Diese von zwei Experten geschriebene reich illustrierte Naturgeschichte führt in die faszinierende Welt der Ameisen. Wir erfahren von der Artenvielfalt, von typischen Verhaltensweisen, von der effektiven Zusammenarbeit und den Verständigungsmöglichkeiten innerhalb der Kolonien und von den perfekt geplanten kämpferischen Auseinandersetzungen mit anderen Völkern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995Im Sozialstaat der Ameisen
Bert Hölldobler und Edward O. Wilson besuchen ein Tiervolk / Von Joachim Müller-Jung
Als der Mensch anfing, den aufrechten Gang zu üben, war der Sozialismus längst erfunden. Eine primitive Tiergesellschaft hatte diese Staatsform schon lange vorher zum Siegeszug über den Planeten geführt: die Ameisen. Vor zwei Millionen Jahren wurden so gut wie alle lebenswerten Flecken der Erde, jedenfalls soweit es die Temperaturen den wärmeliebenden Insektenvölkern erlaubten, von den streng organisierten Gemeinwesen der Ameisen bevölkert und bewirtschaftet.
Einen Beweis dafür lieferte ironischerweise eine Anthropologin: Mary Leakey, die gewöhnlich nach Überresten frühzeitlicher Menschen sucht, fand 1964 in Kenia eine 15 Millionen Jahre alte Versteinerung von Weberameisen. Die Tiere hatten damals offenbar schon den gleichen Organisationsgrad erreicht wie heute. Ihre Puppen waren nackt. Die Larven der Ameisen wurden also schon zu jener Zeit in sogenannte Nestpavillons eingewickelt, die die Mitglieder des Volkes in artistischer Manier und in Gemeinschaftsarbeit aus Blättern hergestellt hatten.
Viele Naturbeobachter erfaßt zu Recht eine gewisse Ehrfurcht, wenn sie die Lebensleistungen der heute etwa 9500 Arten umfassenden Tiergruppe beschreiben. Nimmt man alle Völker dieser winzigen Insekten zusammen, wiegen sie etwa soviel wie die gesamte Menschheit. Verblüffend ist weniger die pure Tatsache ihres Erfolges, denn Tiergesellschaften, die sich über Millionen von Generationen entfalten konnten, hat es in der Entwicklungsgeschichte des Lebens oft gegeben. Erstaunlich ist vielmehr die Art und Weise, wie die Ameisenvölker das soziale Prinzip zur Überlebensformel gemacht und bis in die heutige Zeit konserviert haben.
Diese Erfolgsgeschichte zu erzählen, ist wohl niemand besser geeignet als die Autoren des mittlerweile in sieben Sprachen übersetzten Buches "Ameisen", Bert Hölldobler und Edward O. Wilson. Wilson, der bekannte Evolutionsforscher von der Harvard-Universität, ist unter den Wissenschaftsautoren ein begnadeter Poet; Hölldobler ist ein kreativer Experimentator, ein Deutscher, der als Anhänger der Schule Karl von Frischs und Nachfolger von Martin Lindauer eine der weltweit wichtigsten Arbeitsgruppen zur Erforschung der Ameisen an der Universität Würzburg aufgebaut hat.
Im Jahre 1991 erhielten Wilson und Hölldobler für ihre monumentale Monographie über die Ameisen ("The Ants") in den Vereinigten Staaten den Pulitzer-Preis. Diese ungewöhnliche Auszeichnung hat die beiden Freunde, die viele Jahre in Harvard zusammengearbeitet haben, zu dem vorliegenden Band inspiriert. Mehr als in ihrem magistralen Standardwerk wenden sie sich hier an den interessierten Laien, der mit wissenschaftlichen Grafiken und einem gigantischen Literaturverzeichnis nicht viel anfangen kann. Statt dessen lassen sie ihrer Lust am Anekdotischen freien Lauf, bieten auch persönliche und autobiographische Schilderungen. Wer weiß, wie schwer es Naturwissenschaftlern zumeist fällt, beim Reden über ihr Fach die notorische akademische Nüchternheit abzulegen, der wird die literarische Leistung und Originalität der beiden um so höher einschätzen. Mancher mag sich an den plakativen und anthropomorphen Beschreibungen stören, mit denen die Autoren die frappierenden Verhaltensweisen der Ameisen zuweilen schildern. Tatsächlich aber ist es gerade diese bildhafte Sprache, die den Vergleich des "Superorganismus" Ameisenstaat mit der Menschengesellschaft so spannend macht. Über aggressive und tolerante Ameisenarten berichten die Autoren, über Schmarotzer und Strategen. Von besonders eindrucksvollen Analogien erzählen Wilson und Hölldobler schließlich in jenen Kapiteln, die sich mit der Kommunikation im Ameisenvolk befassen. Die Krabbeltiere behelfen sich zur Realisierung ihrer überraschend vielsilbigen "Sprache" zwar anderer Mittel, vor allem chemischer Substanzen, Geräusche und Berührungen. Entscheidend ist aber, daß sich der Erfolg eines Ameisenvolkes an diesen Kommunikationsfähigkeiten messen läßt. Information ist auch im Sozialstaat der Ameisen fast alles.
Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: "Ameisen". Aus dem Amerikanischen von Susanne Böll. Birkhäuser Verlag, Basel 1995. 288 S., 35 Farb-, 34 Strich- und 48 S/W-Abb., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bert Hölldobler und Edward O. Wilson besuchen ein Tiervolk / Von Joachim Müller-Jung
Als der Mensch anfing, den aufrechten Gang zu üben, war der Sozialismus längst erfunden. Eine primitive Tiergesellschaft hatte diese Staatsform schon lange vorher zum Siegeszug über den Planeten geführt: die Ameisen. Vor zwei Millionen Jahren wurden so gut wie alle lebenswerten Flecken der Erde, jedenfalls soweit es die Temperaturen den wärmeliebenden Insektenvölkern erlaubten, von den streng organisierten Gemeinwesen der Ameisen bevölkert und bewirtschaftet.
Einen Beweis dafür lieferte ironischerweise eine Anthropologin: Mary Leakey, die gewöhnlich nach Überresten frühzeitlicher Menschen sucht, fand 1964 in Kenia eine 15 Millionen Jahre alte Versteinerung von Weberameisen. Die Tiere hatten damals offenbar schon den gleichen Organisationsgrad erreicht wie heute. Ihre Puppen waren nackt. Die Larven der Ameisen wurden also schon zu jener Zeit in sogenannte Nestpavillons eingewickelt, die die Mitglieder des Volkes in artistischer Manier und in Gemeinschaftsarbeit aus Blättern hergestellt hatten.
Viele Naturbeobachter erfaßt zu Recht eine gewisse Ehrfurcht, wenn sie die Lebensleistungen der heute etwa 9500 Arten umfassenden Tiergruppe beschreiben. Nimmt man alle Völker dieser winzigen Insekten zusammen, wiegen sie etwa soviel wie die gesamte Menschheit. Verblüffend ist weniger die pure Tatsache ihres Erfolges, denn Tiergesellschaften, die sich über Millionen von Generationen entfalten konnten, hat es in der Entwicklungsgeschichte des Lebens oft gegeben. Erstaunlich ist vielmehr die Art und Weise, wie die Ameisenvölker das soziale Prinzip zur Überlebensformel gemacht und bis in die heutige Zeit konserviert haben.
Diese Erfolgsgeschichte zu erzählen, ist wohl niemand besser geeignet als die Autoren des mittlerweile in sieben Sprachen übersetzten Buches "Ameisen", Bert Hölldobler und Edward O. Wilson. Wilson, der bekannte Evolutionsforscher von der Harvard-Universität, ist unter den Wissenschaftsautoren ein begnadeter Poet; Hölldobler ist ein kreativer Experimentator, ein Deutscher, der als Anhänger der Schule Karl von Frischs und Nachfolger von Martin Lindauer eine der weltweit wichtigsten Arbeitsgruppen zur Erforschung der Ameisen an der Universität Würzburg aufgebaut hat.
Im Jahre 1991 erhielten Wilson und Hölldobler für ihre monumentale Monographie über die Ameisen ("The Ants") in den Vereinigten Staaten den Pulitzer-Preis. Diese ungewöhnliche Auszeichnung hat die beiden Freunde, die viele Jahre in Harvard zusammengearbeitet haben, zu dem vorliegenden Band inspiriert. Mehr als in ihrem magistralen Standardwerk wenden sie sich hier an den interessierten Laien, der mit wissenschaftlichen Grafiken und einem gigantischen Literaturverzeichnis nicht viel anfangen kann. Statt dessen lassen sie ihrer Lust am Anekdotischen freien Lauf, bieten auch persönliche und autobiographische Schilderungen. Wer weiß, wie schwer es Naturwissenschaftlern zumeist fällt, beim Reden über ihr Fach die notorische akademische Nüchternheit abzulegen, der wird die literarische Leistung und Originalität der beiden um so höher einschätzen. Mancher mag sich an den plakativen und anthropomorphen Beschreibungen stören, mit denen die Autoren die frappierenden Verhaltensweisen der Ameisen zuweilen schildern. Tatsächlich aber ist es gerade diese bildhafte Sprache, die den Vergleich des "Superorganismus" Ameisenstaat mit der Menschengesellschaft so spannend macht. Über aggressive und tolerante Ameisenarten berichten die Autoren, über Schmarotzer und Strategen. Von besonders eindrucksvollen Analogien erzählen Wilson und Hölldobler schließlich in jenen Kapiteln, die sich mit der Kommunikation im Ameisenvolk befassen. Die Krabbeltiere behelfen sich zur Realisierung ihrer überraschend vielsilbigen "Sprache" zwar anderer Mittel, vor allem chemischer Substanzen, Geräusche und Berührungen. Entscheidend ist aber, daß sich der Erfolg eines Ameisenvolkes an diesen Kommunikationsfähigkeiten messen läßt. Information ist auch im Sozialstaat der Ameisen fast alles.
Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: "Ameisen". Aus dem Amerikanischen von Susanne Böll. Birkhäuser Verlag, Basel 1995. 288 S., 35 Farb-, 34 Strich- und 48 S/W-Abb., geb., 58,- DM.
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