beabsichtigt sein. Der Gedanke drängt sich erst recht auf, wenn man zu einem zweiten dicken, dem schwarzen Heft greift, dem siebten „Cahier“ von Chantal Blanchard aus dem Jahr 2010/2011, der ebenfalls fiktiven Urenkelin ebenjener Paulette, die sich 1870 den Kämpfern für die Dritte Republik anschließt, die Weltausstellung in Wien besucht und nach Japan heiratet, um sich schließlich auf den Spuren der ersten Menschen zu verlieren.
Chantal versucht auf andere Weise als ihre Urgroßmutter Ordnung ins Leben zu bringen. Während die vorwitzige Paulette ihre Autobiografie in eine enzyklopädische Ordnung zu bringen versucht (und man lese bitte „Die Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault oder Ann Cottens Buch über Listen, um etwas von den die Ordnung unterlaufenden und dem Zufall die Türen öffnenden Tücken einer Enzyklopädie zu erahnen), vertraut Chantal dem Fragment, der Notiz, dem automatischen Schreiben, dem Wahnsinn. Dabei ist sie auf der Suche nach der Weltformel, dem Algorithmus der totalen Kontrolle über Klima, Liebe und das Ich. Eine Suche, die auf das Verschwinden, die große Null, das weiße Blatt hinausläuft.
Ein drittes, lavendelfarbenes Heft heißt „Terrain vague“. Diese Erzählung stammt von einer weiteren Figur, von Jona Jonas, dem jungen Geliebten von Chantal, einem Menschen mit uneindeutigem Geschlecht und Familienspuren, die nach Theresienstadt führen. Er begibt sich auf die Suche nach seiner Geliebten und reist bis nach Japan, wo er 2011 das Erdbeben erlebt, das die Katastrophe von Fukushima auslöst. Jona ist Fotograf und arbeitet – offensichtlich angelehnt an Thomas Demand – unter anderem (Achtung: Poetologie!) an Kunstprojekten, die „Weltrissminiaturen“ und „Imaginäre Landschaften“ heißen und für die er mit Originalmaterialien von Orten wie Prypjat/Tschernobyl arbeitet. Chantal sei das zu „sophisticated“ gewesen. Mit „Terrain vague“ befinden wir uns also auf unklarem Gelände, aber in guter künstlerischer und philosophischer Gesellschaft.
Jona wiederum begegnet Abra in Japan, deren Autorschaft ein Manga-Comic untergeschoben wird, gezeichnet von Raffalea Schöbitz und getextet und erdacht von Philipp Weiss. Abra ist ein Cyborg und durch einen Autounfall traumatisiert, sie arbeitet als Stripperin und driftet hinter die Spiegel, wo Menschen an ihren Ursprung, zum reinen Geist zurückgeführt werden. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an die Netflix-Serie „The Expansion“ und also an die ästhetische Tradition, die mit „Blade Runner“ einsetzte. Und schließlich ist da noch der Junge Akio. Akios Form im apricotfarbenen Heft Nummer fünf ist das Transkript, er bespricht Tonbänder und versichert sich so, dass es ihn noch gibt.
Philipp Weiss hat in einem Interview, das der Verlag dem Schuber beigelegt hat, aufgezählt, was seine Absicht war beim Schreiben: der Entgrenzung und dem Kontrollverlust eine Form zu geben, von Verlust und Aufbruch zu erzählen, nach der Zukunft zu fragen, Japan als Komplement und Projektionsfläche des Westens zu zeigen, die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen zu erforschen, das lineare Narrativ durch einen symbolischen Hyperraum zu ersetzen, und die Utopie der Ordnung und Totalität ins rechte Licht zu bringen. Und um all diese Themen habe er eine Klammer spannen wollen: die fünf „Aggregatzustände“ des Ich als Geschichte vom Aufstieg und Ende des Individuums. Oder, ganz bescheiden: Das Ganze sei bloß das Lebens-Resümee eines Dreißigjährigen. Man könnte auch denken, der gute Mann hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.
Es ist also eigentlich wirklich alles drin, in diesen fünf Heften. Nur eines nicht: der gute Satz. Auf insgesamt rund 1041 Seiten findet sich kein Satz, den man einrahmen und über den Schreibtisch hängen möchte. Kein Satz, der einen ins Mark trifft und ein Leben oder wenigstens ein paar Tage lang begleitet, der einen die Welt plötzlich erkennen, und der den eigenen Stand darin zugleich fragwürdig und sicherer werden lässt. Ein Satz, für den es sich zu lesen lohnt. Ein Satz, der einem erzählt, was man noch nicht wusste oder immer wusste, aber noch nie so formulieren konnte.
Wozu all dieser dramaturgische, gestalterische und Rechercheaufwand, wenn nicht ein einziger Satz dieser Qualität auf diesen Seiten steht? Paulette schreibt: „Wenn man den unermesslichen Stoff eines Menschenlebens überblickt, erkennt man deutlich nur eines: nämlich dass er sich keinesfalls in einer einzigen Enzyklopädie finden kann.“ – Eine Banalität, und man wird in ihrer auch im Ton vollkommen unglaubwürdig historisierenden Enzyklopädie keinen Satz finden, der einen weiteren Horizont hat. Das soll wohl so sein, sowohl die Anti-Authentizität als auch die Banalität, aber wozu dann das alles? Wozu, wenn selbst das „Experiment“, die scheinsubjektive Form des Tagebuchs mit der scheinobjektiven Form der Enzyklopädie zu verschränken, nichts anderes als Pseudo-Avantgarde ist?
Bei Jona steht ein Satz von Abra, die neben Chantal und Paulette für eine dritte, die vollkommen ungezügelte Variante des euphorischen Sprechens steht: „Weißt du, was du bist? Nein? … Amour fou! Große Kunst!“ Aber den hohen Ton der behaupteten Plötzlichkeit zu treffen und das Schweigen zu schreiben, von dem ständig die Rede ist, gelingt Jona nicht. Dabei ist er doch zutiefst erschüttert und der Stille im Auge des Orkans stets zu nah. „Wie steht man, wenn der Boden nicht trägt?“, fragt er auf den Spuren seiner Ur-Angst, die ihm das Gehör geraubt hat, aber trotzdem leider nach Papier schmeckt und einem weder nahegeht noch durch Distanz zu neuen Erkenntnissen bringt. Und ein Erkenntnisinstrument soll dieses Projekt doch sein.
Geschwätzig ist auch Chantal, die das Buch ihrer Urgroßmutter „sentimentalen, humanistischen Kitsch“ nennt und damit also erstens anzeigt, dass das Subjekt seinen Zenit überschritten hat und zweitens, dass der Autor weiß, was er tut. Chantal ruft die Menschheit ob ihrer Verkommenheit zur Selbstauslöschung auf und spricht ihren Monolog übrigens zu einem Knochen. Von ihr liest man schmissige Sätze wie: „Nichts brachte mehr Kreativität in die Welt als die Grausamkeit.“ Oder: „Alle Menschen sind klein.“ „Und weiter wirbelt das Kunstwerk,“ steht auch in Chantals Notizen, die mit Ernst Haeckel den Kunstformen der Natur huldigen, „bis es irgendwann, mit Formen übersättigt, zu schwer wird und hinunterstürzt auf die Erde.“
Philipp Weiss ist ein angehender Theatermann, der es vielleicht schon gewohnt ist, anstelle von Substanz Impulse zu setzen, aus denen dann Substanzielles folgen kann, was ja auch in der Tat nicht wenig ist. Aber im Roman funktioniert das nicht wie auf dem Theater, so, wie es immer wieder unbefriedigend ist, wenn Texte auf die Bühne gebracht werden, die nicht für die Bühne bestimmt sind. Die fünf Hefte arbeiten mit Effekten, erzeugen aber keine.
Liegt es an dieser Verwechslung, dass man bei diesem ambitionierten und auch mit Verve geschriebenen Debüt den Eindruck hat, es bereits mit dem Nachbau des nachgebauten Modells zu tun zu haben – des Modells einer Kulisse aus Papier? Dekorativen Schiebewänden? Einem Text, dessen Autor sich nicht wirklich für seine Figuren interessiert, der auch keine Leerstellen produziert oder eben „gute“ Sätze. Ist diese Leichtfertigkeit im Umgang mit der Romanform der Grund, dass man bei der Lektüre von Paulettes plappernden Ausführungen sehnsüchtig an die genaue Spracharbeit von Angela Steidele denkt, die in ihrem Roman „Rosenstengel“ die Sprachen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Leben erweckt und sich auf eine sehr viel kritischere, angemessen gründliche Weise mit der brutalen Geschichte der Medizin auseinandergesetzt hat, als Philipp Weiss es mit der flüchtigen Bemerkung zur „Ovarienpresse“ tut? Und dass man bei den Exkursen zur Entstehung der Welt und des Menschen, die bei Chantal wie eine Art oberflächlicher Science Slam in den Fachgebieten der Astrophysik und Paläoanthropologie wirken, lieber zu Raoul Schrotts wahnwitzigem „Erste Erde Epos“ greifen möchte oder eben, wenn es um die Veranschaulichung von Wissen geht, gleich zur BBC-Serie „Unser Kosmos“?
„Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ eignet sich sehr gut, um zu diskutieren, wie aus einem Text Literatur wird – oder eben auch nicht. Man kann diese Frage an Stellen diskutieren, die plötzlich diese Stille erzeugen, die man bei Jona meistens vermisst. Wenn Philipp Weiss nämlich mal das große Ganze aus den Augen verliert und seinen Jona sich in einer kleinen, beiläufigen und wunderbaren Szene an einen Mann aus der Menge hängen lässt mit der Bemerkung, dieser sei in dem Moment das Vertrauteste, was er auf der Welt habe. Oder wenn er sehr charmant seinem kleinen Akio die Eigenschaft gibt, bei Aufregung am Hintern zu schwitzen.
Die Geschichten, die Philipp Weiss über Ich und Welt, Schönheit und Schrecken, Herkunft und Zukunft, Liebe und Leiden erfindet, sind gar nicht so schlecht. Nur leidet ihre Ausführung an einer angehäuften Fülle, die leer ist. Und wenn das der Witz sein soll, dann ist das Opfer an Lebenszeit, das in der Lektüre dafür erbracht werden muss, doch etwas viel verlangt. Vom Weltenrand, und das ist ja die Sehnsucht, die solche Schreibprojekte in der Regel treibt, stürzt man auf diese Weise nicht. Er kommt nicht einmal in Sichtweite.
Die fünf Hefte, aus denen dieser
Roman besteht, kann man in
beliebiger Reihenfolge lesen
Den hohen Ton der behaupteten
Plötzlichkeit zu treffen,
das gelingt hier nicht
Man hat das Gefühl, es mit
dem Modell einer Kulisse
aus Papier zu tun zu haben
Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1064 Seiten, 48 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Insa Wilke bedauert den dramaturgischen und gestalterischen Aufwand um den Debütroman von Philipp Weiss und die von ihr aufgewendete Lesenszeit. Die Arbeit der Buchgestalterin Pauline Altmann findet sie herausragend, den Umfang des Projekts beeindruckend und die in den insgesamt fünf Heften erzählten, teils enzyklopädisch angelegten Geschichten um Ich und Welt durchaus interessant. Nur nach einem guten Satz sucht sie auf über eintausend Seiten vergebens, stattdessen gibt es viel Geschwätzigkeit, meint sie. Ihr Verdacht: Der Autor, ein Theatermann, verwechselt Substanz mit Impulsen und Effekten. Lernen lässt sich daraus laut Wilke immerhin, was Literatur kann und braucht und was nicht. Den einen welterschließenden Satz braucht sie definitiv, findet Wilke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es ist frappierend, wie Bilder und Zeichen durcheinanderrauschen. Und es ist berauschend, welche Gedanken Philipp Weiss durch die Zeiten jagt.« Cornelia Geißler Frankfurter Rundschau 20190122