1000 Seiten, fünf Bände - ein Roman. In Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen erzählt Philipp Weiss von der Verwandlung der Welt im Anthropozän - jener Epoche der Erdgeschichte, in welcher der Mensch zur zentralen gestaltenden Kraft geworden ist. Zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, in Form von Enzyklopädie, Erzählung, Notizheft, Audiotranskription und Comic entwirft dieser kühne Roman ein Panoptikum unserer fliehenden Wirklichkeit.
Die siebzehnjährige Paulette erlebt im Jahr 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, bereist als eine der ersten europäischen Frauen das Japan der Meiji-Ära und liegt über hundertdreißig Jahre im Eis der französischen Alpen geborgen. Die Klimaforscherin Chantal, ihre Ururenkelin, folgt ihren Spuren nach Fernost, entwirft eine zynische Geschichte des Universums und entflieht zugleich einer Liebe und deren umstülpender Kraft. Der von ihr zurückgelassene Künstler Jona begibt sich auf die Suche, findet in Japan aber nicht Chantal, sondern eine vielfache Katastrophe: ein Erdbeben, eine Welle, einen Atomunfall. Der neunjährige Akio läuft tagelang durch zerstörtes Gebiet. Trost findet er bei Satoshi, einem obdachlosen Tagelöhner und AKW-Nomaden, der langsam an den Folgen der Strahlung stirbt. Durch einen Phantomschmerz getrieben, irrt die junge Japanerin Abra durch Tokio und verliert sich in den einsamen Schleifen ihres virtualisierten Selbst.
Die siebzehnjährige Paulette erlebt im Jahr 1871 den Aufstand der Pariser Kommune, bereist als eine der ersten europäischen Frauen das Japan der Meiji-Ära und liegt über hundertdreißig Jahre im Eis der französischen Alpen geborgen. Die Klimaforscherin Chantal, ihre Ururenkelin, folgt ihren Spuren nach Fernost, entwirft eine zynische Geschichte des Universums und entflieht zugleich einer Liebe und deren umstülpender Kraft. Der von ihr zurückgelassene Künstler Jona begibt sich auf die Suche, findet in Japan aber nicht Chantal, sondern eine vielfache Katastrophe: ein Erdbeben, eine Welle, einen Atomunfall. Der neunjährige Akio läuft tagelang durch zerstörtes Gebiet. Trost findet er bei Satoshi, einem obdachlosen Tagelöhner und AKW-Nomaden, der langsam an den Folgen der Strahlung stirbt. Durch einen Phantomschmerz getrieben, irrt die junge Japanerin Abra durch Tokio und verliert sich in den einsamen Schleifen ihres virtualisierten Selbst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2018Ein Haus, das Kopfstand macht
Die Katastrophe als Signum unserer Zeit: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" von Philipp Weiss hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt. Kann er das auf 1000 Seiten einlösen?
Schon lange ist kein Romandebüt mehr so hoch gehandelt worden wie Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Und wenn man die insgesamt fünf Bände vor sich hat, kann man tatsächlich erst einmal nur staunen. Diese Ausgabe ist aufsehenerregend schön. Sie ist aufwendig gestaltet und wartet mit klugen typographischen Lösungen auf. Da eine der wichtigsten Eigenschaften von Weiss' Erzählen ist, dass sich die verschiedensten Erzählweisen, Ebenen, Stimmen und Materialien überlagern, verschränken die einzelnen Buchseiten die differenten Textelemente kunstvoll ineinander.
Die Gestalterin Pauline Altmann hat eine atemberaubend abwechslungsreiche Textlandschaft geschaffen. Zumal sie einzelne Seiten mit handschriftlichen Passagen und feinen Vignetten illustriert hat. Höchste Ansprüche erhebt auch die erzählerische Konstruktion. Philipp Weiss hat eine literarische Enzyklopädie vorgelegt. Was darunter zu verstehen ist, geht auf Ezra Pound zurück, der anhand von Flauberts "Bouvard und Pecuchet" und Joyce' "Ulysses" zwei Charakteristika festmachte: Zum einen legen es diese Romane darauf an, das Wissen und die Mentalität einer ganzen Epoche in sich zu vereinen.
Zum anderen reflektieren sie die enzyklopädischen Verfahren, mit denen Wissen formiert und präsentiert wird. Um den enzyklopädischen Anspruch von Philipp Weiss' tausendseitiger Großerzählung zu erkennen, reicht es, jenen Band zur Hand nehmen, der einer fiktiven Paulette Blanchard zugeschrieben ist.
Die Erzählung trägt den Titel "Enzyklopädien eines Ichs". Sie ist in zwölf Alphabete eingeteilt und buchstabiert ihre Geschichte anhand einschlägiger Lemmata aus. Und Paulettes Lieblingsbuch ist d'Alemberts und Diderots Encyclopédie. Als habe es Lyotards Warnung vor der grand récit nie gegeben, formiert Weiss alle Arten von Wissen aus der Anthropologie, Geologie, Physik, Geschichte, Archäologie und Philosophie zu einer Großerzählung. Deren Pointe erschließt sich dadurch, dass vier der Bände auf denselben Moment zulaufen: Das wildwuchernde Tagebuch der französischen Klimaforscherin Chantal Blanchard, der Reisebericht des Wiener Künstlers Jona Jonas, die Skripte zu den Tonbandaufzeichnungen des neunjährigen Akio und der mit einer eigenwilligen Bildsprache hervorstechende Manga, der die junge Japanerin Abra Aoki zur Protagonistin hat, drehen sich alle um das Erdbeben und den Tsunami, die 2011 im japanischen Fukushima einen atomaren Super-GAU auslösten.
In dieser Katastrophe macht Philipp Weiss die Signatur unserer Gegenwart aus. Während seine grand récit die Weltgeschichte aus der Spannung zwischen der Technologisierung einerseits und dem unvermeidlichen Kontrollverlust andererseits erwachsen lässt. Dieser Konflikt treibt auch jene Geschichte an, die das Erzählquartett um eine weibliche Genealogie erweitert: Paulette Blanchard ist die Ururgroßmutter der Physikerin Chantal Blanchard. Und die "Enzyklopädien des Ichs" erzählen Paulettes Lebensgeschichte, von der ersten Liebe über den Aufstand der Pariser Kommune 1871, die Weltausstellung in Wien bis zu ihrer scheiternden Ehe in Japan. Weiss' Roman hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt.
Jonas' Suche nach seiner verlorenen Freundin sowie der von Raffaela Schöbitz gezeichnete Manga bieten Mind-Game-Literatur vom Feinsten. Doch drei der fünf Bände lassen ihre Leser konsterniert zurück. Das liegt an der Art, wie hier erzählt wird. Jeder der Bände entwirft eine Erzählerfigur, an deren Bewusstsein die erzählte Welt vollständig gebunden ist. Ohne das Gegengewicht durch eine andere Instanz geht alles in ihrer Sichtweise auf. Genau das entwickelt sich aber zum Problem. Am pointiertesten sieht man das bei Paulette Blanchard. Sie wirkt, als müsste sie alle Klischees des neunzehnten Jahrhunderts in sich vereinen. Vom Bankrott des Vaters gebeutelt, von dessen Affären erschüttert, von der Mutter alleingelassen, hat das Fräuleinwunder dennoch Verstand und Herz auf dem rechten Fleck. Man muss allerdings aushalten, dass man dieser Figur extrem nahe kommt und an Gedankenwelten teilhat, von denen man nicht unbedingt wissen will: "Wie töricht ich mir vorkommen muss! Wie lächerlich! Es hat ganz offenbar ein Spuk von mir Besitz ergriffen, ein listiges Fieber, dessentwegen ich jedenfalls Mühe habe, noch einen anderen Gedanken zu fassen als ebendiesen: Eugène! So laufe ich bereits den ganzen Morgen unruhig auf und ab, wechsle Kleider und Frisuren und Frisuren und Kleider."
Paulettes Sprache ist ein manierierter Graus, in der "manche neckische Weide gar den Nacken berührt" oder die Verfasserin, ihre "sonderbare kleine Schrift" dem Herausgeber "mit der vorlauten Bitte" zukommen lässt, "Ihren versierten Geist darauf zu wenden, diese zu prüfen."
Als Wissensinstanz wollen ihr nicht die kleinsten Unterscheidungen glücken. Gleich zu Beginn differenziert sie zwischen dem Schönen und dem Hübschen: "Man bewundert am Schönen das Edle und Regelmäßige, am Hübschen hingegen die geistreiche Eigenart. Ja, ich glaube, dass ich hübsch bin und dass mir am Schönen, was mich selbst betrifft, gar nichts liegt!" Paulette ist also besonders, ihre Schriften sind "sonderbar" und beide bemerkenswerte Singularitäten. Im Deutschen jedoch hat das Wort hübsch nichts mit geistreicher Eigenart zu tun. Es leitet sich ab vom mittelhochdeutschen hövesch und bezeichnet das Feine und Zierliche, das den höfischen Sitten gemäße.
Hübsch heißt, dem Hofe angepasst zu sein, und meint also das Gegenteil davon, was die bürgerliche Paulette gerne wahrhaben würde. Ist das Ironie? Wird Paulette mit ihrer Fehleinschätzung vorgeführt? Mag sein. Doch die weitere Erzählung geht vollkommen in der Rollenprosa auf und hält den Leser noch dreihundert Seiten in dieser Sprache und in diesem Bewusstsein gefangen. Daher hat später die Ururenkelin Chantal recht, wenn sie bei der Lektüre von Paulettes "Enzyklopädie" ausruft: "Naives Ding! Scheußliches, lächerliches Wesen! Schon zwei Mal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert." Da erkennt man sich als Leser wieder.
Leider löst sich das Rollenprosa-Problem auch nicht, wenn der Roman die Gegenwart erreicht. Die Physikerin Chantal hat sich ihrerseits in ein zählebiges Gespinst aus postmoderner Philosophie, Evolutionstheorie und Klima-Knowhow eingesponnen. Unter anderem ist sie davon überzeugt, die Allgemeinheit kranke daran, nichts von der Quantenphysik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verstanden zu haben. Deshalb holt sie das jetzt in ihren "Cahiers" unter dem aufmunternden Titel "Zerstört euch" auf dem Niveau von Hausaufgabe und Strafarbeit nach. Bei aller Montagefinesse entfaltet auch der Band klaustrophobische Wirkung: Man will da raus. Zumal Chantals Wille zur Belehrung die Fiktion der superschlauen Spitzenforscherin unterläuft. Grundlagenphysik zu büffeln scheint doch eher aus dem Geiste der Didaktik von Eliteforschern geboren zu sein. Nach diesen beiden Fehlschlägen misslingt tatsächlich auch jener Band auf analoge Weise, in dem Weiss die Katastrophe von Fukushima aus der Sicht des neunjährigen Akio schildert. Wo für den Erwachsenen nur Tod und Verwüstung zu erkennen sind, gewinnt das Kind den Schrecken eine tragikomische Poesie ab: "Ein Lastwagen, der sich wie ein Äffchen um eine Ampel windet. Oder ein Fischerboot, das im 3. Stock ankert. Ein Haus, das Kopfstand macht. Wir haben wirklich die komischsten Sachen gesehen."
Philipp Weiss lässt die Welt zwar kopfstehen, ohne dass aber Erkenntnis daraus folgt. Zumal sich bei der Bewusstseinsmimikry im Fall von Akio in besonderer Weise die Frage nach den kulturellen Differenzen stellt. Selbst wenn sich das Kind nach seinen Eltern sehnt oder sich von einem verqueren Anblick angeblich fasziniert zeigt, fragt man sich, ob es diese Konzepte im Japanischen überhaupt gibt. Faszination und Sehnsucht, selbst wenn die japanische Kultur diese europäischen Modelle adaptiert haben sollte, dürften sie mit unseren Vorstellungen nicht einfach kompatibel sein. Gibt es da nicht eine Grenze, über die hinaus sich ein deutschsprachiger Autor nicht in das Bewusstsein eines japanischen Jungen einschreiben kann? Dieser Tausendseiter ist ein beeindruckendes Debüt. Aber es schmerzt, diesem Romanriesen zuzusehen, wie er auf einem Bein tänzelnd versucht, Balance zu halten.
CHRISTIAN METZ
Philipp Weiss: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und
lachen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 5 Bände im Schuber, zs. 1064 S., br., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Katastrophe als Signum unserer Zeit: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" von Philipp Weiss hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt. Kann er das auf 1000 Seiten einlösen?
Schon lange ist kein Romandebüt mehr so hoch gehandelt worden wie Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen". Und wenn man die insgesamt fünf Bände vor sich hat, kann man tatsächlich erst einmal nur staunen. Diese Ausgabe ist aufsehenerregend schön. Sie ist aufwendig gestaltet und wartet mit klugen typographischen Lösungen auf. Da eine der wichtigsten Eigenschaften von Weiss' Erzählen ist, dass sich die verschiedensten Erzählweisen, Ebenen, Stimmen und Materialien überlagern, verschränken die einzelnen Buchseiten die differenten Textelemente kunstvoll ineinander.
Die Gestalterin Pauline Altmann hat eine atemberaubend abwechslungsreiche Textlandschaft geschaffen. Zumal sie einzelne Seiten mit handschriftlichen Passagen und feinen Vignetten illustriert hat. Höchste Ansprüche erhebt auch die erzählerische Konstruktion. Philipp Weiss hat eine literarische Enzyklopädie vorgelegt. Was darunter zu verstehen ist, geht auf Ezra Pound zurück, der anhand von Flauberts "Bouvard und Pecuchet" und Joyce' "Ulysses" zwei Charakteristika festmachte: Zum einen legen es diese Romane darauf an, das Wissen und die Mentalität einer ganzen Epoche in sich zu vereinen.
Zum anderen reflektieren sie die enzyklopädischen Verfahren, mit denen Wissen formiert und präsentiert wird. Um den enzyklopädischen Anspruch von Philipp Weiss' tausendseitiger Großerzählung zu erkennen, reicht es, jenen Band zur Hand nehmen, der einer fiktiven Paulette Blanchard zugeschrieben ist.
Die Erzählung trägt den Titel "Enzyklopädien eines Ichs". Sie ist in zwölf Alphabete eingeteilt und buchstabiert ihre Geschichte anhand einschlägiger Lemmata aus. Und Paulettes Lieblingsbuch ist d'Alemberts und Diderots Encyclopédie. Als habe es Lyotards Warnung vor der grand récit nie gegeben, formiert Weiss alle Arten von Wissen aus der Anthropologie, Geologie, Physik, Geschichte, Archäologie und Philosophie zu einer Großerzählung. Deren Pointe erschließt sich dadurch, dass vier der Bände auf denselben Moment zulaufen: Das wildwuchernde Tagebuch der französischen Klimaforscherin Chantal Blanchard, der Reisebericht des Wiener Künstlers Jona Jonas, die Skripte zu den Tonbandaufzeichnungen des neunjährigen Akio und der mit einer eigenwilligen Bildsprache hervorstechende Manga, der die junge Japanerin Abra Aoki zur Protagonistin hat, drehen sich alle um das Erdbeben und den Tsunami, die 2011 im japanischen Fukushima einen atomaren Super-GAU auslösten.
In dieser Katastrophe macht Philipp Weiss die Signatur unserer Gegenwart aus. Während seine grand récit die Weltgeschichte aus der Spannung zwischen der Technologisierung einerseits und dem unvermeidlichen Kontrollverlust andererseits erwachsen lässt. Dieser Konflikt treibt auch jene Geschichte an, die das Erzählquartett um eine weibliche Genealogie erweitert: Paulette Blanchard ist die Ururgroßmutter der Physikerin Chantal Blanchard. Und die "Enzyklopädien des Ichs" erzählen Paulettes Lebensgeschichte, von der ersten Liebe über den Aufstand der Pariser Kommune 1871, die Weltausstellung in Wien bis zu ihrer scheiternden Ehe in Japan. Weiss' Roman hat alle Anlagen zu einem Sensationsdebüt.
Jonas' Suche nach seiner verlorenen Freundin sowie der von Raffaela Schöbitz gezeichnete Manga bieten Mind-Game-Literatur vom Feinsten. Doch drei der fünf Bände lassen ihre Leser konsterniert zurück. Das liegt an der Art, wie hier erzählt wird. Jeder der Bände entwirft eine Erzählerfigur, an deren Bewusstsein die erzählte Welt vollständig gebunden ist. Ohne das Gegengewicht durch eine andere Instanz geht alles in ihrer Sichtweise auf. Genau das entwickelt sich aber zum Problem. Am pointiertesten sieht man das bei Paulette Blanchard. Sie wirkt, als müsste sie alle Klischees des neunzehnten Jahrhunderts in sich vereinen. Vom Bankrott des Vaters gebeutelt, von dessen Affären erschüttert, von der Mutter alleingelassen, hat das Fräuleinwunder dennoch Verstand und Herz auf dem rechten Fleck. Man muss allerdings aushalten, dass man dieser Figur extrem nahe kommt und an Gedankenwelten teilhat, von denen man nicht unbedingt wissen will: "Wie töricht ich mir vorkommen muss! Wie lächerlich! Es hat ganz offenbar ein Spuk von mir Besitz ergriffen, ein listiges Fieber, dessentwegen ich jedenfalls Mühe habe, noch einen anderen Gedanken zu fassen als ebendiesen: Eugène! So laufe ich bereits den ganzen Morgen unruhig auf und ab, wechsle Kleider und Frisuren und Frisuren und Kleider."
Paulettes Sprache ist ein manierierter Graus, in der "manche neckische Weide gar den Nacken berührt" oder die Verfasserin, ihre "sonderbare kleine Schrift" dem Herausgeber "mit der vorlauten Bitte" zukommen lässt, "Ihren versierten Geist darauf zu wenden, diese zu prüfen."
Als Wissensinstanz wollen ihr nicht die kleinsten Unterscheidungen glücken. Gleich zu Beginn differenziert sie zwischen dem Schönen und dem Hübschen: "Man bewundert am Schönen das Edle und Regelmäßige, am Hübschen hingegen die geistreiche Eigenart. Ja, ich glaube, dass ich hübsch bin und dass mir am Schönen, was mich selbst betrifft, gar nichts liegt!" Paulette ist also besonders, ihre Schriften sind "sonderbar" und beide bemerkenswerte Singularitäten. Im Deutschen jedoch hat das Wort hübsch nichts mit geistreicher Eigenart zu tun. Es leitet sich ab vom mittelhochdeutschen hövesch und bezeichnet das Feine und Zierliche, das den höfischen Sitten gemäße.
Hübsch heißt, dem Hofe angepasst zu sein, und meint also das Gegenteil davon, was die bürgerliche Paulette gerne wahrhaben würde. Ist das Ironie? Wird Paulette mit ihrer Fehleinschätzung vorgeführt? Mag sein. Doch die weitere Erzählung geht vollkommen in der Rollenprosa auf und hält den Leser noch dreihundert Seiten in dieser Sprache und in diesem Bewusstsein gefangen. Daher hat später die Ururenkelin Chantal recht, wenn sie bei der Lektüre von Paulettes "Enzyklopädie" ausruft: "Naives Ding! Scheußliches, lächerliches Wesen! Schon zwei Mal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert." Da erkennt man sich als Leser wieder.
Leider löst sich das Rollenprosa-Problem auch nicht, wenn der Roman die Gegenwart erreicht. Die Physikerin Chantal hat sich ihrerseits in ein zählebiges Gespinst aus postmoderner Philosophie, Evolutionstheorie und Klima-Knowhow eingesponnen. Unter anderem ist sie davon überzeugt, die Allgemeinheit kranke daran, nichts von der Quantenphysik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verstanden zu haben. Deshalb holt sie das jetzt in ihren "Cahiers" unter dem aufmunternden Titel "Zerstört euch" auf dem Niveau von Hausaufgabe und Strafarbeit nach. Bei aller Montagefinesse entfaltet auch der Band klaustrophobische Wirkung: Man will da raus. Zumal Chantals Wille zur Belehrung die Fiktion der superschlauen Spitzenforscherin unterläuft. Grundlagenphysik zu büffeln scheint doch eher aus dem Geiste der Didaktik von Eliteforschern geboren zu sein. Nach diesen beiden Fehlschlägen misslingt tatsächlich auch jener Band auf analoge Weise, in dem Weiss die Katastrophe von Fukushima aus der Sicht des neunjährigen Akio schildert. Wo für den Erwachsenen nur Tod und Verwüstung zu erkennen sind, gewinnt das Kind den Schrecken eine tragikomische Poesie ab: "Ein Lastwagen, der sich wie ein Äffchen um eine Ampel windet. Oder ein Fischerboot, das im 3. Stock ankert. Ein Haus, das Kopfstand macht. Wir haben wirklich die komischsten Sachen gesehen."
Philipp Weiss lässt die Welt zwar kopfstehen, ohne dass aber Erkenntnis daraus folgt. Zumal sich bei der Bewusstseinsmimikry im Fall von Akio in besonderer Weise die Frage nach den kulturellen Differenzen stellt. Selbst wenn sich das Kind nach seinen Eltern sehnt oder sich von einem verqueren Anblick angeblich fasziniert zeigt, fragt man sich, ob es diese Konzepte im Japanischen überhaupt gibt. Faszination und Sehnsucht, selbst wenn die japanische Kultur diese europäischen Modelle adaptiert haben sollte, dürften sie mit unseren Vorstellungen nicht einfach kompatibel sein. Gibt es da nicht eine Grenze, über die hinaus sich ein deutschsprachiger Autor nicht in das Bewusstsein eines japanischen Jungen einschreiben kann? Dieser Tausendseiter ist ein beeindruckendes Debüt. Aber es schmerzt, diesem Romanriesen zuzusehen, wie er auf einem Bein tänzelnd versucht, Balance zu halten.
CHRISTIAN METZ
Philipp Weiss: "Am Weltenrand sitzen die Menschen und
lachen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 5 Bände im Schuber, zs. 1064 S., br., 48,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Insa Wilke bedauert den dramaturgischen und gestalterischen Aufwand um den Debütroman von Philipp Weiss und die von ihr aufgewendete Lesenszeit. Die Arbeit der Buchgestalterin Pauline Altmann findet sie herausragend, den Umfang des Projekts beeindruckend und die in den insgesamt fünf Heften erzählten, teils enzyklopädisch angelegten Geschichten um Ich und Welt durchaus interessant. Nur nach einem guten Satz sucht sie auf über eintausend Seiten vergebens, stattdessen gibt es viel Geschwätzigkeit, meint sie. Ihr Verdacht: Der Autor, ein Theatermann, verwechselt Substanz mit Impulsen und Effekten. Lernen lässt sich daraus laut Wilke immerhin, was Literatur kann und braucht und was nicht. Den einen welterschließenden Satz braucht sie definitiv, findet Wilke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es ist frappierend, wie Bilder und Zeichen durcheinanderrauschen. Und es ist berauschend, welche Gedanken Philipp Weiss durch die Zeiten jagt.« Cornelia Geißler Frankfurter Rundschau 20190122